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Der Vizekommandant
Der Vizekommandant
Teil 1 - Der Anfang vom Ende
Marell blinzelte zur Uhr.
Wenn sie sich jetzt nicht auf den Weg machte, dann würde sie zu spät kommen.
"Ich verstehe nicht, weshalb du ihr diese Nachricht nicht überbringen willst!", sagte ihr Sohn aufgebracht.
Marell seufzte. Diese jungen Leute ... Nicht, dass sie sich über ihren Sohn beschweren wollte. Doch seitdem er sich, wie so viele in seinem Alter, im Widerstand engagierte, hatte er sich verändert. Er versteckte seinen weichen Kern unter einer harten Schale. Erneut schielte Marell verstohlen zur Uhr. Die Bu'djas sahen es nicht gerne, wenn ihre Hilfskräfte den Torschluss der Festung versäumten.
"Ich tu's", stimmte sie widerstrebend zu. Es gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht, aber sie sah keine andere Möglichkeit, als einzulenken. Glücklicherweise war ihr Sohn damit zufrieden. Er verzichtete darauf, ihr ein paar der aufwieglerischen Parolen des Widerstands mit auf den Weg zu geben.
Der Gang durch die Straßen war lang und sie war nicht mehr die Jüngste. Ihre Beine und Füße schmerzten, als sie die Festungswache passierte. Hinter ihr schlossen sich die großen, eisernen Torflügel. Sie ignorierte den bösen Blick des wartenden Kolonnenführers. Er würde es nicht wagen, sich mit dem Vizekommandanten anzulegen, dessen besonderen Schutz sie genoss. Sie stellte ihre gewohnte Ausrüstung zusammen. Der Vizekommandant und seine Frau Laré würden über die geringe Verspätung hinwegsehen. Mylady war hier geboren und Mylord war, obwohl ein Bu'dja, ein sehr netter Mann.
Sie öffnete die Tür zu den Privaträumen. Das Licht war, bis auf eine schwach leuchtende Stehlampe im großzügig ausgestalteten Wohnbereich, gelöscht. Marells Blick fiel auf die Rückenlehne der Couch, über der Kopf und Oberkörper des Vizekommandanten hervorragten.
"Hallo Marell", begrüßte er sie mit einem freundlichen Nicken.
Eine weibliche Hand hob sich über den Rand der Lehne und winkte ihr.
"Hallo Marell", echote eine fröhliche Frauenstimme. Die Hand legte sich um den Nacken des Mannes und zog seinen Kopf hinunter. Marell lächelte. Sie mochte die beiden. Sie waren ein schönes, junges Paar. Wenn doch nur alle, wie diese Zwei, in Frieden und Liebe miteinander leben könnten. Auch ihr Sohn würde es eines Tages verstehen.
Leise trat sie in die Küche. Aufseufzend registrierte sie die Sauberkeit und das wenige schmutzige Geschirr. Sie hatte Mylady und Mylord schon so oft gebeten, nicht aufzuräumen oder gar abzuwaschen. Trotzdem taten sie es. Marell setzte sich an den Tisch. Für einen Moment wollte sie sich ausruhen, bevor sie sich an ihre Arbeit machte.
Das Deckenlicht im Wohnbereich flammte auf. Marell hörte das Paar reden und lachen. Dann kam Mylady zu ihr. Marell sah die deutliche Wölbung des Bauches. Einige hatten bezweifelt, dass die beiden Spezies sich miteinander fortpflanzen konnten, und sie hatten anders lautende Behauptungen in das Reich der Gerüchte verwiesen. Was nicht sein durfte, das konnte nicht sein. Mylady bewies das Gegenteil.
"Hallo Marell", wiederholte Laré. Sie nahm zwei Kelchgläser aus dem Schrank und eine Flasche Gärwein aus dem Ständer.
"Ich habe eine Nachricht für Sie, Mylady." Marell war entschlossen, die ungewollte Zusage schnell zu erfüllen. "Von meinem Sohn", fügte sie hinzu.
"Ihrem Sohn?", fragte die junge Frau erstaunt.
Marell nickte. "Es ist nur eine kurze Botschaft und ich weiß nicht, was sie bedeutet."
Laré nahm, neugierig geworden, auf dem Stuhl neben der alten Frau Platz.
"Ja?"
"Es sind nur drei Zahlen", sagte Marell, "17 - 0 - 4."
