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Copywrite Der Versuch, zu atmen

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28.12.2009
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Der Versuch, zu atmen

Die wenigsten wissen, dass zu einem guten Gulasch Zitronenrinde gehört. Du schabst sie mit einem Schälmesser vorsichtig von der Frucht ab und gibst die hauchdünnen Streifen erst am Ende in den Topf. Schälmesser haben in der Regel eine leicht gebogene Klinge. Es muss gut in der Hand liegen. Mein Vater hat es mir beigebracht - mit langsamen Bewegungen, nicht mit zu viel Kraft, die Schneide arbeiten lassen. Zitronenrinde. Ein frischer, säuerlicher Geruch, der einem in der Nase kribbelt. Hier, hier stinkt es nach Urin, menschlichen Ausdünstungen und Erbrochenem. Ich beobachte den Infusionsbehälter. Kochsalzlösung fällt in die Kammer, Tropfen für Tropfen rinnt durch den Schlauch in meine Vene.

Mein Vater mietete jeden Sommer ein Ferienhaus in Skallingen. Immer die gleiche Holzhütte hinter den Dünen. Das einzige Fenster in meinem kleinen Zimmer lag ostwärts, und wenn ich auf dem Bett lag, konnte ich die Brandung hören. Daran erinnere ich mich. Das auf und abschwellende Geräusch der Wellen. Der Strandroggen unter meinen nackten Fußsohlen. Das Salz in der Luft. Ich spüre, wie das Gift kalt meinen Arm hinaufsteigt. Cyclophosphamid. Ich habe das Wort solange geübt, bis ich es fehlerlos aussprechen konnte. Cyclophosphamid ist ein Wirkstoff, der in der Medizin vor allem als Zytostatikum zur Behandlung von Tumorerkrankungen eingesetzt wird. Zu den wichtigsten Nebenwirkungen zählen Knochenmarksuppression, Haarausfall und Übelkeit. Ich stelle mir vor, wie es sich von der Leber aus im ganzen Körper verteilt, tief in das Gewebe eindringt. Und irgendwann schlägt ein schwarzes Herz in meiner Brust, dann kann ich endlich sagen: `Hier, ihr habt es alle schon immer gewusst!` Aber nein. Natürlich klammere ich mich an den Rest Leben, der mir noch bleibt. Was sollte ich auch sonst tun?

Die Medikamente machen etwas mit dir. Jede Bewegung schmerzt. Alles ist mühselig. Man wird langsam. Es gibt diesen Moment, an dem du die Grenze überschreitest. An dem du aufgeben willst. Einfach nicht mehr weitermachen. Liegenbleiben. Jeder hier erlebt diesen Moment. Manche schaffen es nicht zurück, stehen nicht mehr auf. Dann beginnen sie, an Götter zu glauben, an Scharlatane und ihre leeren Versprechungen, an die Kräfte exotischer Kräuter und Pflanzen. Nichts davon wird sie heilen. Es ist die Hoffnung, die sie glauben lässt.

Mein Vater starb im Schlaf. Ich stelle mir seine letzten Stunden vor: Wie er im Ohrensessel sitzt, die Abendausgabe der Berlingske liest und einen Gammel zum Kaffee trinkt. Vielleicht hat er es gespürt. Ein Ziehen im Unterleib. Ein Druck auf der Magengrube. Schwindel. Vielleicht ist er auch einfach so ins Bett gegangen. Ohne jedes Gefühl. Nur erschöpft vom Tag. Matt. Müde. Erwartet man den Tod jemals? Ich sehe aus dem Fenster. Die graue Waschbetonwand einer Fabrik. Mehrfamilienhäuser. Zugezogene Vorhänge in den Fenstern. Ich frage mich, ob uns die Menschen in diesen Häusern sehen können? In der Krone der alten Linde im Vorgarten sitzen Rabenkrähen, ihr Gefieder glänzt schwarz. Vögel kündigen den Tod an. So will es der Mythos. Ich schließe die Augen. In der Klinik sind es die gleichen Leute. Jeden Tag, bis sie schließlich nicht mehr kommen. Natürlich denkst du darüber nach, was mit ihnen passiert ist, auch wenn du es eigentlich nicht willst. Man weiß ja, es gibt nicht mehr so viele Möglichkeiten. Wir können es nicht ändern. Wir beobachten uns, vermessen die Vergänglichkeit. Ich sehe es in den Gesichtern, ich kann es in ihnen lesen. Und ich weiß, was sie in meinem lesen. Ohne Wimpern und Augenbrauen sehe ich aus wie ein kleines Kind. Manchmal erscheint es so sinnlos, dass ich denke ich, alles was ich noch tun kann, ist atmen.

