Der verzauberte Hase
"Da seid ihr ja endlich. Wir sind schon seit zwei Stunden hier", rief Tante Monika. Lena kletterte aus dem Auto und ließ die stürmische Umarmung ihrer Tante über sich ergehen. Bevor sie sich richtig umsehen konnte, kam auch Onkel Jörg und drückte sie fest an sich. "Mein Gott, was bist du groß geworden. Bald kannst du mir auf den Kopf spucken", sagte er. Das sagte er jedes Mal, wenn sie sich trafen, so dass Lena über den Scherz nicht einmal mehr grinsen konnte.
"Kommt rein", sagte Tante Monika, "euer Gepäck laden wir später aus". Langsam ging Lena hinter den anderen in das Ferienhaus, in dem sie alle gemeinsam die Ostertage verbringen wollten. Sie alle, das waren Lena, Papa, Mama, Lenas 14jährige Schwester Tanja, Tante Monika, Onkel Jörg und deren 15jährige Tochter Sandra.
Tante Monika führte sie durchs Haus. Unten waren ein großes Wohnzimmer, die Küche, ein kleines Schlafzimmer und ein Badezimmer. Im oberen Stockwerk waren drei weitere Schlafräume und noch ein Bad. Eines der Zimmer war für Lena. Es war zwar ziemlich klein, aber Lena war froh, dass sie nicht zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Kusine schlafen musste.
Deren Zimmer war nebenan, und Sandra saß dort schon auf einem der Betten und lackierte sich die Fußnägel. "Was ist denn das für eine geile Farbe?", rief Tanja und ließ sich neben ihrer Kusine auf dem Bett nieder. "Ultra-Pink", antwortete Sandra, "willst du auch mal?". Und die beiden Mädchen begannen eine angeregte Unterhaltung.
Lena verzog das Gesicht. Das würden sicher furchtbar langweilige Ostern werden. Ihre Mama hatte Tante Monika, ihr Papa Onkel Jörg und Tanja ihre Kusine Sandra. Nur in Lenas Alter war niemand da. Sie hatte nur Fritz zum Spielen.
Erschrocken blieb Lena stehen: Wo war Fritz eigentlich? Dann fiel ihr ein, dass er noch ganz allein im Auto war und schnell lief sie die Treppe wieder hinunter. Da lag er, neben ihrem Sitz - ein brauner Plüschhase. Lena hatte ihr zu ihrem 4. Geburtstag von ihrem Opa bekommen. Und weil ihr Opa Fritz hieß, hatte Lena den Hasen genauso genannt. Obwohl Lena mittlerweile schon sieben Jahre alt war, war Fritz immer noch ihr liebstes Kuscheltier. Sie nahm ihn fast überall hin mit, und so sah er auch aus. Sein Plüschfell war an einigen Stellen schon ganz abgeschabt, und eines seiner langen Ohren war halb abgerissen gewesen und musste von Lenas Mama wieder angenäht werden. Aber das störte Lena nicht. Für sie war Fritz der schönste und liebste Hase der Welt. Herzlich drückte sie ihn an sich und flüsterte ihm zu: "Wir beide halten zusammen, nicht wahr?".
Während die Erwachsenen das Gepäck ausluden und die Schlafzimmer bezogen, erkundete Lena die Umgebung des Ferienhauses. Sehr viel war da allerdings nicht zu entdecken. Das Haus stand ziemlich einsam, nur ganz in der Ferne waren einige Bauernhäuser auszumachen. Direkt neben dem Haus war eine Weide, auf der Kühe standen, die Lena und Fritz dumm anglotzten. Am interessantesten war ein Bach, der ungefähr 500 Meter hinter dem Ferienhaus vorbei floss. Lena hielt vorsichtig eine Hand ins Wasser. "Uh, das ist ja eiskalt", sagte sie zu Fritz.