Larés Gesicht veränderte sich. Eben war es noch vom Glück gerötet und voller Freude gewesen. Jetzt zog ein Zug des Entsetzens darüber, der sich zu einer bleichen, entschlossenen Maske wandelte. Für Sekunden saß sie regungslos. Sie erhob sich. An die Gläser und die Flasche dachte sie nicht mehr.
Sie querte den Flur und betrat einen Nebenraum. Der kleine Wandschrank war mit einem Zahlenschloss gesichert. Laré kannte die richtige Kombination schon lange. Auf der untersten Borte lag die Waffe des Vizekommandanten. Laré prüfte sie kurz, gründlich und geübt. Auf ihrem Weg zurück ins Wohnzimmer blieb sie vor dem großen Wandspiegel stehen.
In meinen Augen, dachte sie verzweifelt, was ist das da in meinen Augen?
Sie blinzelte die Tränen hinfort. Seit zwei Jahren hatte sie diesen Tag herbeigesehnt, den Tag, der sie für alles entschädigen würde, was sie durchgemacht hatte.
Mit der entsicherten Waffe in der Hand ging zu ihrem nichts ahnend wartenden Opfer.
Teil II - Die Gesichter eines Ungeheuers
1 - Zwei Jahre früher
Laré las die Einladung ein weiteres Mal. Auf unbestimmte Dauer ...
Zorn ergriff sie. Was dachte sich dieser Bu'dja? Sie war eine frei geborene Bürgerin dieser Welt, keine Sklavin, die den Befehlen der selbsternannten Herren widerspruchslos gehorchen musste!
"Ich verstehe dich", sagte Marg'n geduldig. "Aber du hast nur zwei Möglichkeiten. Entweder du flüchtest und bist ab sofort vogelfrei. Oder du nimmst die Einladung an - mit ihren Konsequenzen."
Das Gerücht, dass die höheren Ränge unter den Besatzern sich zu ihrem Vergnügen Frauen in die Festung bestellten, war alt. Laré selbst kannte keine Betroffene, jedoch hielt sie die umgehenden Berichte für glaubwürdig. Diese Verhaltensweise entsprach dem animalischen, unzivilisierten Charakter der anderen. Jetzt würde sie feststellen können, was an den Gerüchten dran war. Dabei kannte sie den Vizekommandanten nicht einmal. Außerdem gab es schönere Frauen als sie, Frauen aus gutem Hause. Wie kam dieser verdammte Bu'dja ausgerechnet auf sie, einer unscheinbaren, unbedeutenden Sprachlehrerin?
Laré gab sich keinerlei Selbsttäuschung hin. Sie war in ihrem Aussehen und in ihrer Herkunft nicht mehr als Durchschnitt. Sie war alles andere als eine gute Partie. Sie warf Marg'n einen kurzen Seitenblick zu. Er gehörte einer der fünf vornehmsten Familien an und hatte gute Aussichten, eines Tages in die Führung aufzusteigen, vielleicht sogar bis an die Spitze. Dazu war sein Profil klassisch geschnitten und zeugte von Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen. Laré seufzte lautlos. Er hatte die freie Wahl. Niemals würde er eine ernsthafte Beziehung mit ihr auch nur in Erwägung ziehen.
Sie zerknüllte das Blatt.
"Der Widerstand", bemerkte Marg'n, "könnte eine verlässliche Quelle, die mit den Spitzen des Feindes verkehrt, gut gebrauchen. - Aber letzten Endes ist es deine Entscheidung."
"Ich werde hingehen", stieß Laré hervor. "Und wenn er mich anrührt, bringe ich ihn um! Er wird lernen, dass wir nicht nur bloßes Futter für ihre Triebe sind, sondern dass wir uns auch wehren können."
2
"Sprachunterricht!", sagte Laré. Ihr immer noch andauernder Unglaube schwang deutlich in ihrem Tonfall mit. "Er will nur, dass ich ihm unsere Sprache beibringe!"
Sie war sich nicht sicher, was sie mehr beschäftigte: die Erleichterung oder die Anmaßung. Als ob jemals ein Bu'dja in der Lage gewesen wäre oder jemals sein würde, die Feinheiten, die Melodie ihrer Muttersprache zu lernen oder gar zu begreifen.
Aber auch dies war ein Zeichen der für die Besatzer typischen Arroganz.
"Damit unterscheidet er sich von den anderen", stellte Marg'n fest.
"Er bleibt trotzdem ein Stinker, ein Bu'dja!", schnappte Laré. "Er ist genauso eine widerliche Ratte wie die anderen."
