Der Vogel
Die Menschen waren blind, taub und hatten ihren Instinkt mit den Dekaden verloren. Ihre Existenz war nur noch ein Schein. Angst bestimmte ihr Handeln, aber es war keine instinktive Angst, sondern Angst vor dem eigenen, sinnlos gewordenen Sein.
Das spürte der Vogel. Nacht für Nacht kreiste er über ihnen und stillte seinen Hunger. Er war schwarz und grösser als jede Vorstellung. Die Nacht strich durch sein majestetisches Federkleid und trug ihn sanft von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. Die Finsternis umschlang ihn wie eine Mutter, er war eins mit ihr.
Einzig seine rot-glühenden Augen stachen durch die Nacht, ihnen entging keine Regung der Menschen. Er suchte nach Nahrung, getrieben vom Hunger nach Leid, Tod und Kummer. Und er wurde Nacht für Nacht fündig. Und Nacht für Nacht wurde er grösser und stärker.
Sein Instinkt kannte keine Gefühle, kein Mitleid. Immerwieder stach er durch die Wolken, seine Krallen weit aufgerissen. Da die Menschen ihren Instinkt verloren hatten, hörten sie ihn erst, als es zu spät war. Er lachte über ihre nutzlosen Versuche, sich zu wehren und sich aus seiner tödlichen Umklammerung zu befreien. Er schwang sich mit seinem mächtigen Flügelschlag in die Höhe und trug die verlorenen Menschen mit sich. Hoch über der Erde, in den Krallen des Vogels gefangen, wurden sie sich ihrer selbst bewusst. Sie sahen von oben auf ihr Leben herab und ihnen wurde klar, das es kein anderes Ende hätte geben können. Sie bedauerten alles, aber es war zu spät. Ihre letzten Gedanken an Gott und seine Hilfe entlockten dem Vogel nur ein verächtliches Krächzen. Ihn hatte er als erstes geholt.
Die Menschen auf der Erde hörten das Krächzen und damit das nahende Ende.
Zu lange hatten sie sich über Alles gestellt, hatten den Thron erklommen und sich gegenseitig wieder von diesem heruntergestossen. Sie waren fett und bequem geworden, waren reich und satt vom Leben. Sie hatten sich lange von der Erde genährt und waren mit der Zeit immer massloser geworden; sie liessen für niemanden etwas über. Auch der Vogel wäre fast verhungert, wie Millionen anderer. Aber als es fast zu spät war, schwang er sich ein letztes Mal auf und frass in der Not etwas Leid und Kummer. Und jetzt war er stark und mächtig. Er fand mit der Zeit an weiteren Dingen Geschmack. Und so frass er Nacht für Nacht, bis er satt war.
Als die Zahl der Menschen immer kleiner wurde, kauerten sie sich zusammen und flehten zu Gott, der lange tot war. Der Vogel flog über ihnen und kreischte triumphierend. Seine rot-glühenden Augen durchdrangen jedes menschliche Obdach. In seinem Nest stapelten sich die Gebeine, die weiss im Mondlicht glühten und von vergangenen Zeiten zeugten.
Die Menschen wollten sich wehren, aber ihre Waffen waren vollkommen nutzlos. Sie gaben dem Vogel nur noch mehr Kraft.
Und als der Vogel alle Menschen gefressen hatte und sein Hunger gestillt war, hörte man seinen Schrei über die Ozeane und die Wüsten hinweg. Es war still auf der Erde geworden, der Wind und das Wasser hatten wieder eine Stimme. Nach und nach verblasste die Erinnerung an die Menschen, der Vogel saß auf ihren traurigen Hinterlassenschaften, die grau geworden waren. Die Finsternis umgab sein schwarzes Gefieder, einzig seine rot-glühenden Augen drangen durch die Nacht.