Sie ließ einige Holzstücke ins Wasser und beobachtete, wie sie den Bach hinunter trieben. Dann sagte sie zu Fritz: "Schau mal, wie weit ich schon springen kann" und sprang an mehreren Stellen, die ihr eng genug erschienen, über den Bach. "Willst du auch mal springen?", fragte sie ihn. Und obwohl er natürlich nicht antwortete, warf sie ihn über den Bach und sprang dann selbst hinterher. Schließlich erkundete sie noch ein kleines Wäldchen auf der anderen Seite des Baches, fand aber nichts Interessantes. Also pflückte sei von einer Wiese einen Strauß mit kleinen gelben Blumen für Mama und lief zurück zum Haus.
Den Rest des Nachmittags verbrachte sie damit, für die anderen Bilder zu malen, die sie ihnen am Ostersonntag schenken wollte. Für Papa malte sie ein Bild mit einem Osterhasen und vielen bunten Eiern, für Mama eines mit einem kleinen Mädchen, das einen Blumenstrauß in der Hand hält. Für Tante Monika malte sie eine große Sonne, viele Herzen und einen grünen Schmetterling. Während sie gerade darüber nachdachte, was sie für Onkel Jörg malen sollte, rief ihre Mama zum Abendessen.
Beim Abendessen erzählte Onkel Jörg vom Brauch des Osterwassers. "Wenn junge Mädchen noch vor Sonnenaufgang am Ostermorgen, ohne ein Wort zu sagen, sich mit Wasser aus einem Bach oder See das Gesicht waschen, bleiben sie immer schön". Als Lenas Papa meinte: "Na, das wäre ja was für unsere Töchter", kicherten Tanja und Sandra und flüsterten miteinander. Lena schüttelte den Kopf. Als wenn die beiden es schaffen würden, auch nur eine Minute den Mund zu halten.
Onkel Jörg hatte offenbar Lenas Kopfschütteln bemerkt, denn er sagte zu ihr: "Gut, um ewige Schönheit musst du dir wohl noch keine Sorgen machen. Aber das Osterwasser kann noch mehr. Wenn man damit ein Tier oder einen Gegenstand besprengt, kann es sprechen wie ein Mensch. Aber natürlich nur, wenn das noch vor Sonnenaufgang am Ostersonntag geschieht und du wirklich kein einziges Wort gesprochen hast".
Lena sah ihn mit großen Augen an. Ob das stimmte oder ob Onkel Jörg nur einen seiner üblichen Scherze mit ihr machte? Sie beschloss, ihm nicht zu glauben. Aber toll wäre es schon.
Nach dem Abendessen spielten sie zusammen einige Kartenspiele und sahen dann noch etwas fern. Lena durfte fast so lange aufbleiben wie die großen Mädchen und fand, dass Ostern doch ganz schön war.
Am nächsten Morgen wurde sie ganz früh, als es erst dämmerte, wach. Sie wusste erst nicht, was sie geweckt hatte, aber dann wiederholte sich das Geräusch: Der Wecker ihrer Schwester piepte. Lena hielt ihr Ohr an die Wand und konnte die Mädchen mit verschlafenen Stimmen reden hören. Sie verstand nicht, was sie sagten, aber sie begriff: Tanja und Sandra hatten tatsächlich zum Bach gehen und sich das Gesicht mit Osterwasser waschen wollen. Daher hatten sie sich den Wecker früh gestellt. Aber jetzt waren sie natürlich viel zu faul, um aufzustehen. Und außerdem hatten sie ja schon gesprochen.
Bald wurde es nebenan wieder ruhig, und Lena wickelte sich fest in ihre Bettdecke ein, um ebenfalls weiterzuschlafen. Aber plötzlich setzte sie sich auf. Wenn sie jetzt sowieso schon wach war, konnte sie doch einfach mal ausprobieren, ob es stimmte, was Onkel Jörg erzählt hatte. Wenn es doch nur ein Witz gewesen war, würde ja keiner erfahren, dass Lena darauf hereingefallen war. Schnell kletterte sie aus dem Bett und zog sich an. Sie griff sich Fritz, öffnete vorsichtig ihre Zimmertür und stieg die Treppe hinunter, wobei sie sich bemühte, kein Geräusch zu machen. Die Haustür war verschlossen, aber der Schlüssel steckte.