"Er hat dich angefasst?"
Sie zuckte zurück. "Nein! Aber alle Bu'djas sind Ratten. Früher oder später kriechen sie aus ihren Ecken hervor und beißen. Das ist ihre Natur."
"Du wirst ihn unterrichten?", vergewisserte sich Marg'n.
Laré verzog ihr Gesicht. "Was soll ich sonst machen? Ich habe keine Wahl." Sie äffte die Stimme des Vizekommandanten nach: "Ich hoffe, es ist Ihnen nicht zuviel, wenn wir uns jeden zweiten Tag treffen? Natürlich können wir jederzeit den Unterricht ausfallen lassen, wenn Sie anderweitig beschäftigt sind. - Und wenn ich nicht komme, steht am nächsten Morgen die Geheimpolizei vor meiner Tür."
Der Gedanke erfüllte sie mit Angst. Über die Männer in Schwarz und die versteckten Kellergeschosse in der Festung wurde viel gemunkelt.
"Könnte sein", bestätigte Marg'n. Nach einer Pause fragte er: "Wie viele Wachen hast du gesehen?"
3
"Er stammt aus einer bedeutungslosen Familie und hat sich hoch gedienert. Er ist nicht einmal ein Soldat." Larés Stimme troff vor Verachtung. "Er ist Zivilist und den Rang des Vizekommandanten hat man ihm nur pro Forma verliehen."
"Worin bestehen seine Aufgaben?", fragte Marg'n.
"Er führt die Befehle der Kommandanten aus, derjenigen, die das wirkliche Sagen haben. Er organisiert Transporte und so."
"Und so? Etwas genauer bitte."
Laré war irritiert. "Er ist ein Bürohengst. Ohne Einfluss. Er erhält Befehle und führt sie aus. Mehr nicht."
Marg'n unterdrückte ein Seufzen. "Es muss einen Grund haben, weshalb ein so junger Mann eine derartig hohe Position innehat. Er gehört von seinem Rang her zu den fünf mächtigsten Personen innerhalb der Besatzungsarmee. Wenn du Recht hast und er in Wirklichkeit nichts zu sagen hat, muss auch dies einen Grund haben. Welchen?"
"Ich weiß es nicht", gab sie zu.
Marg'n sah ihr in die Augen. "Du magst die Bu'djas nicht. Niemand von uns tut das. Aber wir sollten auch nicht den Fehler machen, sie zu unterschätzen. Immerhin haben sie die Macht und nicht wir."
"Noch!", fuhr Laré auf.
"Richtig. Noch", bestätigte Marg'n. "Aber du weißt, welche Folgen unser letzter Versuch hatte."
Laré war damals noch ein Kind gewesen, doch sie erinnerte sich gut. Obwohl ihre Eltern es ihr verboten hatten, war sie hinausgegangen. Voller Stolz war sie in der Front der Widerständler marschiert. Sie hatte dazugehört. Die Bu'djas waren überrascht gewesen. Sie hatten sich ängstlich in ihren Löchern verkrochen. Ihre Polizei war überfordert gewesen. Aber dann ... sie hatten Verstärkung angefordert, schwer bewaffnete Soldaten, die den Aufstand innerhalb von wenigen Stunden niederwarfen. Die Kameraden an Larés Seite waren bewusstlos auf den kalten Stein der Straße gefallen, sie waren wie Stückgut eingesammelt und auf Transporter geladen worden. Und sie, das kleine weinende Mädchen, hatten die Soldaten einfach nach Hause geschickt. Seitdem herrschten die Besatzer und die Kommandanten standen an ihrer Spitze.
Eindringlich sagte Marg'n: "Du musst herausfinden, was der Vizekommandant tut und wie er es tut."
4
"Ich gebe zu, ich hatte mir mehr erhofft", bemerkte Marg'n. "Seit Wochen gehst du in der Festung ein und aus. Aber neue Informationen haben wir noch nicht erhalten."
"Was erwartest du?", erwiderte Laré. "Eine Eskorte begleitet mich von der Wache bis zum vierten Stock des Westflügels und holt mich dort nach zwei Stunden wieder ab. Ich habe keine Gelegenheit, mich umzusehen." Sie zögerte kurz. "Da ist diese Frau. Marell. Sie kann sich frei bewegen. Wir sollten sie anwerben."
"Haben wir schon versucht", nickte Marg'n. "Sie will nicht."