Mein Vater hegte keine Ambitionen. Er war ein Mann mit simplen Bedürfnissen. Er liebte sein Leben lang eine einzige Frau. Arbeitete sein Leben lang für eine Firma. Jeden Sommer nahm er den gleichen gusseisernen Topf mit nach Skallingen, um Gulasch über offenem Feuer zu kochen. Wir fuhren zu einem der Bauern in der Nähe und kauften Rinderschulter – Bug, Schaufel, falsches Filet, das ganze Stück. Das Fleisch aus der Schulter ist langfaserig und nur mäßig mit Fett durchwachsen. Es eignet sich nicht zum kurzen, scharfen Anbraten, es muss lange im Topf schmoren, um sein volles Aroma zu entfalten.

Draußen vor der Hütte gab es eine flache Grube im Sand, die mit Randsteinen abgetrennt war. Meine Mutter schichtete Splinte über zerknülltem Zeitungspapier und legte trockene Holzscheite nach. Es kommt mir seltsam vor, wenn ich jetzt daran denke, aber meine Mutter konnte das gut, das mit dem Feuer. Sie hatte kleine Hände und schmale Finger. Sie war geschickt. Mein Vater parierte währenddessen das Fleisch. Er schnitt an den Muskelrändern entlang, legte Sehnen und Knochen frei, entfernte die feine, feucht schimmernde Silberhaut. Die Klinge immer in Richtung der Maserung. Dann Kartoffeln und Karotten waschen, in kleine Würfel schneiden, mit gehackten Zwiebeln in den Topf geben. Alles folgte einer geheimen Ordnung. Er arbeitete ruhig und gewissenhaft, ließ sich viel Zeit. Ich beobachtete dabei seine großen, kräftigen Hände, wie die Finger über das Fleisch glitten, die Schnitte nachfühlten. Er arbeitete im Stehen, trank Flaschenbier und ließ amerikanische Marlboro im Aschenbecher verglühen. Fond. Salz. Pfeffer. Paprika. Ganz zum Schluss die Zitronenrinde. Er hängte den Topf mit allen Zutaten über das Feuer, rührte mit einem Holzlöffel um und verschloss den Deckel. Es war Magie, und je länger wir warteten, desto magischer wurde es. Dünner Rauch stieg aus den Lüftungslöchern am Topfrand, leises, beständiges Brodeln drang aus dem Inneren.

Ich spüre das Vibrieren meines Mobiltelefon und ziehe es aus der Brusttasche. Das Display leuchtet bläulich. Es ist die Nummer von Svea, ich erkenne sie an den letzten drei Ziffern – 397. Ich schließe die Augen … Nein, für Svea habe ich nie Gulasch gekocht. Sie mag Süßes. Früher habe ich für sie fingerförmige Kekse aus Lebkuchenteig gebacken und sie mit selbstgemachter Himbeermarmelade bestrichen. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt noch Fleisch isst. Heute ist es ja in Mode, kein Fleisch mehr zu essen. Vegetarier. Veganer. Die Wahrheit ist, dass diese Menschen noch nie ein anständiges Beef Wellington gegessen haben. Dann würden sie anders reden, anders denken. Fleisch ist Leben. Ich warte, bis das Vibrieren aufhört. Mein Gesicht spiegelt sich im Schwarz des Displays. Vor ein paar Tagen hat eine Frau, die hier in der Klinik neben mir lag, ein Porträt von mir angefertigt. Ich habe geschlafen, während sie es gezeichnet hat. Das fertige Bild habe ich zufällig entdeckt, als es ihr aus der Hand gerutscht ist. Akuter Schwächeanfall, man kennt das. Jedem passiert es irgendwann. Aus ihr wird sicher keine große Künstlerin, so viel kann ich sagen. Ihr Strich ist ungelenk, bemüht, aber er ist ehrlich. Es ist ein ehrliches Porträt. Sie hat es mir geschenkt, jetzt bewahre ich es zusammengefaltet in meiner Brieftasche auf. Das Gesicht im Display - es gleicht sich an, wird mehr und mehr zu dem Gesicht auf dem Papier. Eine schlechte Skizze, in Auflösung begriffen.