Draußen wurde es langsam hell, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen. Es war ziemlich kalt, und Lena rannte, um warm zu werden, zum Bach. Dort angekommen hielt sie eine Hand hinein und schöpfte damit etwas Wasser, das sie über Fritz Kopf träufeln ließ. Nachdenklich betrachtete sie ihn: er sah eigentlich aus wie sonst auch. Sie sagte: "Hallo, Fritz" und wartete einen Moment, aber nichts passierte. Es war also doch nur ein dummer Scherz gewesen. Da ihr immer noch kalt war, rannte Lena schnell zurück. Sie betrat das Haus, verschloss die Haustür wieder, stieg leise die Treppe hinaus, zog sich aus und verkroch sich dann im warmen Bett. Dort schlief sie bald wieder ein und erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
Der Ostersonntag begann natürlich mit Ostereiersuchen, und dann machten sie einen Ausflug zu einem See, auf dem sie nach dem Mittagessen mit Tretbooten herumfuhren.
Lena erzählte niemandem von ihrem morgendlichen Versuch. Aber während sie im Auto zum Ferienhaus zurückfuhren, betrachtete sie versonnen Fritz und dachte: "Es wäre aber doch schön gewesen, wenn du jetzt reden könntest".
Der Abend verlief ähnlich wie der vorherige, und wieder kam Lena erst spät ins Bett. Und wieder wachte sie plötzlich auf. Diesmal sogar mitten in der Nacht, denn draußen war es noch ganz dunkel. "Komisch. Was mich heute wohl aufgeweckt hat?", meinte sie zu Fritz.
"Na, ich habe dich aufgeweckt", antwortete Fritz.
Verblüfft sah Lena ihn an. Das hatte sie sich doch nur eingebildet, oder? Sie piekste ihn mit dem Zeigefinger in den Bauch. "Aua, nicht so doll", sagte Fritz.
"Du... du... du kannst ja reden", stotterte Lena.
"Natürlich", sagte Fritz, "du hast mich doch mit Osterwasser bespritzt". "Aber ich dachte...", sagte Lena.
"Na, mit dem Denken ist es wohl nicht so weit her bei dir", meinte Fritz. "Du bist aber ganz schön frech zu mir", sagte Lena vorwurfsvoll.
"Na, stimmt doch", verteidigte sich der Hase, "so wie du mit mir manchmal umgehst, kannst du nicht allzu viel denken. Neulich, zum Beispiel, als du mich unbedingt zur Schule mitnehmen wolltest und mich in deinen Ranzen gequetscht hast. Ich habe kaum noch Luft bekommen. Oder vorgestern, als du mich immer über den Bach geschmissen hast. Mir ist ganz schwindelig geworden, und der Aufprall auf dem harten Boden tat ziemlich weh".
"Das tut mir wirklich leid", sagte Lena entschuldigend, "aber eigentlich behandele ich dich doch ganz gut. Ich trage dich überall herum, und nachts darfst du in meinem weichen Bett liegen".
"Das stimmt", räumte Fritz ein, "vielen Kuscheltieren geht es wesentlich schlechter als mir".
Sie unterhielten sich noch lange über die Dinge, die sie, seit Fritz bei Lena war, gemeinsam erlebt hatten. Aber irgendwann musste Lena eingeschlafen sein, denn sie sah nicht, wie es draußen langsam heller und heller wurde und die Sonne aufging. Erst als die Sonnenstrahlen schon ihr Zimmer erreicht hatten, wachte sie auf. Fritz lag neben ihr. Vorsichtig stupste sie ihn an und sagte: "Guten Morgen". Keine Antwort. Stumm und bewegungslos lag er da, so wie ein ganz normaler Plüschhase.
Lena war unsicher. Hatte Fritz heute nacht tatsächlich gesprochen? Oder war alles nur ein Traum gewesen? Sie konnte es nicht sagen. Lange überlegte sie, aber dann fiel ihr der einzige Weg ein, es herauszufinden. Sie würde ihre Eltern bitten, dass sie nächstes Jahr Ostern wieder hier verbrachten. Dann würde sie ja sehen, ob es noch einmal funktionierte, Fritz zum Sprechen zu bringen.