"Aber sie ist eine von uns!", entfuhr es Laré ungläubig.
"Marell hatte nichts", erklärte Marg'n. "Jetzt hat sie Arbeit und ein Auskommen, das ihr ein halbwegs angenehmes Leben beschert." Voller Verachtung ergänzte er: "Sie hat Angst, es wieder zu verlieren."
Laré verzog angewidert das Gesicht. "Sie ist eine Kollaborateurin! Niemals werde ich so tief sinken!"
Die Besatzer versuchten immer wieder, Mitglieder aus Larés Volk in der Verwaltung einzusetzen. Erfolglos, denn eine Regel des Widerstandes besagte, dass alle, die sich mit dem Feind verbündeten, sterben mussten. Laré stand hinter dieser Einstellung. Die Mängel in der Verwaltung konnten so den Besatzern vollständig und zu Recht angelastet werden. Sie schürten die Ablehnung in den unteren Bevölkerungsschichten, die die Zusammenhänge nicht so deutlich überblickten wie sie oder Marg'n. Anderseits gab es nicht genug Arbeit für alle, so dass der Widerstand tolerieren musste, dass einige als Hilfskräfte für die Bu'djas arbeiteten.
Marg'n schwieg einen Moment. "Du musst den Vizekommandanten zum Reden bringen. Du musst sein Vertrauen erringen."
"Und wie soll ich das machen?"
"Sei freundlich zu ihm. Sage ihm, wie sehr du ihn bewunderst. - Muss ich dir wirklich erklären, wie eine Frau einen Mann einwickelt?"
Laré sah ihn entsetzt an. "Ich soll einem Bu'dja um das Maul gehen?"
5
"Es ist eine Tortur", sagte Laré. "Sicher, er lernt die Worte, doch er setzt sie falsch zusammen und seine Betonungen verändern den Sinn. Selbst meine dümmsten Schüler lernen besser und schneller als er." Sie schnaubte. "Er ist und bleibt ein Barbar ohne Verständnis für wahre Kultur."
Sie schüttelte sich. "Und er stinkt. Die ganze Wohnung stinkt. Ich kann kaum atmen, wenn er neben mir steht. Er ist eben ein Bu'dja, ein Stinker."
Marg'n legte mitfühlend seinen Arm um ihre Schultern. Laré lehnte sich an ihn und schnüffelte versteckt. Nein, Marg'n stank nicht. Er roch nach einem teuren Duftwasser. Es musste sehr schwer für ihn gewesen sein, daran heranzukommen. Denn natürlich lag auch der Außenhandel fest in den Händen der Besatzer.
6
Laré versuchte vergeblich, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken.
"Ich habe ihn geschlagen", stieß sie hervor, kaum dass die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte.
Marg'n führte sie zur Couch. "Was ist passiert?"
"Er hat mich ... geküsst. Da habe ich ihn geschlagen." Sie starrte ins Leere. "Geohrfeigt." Sie hob die Hand und schlug langsam ein unsichtbares Gesicht. "Ich habe ihn beschimpft. Ich habe ihm gesagt, dass er ein Stinker ist."
Es war eine instinktive Reaktion gewesen. Sie hatte sie anschließend sofort bereut und sich selbst einen Dummkopf genannt. Schließlich hatte sie von Anfang an damit gerechnet.
"Das ist nicht sehr gut", stellte Marg'n ruhig fest.
"Ich muss mich verstecken", brach es aus ihr heraus. "Du musst mich verstecken. Der Widerstand muss mich verstecken und mich beschützen."
Marg'n drückte sie an sich und streichelte ihr Haar. Nach einer Weile meinte er: "Das ist sinnlos. Sie haben ihre Spitzel überall. Glaubst du, dass dein Vizekommandant dir etwas antun würde?"
"Er ist nicht mein Vizekommandant", antwortete Laré automatisch. Marg'ns Frage machte sie nachdenklich. "Ich weiß nicht ... Er ist ein Bu'dja, aber er ist schwach. Er hat sich tatsächlich bei mir entschuldigt."
7
"Eine erneute Einladung?", fragte Marg'n.
Laré nickte. "Ja. Er will den Unterricht wieder aufnehmen."
In den letzten Tagen war sie voller Unruhe gewesen. Die Frage, was der Vizekommandant unternehmen würde, war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Als sie an diesem Morgen die Nachricht empfangen hatte, war sie erleichtert gewesen. Sie würde ihn unterrichten und es würde so sein wie zuvor.