Die Frau habe ich seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Sie war noch jung. Vielleicht hat sie eine Chance. Vielleicht wird sie es schaffen. Wir kamen ins Gespräch, und als ich ihr sagte, ich sei in einem anderen Leben Chef de Cuisine im Pierrot gewesen, da hat sie mir erzählt, sie habe dort gemeinsam mit ihrer Schwester gegessen, einen Tag bevor sie von ihrer Diagnose erfuhr. Ich stelle mir vor, wie ich ein Pot au feu für sie koche. Im Grunde habe ich immer für vollkommen Fremde gekocht – ich kannten weder ihre Namen, noch ihre Gesichter. Doch diesmal ist es anders, da koche ich für diese Frau, und nur für sie. Wenigstens in meiner Vorstellung ist es so. Pot au feu ist das letzte Gericht, das ich im Pierrot koche. Ich mache alles selbst, verdonnere keinen aus der Brigade zu irgendetwas. Fleisch parieren. Gemüse waschen und schneiden. Für diesen Eintopf braucht man vor allem eins: Zeit. Es ist ein Kreislauf aus Kochen, Abschöpfen, Auskühlen und erneutem Kochen. Fast wie das Leben. Ich gebe mageres und fettes Fleisch in den Topf, dann Knoblauch, Nelken, unverzichtbar das Boquet garni. Ich bin konzentriert, alles funktioniert, jedes Gewürz, jedes Aroma fügt sich ineinander, wird zu einer Komposition, und ich weiß, ich brauche nicht nachzufragen, ob es ihr schmeckt. Ich serviere in zwei Gängen. Zuerst die Brühe, in ganz einfachen, flachen Schalen, verfeinert mit Schmelzkäse und Croutons. Danach das Fleisch, gemeinsam mit dem Gemüse und gegarten Kartoffeln, klassisch mit Senf, Vinaigrette und Cornichons. Sie isst langsam, mit großem Genuss, und währenddessen begreift sie, dass es ihre Henkersmahlzeit ist. Aber sie lächelt, kaut noch bedächtiger, versteht den Zusammenhang. Dass es mehr als ein Gericht ist, mehr als nur ein paar Zutaten, die man unter Hitze vermengt. Dass es eine Bedeutung hat.

Wieder das Telefon. Wieder Svea. Ich weiß, warum sie anruft, meine Ex-Frau hat es mir bereits gestern erzählt. Sie hatte einen Unfall mit einem Wagen, dessen Versicherung auf meinen Namen läuft. Es ist eine Vollkaskoversicherung, doch der Fahrer war nicht berechtigt und hatte außerdem mehr als anderthalb Promille Alkohol im Blut. Sie wollen nicht für die volle Schadenssumme aufkommen, die Sache wird vor Gericht enden. Ich habe meine Tochter in den letzten Jahren kaum gesehen, und wenn, dann haben wir nie mehr als ein paar belanglose Worte miteinander gewechselt. Sie hat ihre eigene Meinung über die Dinge, die zwischen mir und ihrer Mutter vorgefallen sind. Das kann ich nicht ändern, selbst wenn ich wollte. Ich habe Svea immer wieder gesagt, sie soll die Finger von Typen lassen, die gefährlich und unverantwortlich sind, aber warum sollte sie noch auf mich hören? Gift fließt durch meine Venen, um das Unausweichliche hinauszuzögern. Meine Worte besitzen keine Schwerkraft mehr. Meine Taten sind nur noch Bewegungen im luftleeren Raum. Das Vibrieren verstummt. Wieder das Gesicht im Display.