Marg'n biss sich auf die Unterlippe. "Wie viele Abende sind ausgefallen - seit jenem Tag?"
"Sieben", antworte Laré sofort.
Er reichte ihr einen Zettel. "Sieben Abende zu zwei Stunden macht 14."
Laré las die Auflistung. Es waren Namen und Zeiten. Marg'n beobachtete sie aufmerksam.
"Ich kenne keinen von denen", sagte sie schließlich.
"Diese 14 Personen sind in den letzten Tagen von der Geheimpolizei abgeholt worden und sind seitdem verschwunden. Die Befehle waren von deinem Vizekommandanten unterschrieben. 14 Stunden - 14 Verschwundene."
Laré starrte ihn an. "Du meinst ..."
Marg'n nickte. "Ich glaube, dass der Vizekommandant einen Narren an dir gefressen hat. Anstatt dich direkt zu bestrafen, hat er wahllos irgendwelche aus der Masse genommen. Es ist auch ein Zeichen: solltest du dich weiterhin weigern, seinen Wünschen nachzukommen ..."
Laré zerknüllte den Zettel. "Ich bringe ihn um", sagte sie tonlos. "Eines Tages werde ich ihn töten."
Marg'n zögerte einen Moment. Dann sagte er: "Darüber wollte ich mich sowieso mit dir unterhalten."
8
Laré hing ihren Gedanken nach, während sie auf Marg'n wartete. Dieser Abend war seltsam gewesen, sehr seltsam.
Zum einen war das nur natürlich nach dem Streit, nachdem der Vizekommandant versucht hatte, sie zu küssen und sie ihm unbedacht und deutlich zu verstehen gegeben hatte, was sie von ihm und seinen Avancen hielt. Erneut hatte er sich entschuldigt.
Zum anderen konnte sie sich nicht vorstellen, dass sein eigentlich doch recht freundliches Gesicht eine Maske war, hinter der sich die Fratze eines Ungeheuers verbarg, das 14 Personen einfach so verschwinden ließ. Mehr als einmal hatte sie ihn von der Seite angestarrt. Es fiel ihr schwer, das Unglaubliche zu akzeptieren.
Zwei Stunden lang hatten sie nebeneinander gesessen, konzentriert gelernt und ihr Gespräch auf das Wesentliche beschränkt. Laré war sich seiner direkten körperlichen Gegenwart allzu bewusst gewesen. Sie hatte die Anspannung zwischen ihnen fast greifen können. Ihre Unsicherheit war dabei ständig gewachsen. Irgendetwas hatte nicht gestimmt, irgendetwas war anders gewesen. Schließlich hatte sie es herausgefunden. Er stank nicht mehr. Als ihr diese Erkenntnis gekommen war, hatte sie automatisch zu schnüffeln begonnen. Erst sein seltsames Lächeln hatte ihr in Erinnerung gebracht, dass sie nicht alleine gewesen war. Die Röte der Verlegenheit war ihr ins Gesicht geschossen. Dann hatte sie tatsächlich den Mut aufgebracht, ihn zu fragen, - und es war nur noch schlimmer geworden.
Die Festung war alt. In ihren Röhrensystemen hatte sich eine Kolonie Ungeziefer eingenistet: Bu'djas, kleine, rattenähnliche Nager. Ihr durchdringender Geruch hatte sich durch die Röhren im ganzen Haus verbreitet. Vor wenigen Tagen konnte das Nest endlich gefunden und zerstört werden.
Diesmal war es die Röte der Scham gewesen, die Larés Gesicht überzogen hatte.
9
"Im vierten Stock des Westflügels sind seine Wohnräume", erklärte Laré aufgeregt, "Im dritten Stock befinden sich die Büroräume. Er war dort noch beschäftigt, deshalb hat mich die Eskorte dorthin gebracht."
"Der Vizekommandant vertraut dir allmählich?", fragte Marg'n. Er setzte sich schräg und streichelte ihre Wange. Sie stand auf. Unruhig querte sie den kleinen Raum.
"Ja, ich glaub' schon. - Aber das ist nicht das Wichtige. Ich habe in seinem Büro Papiere gesehen und ich konnte sie lesen." Sie blieb stehen und sah Marg'n mit großen Augen an. "Morgen findet ein Medikamententransport statt."