Ich sehe aus dem Fenster. Die Krähen sind weg. Die Wände noch da. Grau in Grau. Irgendwann sind wir nicht mehr nach Skallingen gefahren. Wir haben einfach damit aufgehört. Ich wurde älter. Mein Vater alt. Meine Mutter starb. Einmal hat mein Vater den gusseisernen Topf noch ausgepackt, im Sommer vor seinem Tod. Wir saßen im Garten auf der Patio, und ich habe versucht, das Feuerholz so elegant zu schichten wie meine Mutter. Die Lammschulter kaufte ich bei einem Metzger in der Stadt, Kartoffeln, Karotten und Weißkohl auf dem Markt. Wir standen vor der Anrichte in der düsteren Küche, bereiteten die Zutaten gemeinsam vor, stumm, andächtig. Wir wussten beide, dass es das letzte Mal sein würde. Wir wollten es mit Würde tun. Während der Eintopf über den Flammen köchelte, tranken wir Bier, rauchten eine kubanische Upmann. Dann erzählte mein Vater eine Geschichte über Skallingen, über einen Strand ganz in der Nähe unserer alten Hütte, den die Deutschen im Zweiten Weltkrieg vollständig vermint hatten. Dass sie den Strand vor Kurzem räumen mussten, und sie vielleicht nie alle Minen finden würden. Nach einer Weile sah er mich an, lächelte und sagte: „Wir haben keine Zitronenrinde.“ Ich nickte schweigend. Wir aßen spät. Es war eine warme Nacht.

Viel mehr kann ich nicht sagen. Das Leben ist der Versuch zu atmen. So sehe ich das. Es ist der Versuch, zu atmen, und nicht mehr damit aufzuhören. Das ist alles.

 

Lieber Jimmy,

danke dir für deinen Kommentar. Ist schon was länger her, diese Geschichte, ich kann mich da nicht mehr so genau dran erinnern, nur wie stark ich eben den Originaltext von @Chutney fand. Da waren eben auch tiefe Emotionen drin, und dann ist im Grunde schon ein Anfang gemacht. Ich habe dann versucht, den Text aus einer anderen Perspektive aufzurollen, bei einer so guten Vorlage eine dankbare Aufgabe.

Gern geschehen.
Ja, der Text von @Chutney ist mega! Und wenn man dann gleich darauf Deinen liest, ist das total stimmig. Ihr könntest super ein gemeinsames Buch schreiben, jeder erzählt aus ner anderen Perspektive. Ich mag es, wenn Geschichten so in die Tiefe gehen.

Vielen Dank!

Von Herzen gerne.

Ganz liebe Grüße,
Silvita

 

Aber auch noch etwas anderes las ich, und erinnerte mich. Eine langsam aussterbende Art von Mannsein oder Männlichkeit oder wie immer man das nennen will

Hallo @Morphin,

Ich finde, ehrlich gesagt, da ist jetzt nicht so viel von dieser Welt, dieser männlich dominierten Welt, im Text enthalten. Es ist ein kranker Sohn, sein Vater und die Beziehungen während der Behandlung - das ist jetzt nicht besonders macho. In dem Text wird weder geschlachtet, noch gejagt, noch getötet, sondern nur ordentlich gekocht.

Es ist halt so, dass alles, was man in die Nähe einer vermeintlichen Macho-Kultur rücken könnte, heute leider schon als toxisch oder irgendwie bedenklich gelten, weil Patriarchat und überhaupt. Darunter haben ja auch sehr bekannte Autoren gelitten, unter diesem Makel, Jim Harrison fällt mir ein, das waren jedoch im Grunde immer Beschreibungen von Männlichkeitsritualen und auch gleichzeitig eine Entlarvung derer. Es wurde nur nicht trivialisiert, weil ein guter Autor seinen Figuren die Würde lässt, und das versuche ich auch. Heute muss man aber unbedingt die Absurdität dieser Riten beschreiben, man muss sie verlachen und/oder verniedlichen, ironisieren, damit man darüber schreiben kann - wahrscheinlich sind sie immer noch so stark kulturell verwurzelt, dass sie der modernen Meinungsschickeria gehörig Angst einjagen, diese Rituale. Ich habe tatsächlich etwas für klassische Männlichkeitsideale übrig, ich respektiere es, wenn ein Mann ein Handwerker ist, wenn er schweres Gerät bedienen kann und sich damit auskennt, wenn er ein guter Jäger ist (nicht im Sinne von viel, sondern eben gut) und wenn er Schneid besitzt. Auch kann ich viel mit den klassischerweise als männlich konnotierten Attributen wie Disziplin, Stolz und Unabhängigkeit anfangen. Ich halte viel von Respekt. Ich verschweige nicht, dass diese Welt eine zerrissene ist, mit vielen Fehlern und Ungerechtigkeiten, und man sie sicher auch als dumpf beschreiben könnte, wenn man werten wollen würde.

Danke für deinen Kommentar.

Gruss, Jimmy

 

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