Medikamente, medizinische Geräte: der Widerstand litt an einem ständigen Mangel. Die Untergrundkrankenhäuser waren sehr schlecht ausgerüstet. Natürlich wurden die Bu'djas nicht müde, zu betonen, dass die öffentlichen Krankenhäuser für alle zugänglich waren. Kein Mitglied des Widerstandes glaubte den Versicherungen, wäre geschweige denn so lebensmüde gewesen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
"Das ist nichts Ungewöhnliches", meinte Marg'n.
"Ja - aber dieser wird unbewacht sein. Nur der Fahrer."
"Das ist interessant", bestätigte er. "Erzähl weiter."
10
Marg'n zog sie durch die Tür und bedeutete ihr, zu schweigen. Mit einem kleinen Gerät tastete er ihre Kleidung ab. Am Kragen ihres Mantels stoppte er. Er nahm eine Zange und zerquetschte irgendetwas.
"Eine Wanze", erläuterte er und zeigt Laré ein kleines, zerkratztes Blechhäufchen.
"Woher wusstest du ...?", fragte Laré mit offenem Mund.
Er lächelte. "In der unteren Eingangstür befindet sich ein Detektor. Er hat mich gewarnt."
Laré starrte auf den Boden. Die Bedeutung der Wanze wurde ihr langsam klar. "Dann weiß er, dass ich für den Widerstand arbeite."
"Das weiß er schon lange." Er bemerkte ihr ungläubiges Gesicht. "Seit dem ersten Tag wirst du vom Geheimdienst beschattet. Sie wissen genau, dass du nach dem Unterricht Kontakt mit mir, einem Widerstandskämpfer, aufnimmst."
"Nein!" Ihr war nie etwas aufgefallen.
"Doch!" Diesmal lachte Marg'n laut. "Du unterschätzt sie immer noch. Sie sind weder dumm noch unfähig. Ein bekannter Feind ist immer besser als ein unbekannter."
"Er hat sich nie was anmerken lassen", murmelte sie. Dann wurde sie wütend. "Er hat mich benutzt! Er wusste, dass ich für den Widerstand arbeite! Er wusste, dass ich nachgeben würde, wenn er ..."
"Wenn er was?"
"Nichts." Sie errötete. Sollte sie Marg'n erzählen, dass der Unterricht seit kurzem nicht mehr nur aus den Sprachlektionen bestand? Sie spürte den Zorn in sich. Nächstes Mal, nahm sie sich vor, würde sie weiter gehen. Nächstes Mal würde sie ihn benutzten. Er würde sich wundern.
11
"Wenn es für dich zuviel wird, können wir vielleicht eine erfahrenere Agentin einschleusen. Du könntest den Vizekommandanten davon überzeugen, dass eine andere Lehrerin besser wäre."
Laré schwieg einen Moment. "Das wird nicht gehen", sagte sie leise. "Nicht, dass ich nicht wollte, aber ... Er wird es nicht zulassen", fügte sie noch leiser hinzu.
Marg'n bemerkte ihr Unbehagen. Fragend sah er sie an.
Laré wand sich etwas, bevor sie bekannte: "Es ist nicht nur der Unterricht ... nicht mehr ... seit einigen Wochen schlafen wir miteinander."
Marg'n zog überrascht die Augenbrauen hoch. "Davon hast du bisher nichts erzählt."
"Weil ich mich schäme! Verstehst du nicht? Ich muss mich von ihm betatschen lassen, ich kann nichts dagegen tun, dass er mich ... vergewaltigt. Ich muss sogar so tun, als ob es mir gefällt ... Es ist so ... erniedrigend."
Sie erinnerte sich. Der Vizekommandant war auch im sexuellen Bereich ein Barbar und ohne jeden Sinn für Gefühl und Rhythmus. Tatsächlich hatte sie ihn auch hier unterrichten müssen. Aber - sie warf einen schnellen Seitenblick auf Marg'n, bevor sie sich ein kleines Lächeln gestattete - er hatte sich als ein besserer Schüler als im Sprachunterricht erwiesen.
12
"Und?", fragte Laré mit leuchtenden Augen. "Was hältst du davon?"
Marg'n verstand sie nicht. "Was meinst du?"
"Das Kulturzentrum im Süden sollte aufgelöst werden. Ich habe es verhindert!"
"Die Gebäude waren bereits für die Umbauten vorbereitet worden. Heute kam ziemlich unerwartet die Ankündigung, dass die Planung umgestoßen wurde. Aber was hast du damit zu tun?"
"Ich habe dafür gesorgt", erklärte Laré mit einem Hauch von selbstbewusstem Stolz in der Stimme. "Der Vizekommandant war für die Planung verantwortlich. Ich habe ihn davon überzeugt, dass das Zentrum nicht der richtige Ort für die Wohneinheiten ist."
"Gut gemacht", lobte Marg'n. Sein Gesicht war eine steinerne Maske.
"Er ist Wachs in meinen Händen", lächelte Laré zufrieden.
"Du solltest Aktionen dieser Art in Zukunft mit mir absprechen", sagte der Mann schließlich langsam. "Eigentlich war es von uns so geplant. Wir haben den Bu'djas entsprechende Falschmeldungen zukommen lassen. Der Umbau des Kulturzentrums in Wohnungen für die Soldaten hätte für Unruhe gesorgt. Es hätte den Widerstand gestärkt."
13
"Wieso hast du nichts davon gesagt, dass ihr euch jetzt auch tagsüber trefft?", fragte Marg'n ungehalten.
"Tut mir leid", sagte Laré leichthin. "Es ist nur, weil er erst vor ein paar Monaten hierher gezogen ist und seine Wohnung noch ziemlich leer ist. Wir haben hauptsächlich Möbel eingekauft."
Es hatte Laré eine diebische Freude bereitet, das gewiss nicht niedrige Kreditlimit des Vizekommandanten auszureizen. Er hatte sie gewähren lassen.
"Außerdem kommst du nicht mehr regelmäßig zur Besprechung", warf Marg'n ihr vor.
Laré blickte schuldbewusst. "Tut mir leid", wiederholte sie. "Aber es passierte eben nichts."
Der Vizekommandant konnte, wenn er wollte, ein angenehmer Gesellschafter sein. Es hatte Spaß gemacht, mit ihm zusammen durch die Geschäfte zu ziehen, sich alles anzugucken und auszuprobieren. Sie hatten auf der Promenade gesessen, getrunken, geredet, gelacht und Laré hatte es mehr als einmal bedauert, dass der gut aussehende Mann an ihrer Seite ein Feind war.
14
"Das ist eine allgemeine ID-Karte der Verwaltung", stellte Marg'n überrascht fest. Er gab Laré das Plastikstück zurück.
"Ja. Er hat sie mir heute gegeben."
"Damit bist du in deiner Bewegungsfreiheit den Bu'djas gleichgestellt."
"Ja", wiederholte sie nur. Die ID-Karten mit Angaben über den Namen und den Wohnort gehörten zu den Schikanen, die sie sich die Besatzer ausgedacht hatten. Der Widerstand lehnte sie ab.
"Stellt sich die Frage, wie kommt der Vizekommandant dazu, dir ein solches Dokument ausstellen zu lassen", sagte Marg'n langsam.
"Weil ich bei ihm einziehen werde." Laré bemühte sich, ihre Stimme neutral zu halten.
"Du wirst was?" Marg'n versuchte nicht einmal, sein Erstaunen zu verbergen.
"Er hat mich heute gefragt", erwiderte sie. "Ich habe ihm noch nicht zugesagt."
"Seit einem Jahr triffst du ihn regelmäßig. Kann es sein, dass er für dich nicht mehr nur ein Bu'dja ist?"
Laré fuhr auf. "Ich tu dies alles nur für den Widerstand! Du warst es doch, der wollte, dass ich die Stellung annehme! Und habe ich euch nicht immer wieder Informationen geliefert? Kann ich etwas dafür, dass er nur der Vizekommandant ist und die wirklich wichtigen Sachen von anderen entschieden werden? Ich würde viel lieber wieder mein altes Leben führen! Ich kann auf ihn verzichten. Sofort." Sie schnippte mit den Fingern. "Wenn ihr glaubt, ihr braucht mich nicht mehr, umso besser! Ich würde ihm lieber heute als morgen den Laufpass geben. Ich glaube, du weißt nicht einmal, welche Überwindung es mich jedes Mal kostet, bei ihm zu sein. Ich habe die Lügen satt. Aber ich halte durch. Für den Widerstand. Für mein Volk. Aber wenn ihr nicht wollt ..."
"Nein, nein", sagte Marg'n schnell, geradezu überfahren von ihrem Ausbruch. "Wenn du meinst, dass es das Richtige ist, dann zieh bei ihm ein."
"Ja, das meine ich. Ich werde dann noch viel mehr Informationen aus ihm herausholen können."
15
Nichts wünschte sich Laré mehr, als wieder ein normales Leben zu führen. Die ständigen Lügen ... Lange würde sie das Versteckspiel nicht mehr durchhalten.
Sie lehnte sich an die Wand neben dem Fenster und sah hinaus. Marg'n würde heute nicht kommen. Sie hatte sich hierher zurückgezogen, weil sie allein sein wollte. Sie musste über so viele Dinge nachdenken.
Sie war noch jung. Nie hatte sie bisher an eine dauerhafte Verbindung gedacht. Ihre Freunde hatten gewechselt. Häufig, aber nicht zu häufig. Später vielleicht: ein Mann, ein Kind, eine eigene Familie. Die Zukunft eilte nicht.
Gestern war sie beim Arzt gewesen. Sie war schwanger. Ausgerechnet von ihm. Sie hatte nicht gedacht, dass es möglich war, und deshalb keinerlei Vorkehrungen getroffen.
Sie hatte einen Fehler gemacht, der ihr ganzes weiteres Leben verändern würde. Gleich danach hatte sie einen noch schlimmeren Fehler begangen. Sie hatte mit irgendjemand reden müssen - und so war sie zu ihm gegangen. Er war überrascht gewesen, zuerst, dann hatte ihn eine ungestüme, kindliche Freude erfasst und Laré hatte über ihn lachen müssen. Das war gestern gewesen. Heute bereute sie es. Hätte sie ihm nichts gesagt, hätte sie die Schwangerschaft abbrechen können. Aber jetzt ...
Teil III - Variationen des Endes
Auf ihrem Weg zurück ins Wohnzimmer blieb sie vor dem großen Wandspiegel stehen.
In meinen Augen, dachte sie, was ist das da in meinen Augen?
Sie atmete tief durch. Sie sammelte sich für das, was sie zu tun beabsichtigte, was sie tun musste. Für die Freiheit, für den Widerstand, für sich selbst. Die Ziffern, die Marell ihr genannt hatte, waren ein ihr seit langem bekannter Code. Der Zeitpunkt für den entscheidenden Aufstand war gekommen. Der erste Schritt war, der Schlange den Kopf abzuschlagen. Seit zwei Jahren hatte Laré diesen Tag herbeigesehnt, der sie für alles entschädigen würde, was sie durchgemacht hatte. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild: eine große, schlanke Frau mit schulterlangem, weißblondem Haar, senkrechten, schwarzen Pupillen und salzigen Tränen, die wie zwei kleine Bäche über die Wangen flossen.
Mit der entsicherten Waffe in der Hand ging sie ins Wohnzimmer. Sie umrundete die Couch und richtete die Mündung der Waffe auf den liegenden Mann. Er schlug die Augen auf. Laré sah die Verwunderung in seinem Gesicht, sie sah das langsame Verstehen und die aufkeimende Angst.
Sie hatte sich diesen Augenblick oft in ihrer Phantasie vorgestellt. Sie hatte ihre Worte sorgfältig vorbereitet.
"Das Spiel ist vorbei", sagte sie. "Heute beginnt der Ernst. Mit deinem Tod und dem Tod der anderen Kommandanten."
Er sollte keinen leichten Tod haben. Vorher würde sie ihn brechen.
"Seit zwei Jahren gebe ich vor, dich zu lieben, und hasse dich doch aus tiefstem Herzen. Seit zwei Jahren wage ich mich nicht mehr auf die Straße hinaus. Deine Leute halten mich für eine Hure, meine für eine Verräterin."
Laré wischte sich die Tränen aus den Augen und von den Wangen. Vergeblich - neue strömten aus einer unversiegbaren Quelle.
"Du bist ein Mensch - und du hast trotzdem geglaubt, mit uns, das würde gut gehen?" Sie schrie die Worte geradezu und mit einem unüberhörbaren Vorwurf.
Sie strich mit der freien Hand über ihren gewölbten Bauch.
"Unser Kind", sagte sie verzweifelt, "ich werde es zur Welt bringen. Und jeden Tag werde ich es einen Bastard nennen. Es wird lernen, seinen Vater zu hassen und das Volk, zu dem sein Vater gehörte."
"Laré ..."
Vielleicht verspürte Laré einen tiefen inneren Schmerz, vielleicht waren ihre Augen leer, vielleicht waren sie auch voller Freude, als ihr Finger den Druckpunkt des Abzugs fand.
(c) by StarScratcher, Mai 2000, überarbeitet April 2002
[ 28.04.2002, 20:06: Beitrag editiert von: StarScratcher ]