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Der Verschläfer
Ich habe mich verschlafen und bin an einem fremden Ort aufgewacht. Ich wusste gar nicht, dass so etwas geschehen kann.
„Schön, dass hier endlich mal die Augen aufgehen! Kann ich jetzt vielleicht nach Hause?“
„Bitte was?“ Erschrocken und mit einem Schlag hellwach schaue ich auf den Käfer, der wütend vor meiner Nase steht und mich zornig anschaut.
„Sie liegen auf meiner Eingangstür.“ Breitbeinig steht er vor mir und klappert mit seinen kräftigen Zangen.
„Ach.“ Ich setze mich auf und rutsche ein Stück zur Seite. „Entschuldigen Sie bitte, aber ...“
„Schlafmütze, Penner“, brummelt der Käfer und verschwindet zwischen einem Grashalm und einem Gänseblümchen in der Höhle zu seiner Erdwohnung.
Ich bin zu Hause in meinem Zimmer in meinem Bett eingeschlafen und nun liege ich auf einer Bergwiese. Unten im Tal schlängelt sich in der Abenddämmerung ein Fluss zwischen Feldern und Wäldern auf seinem langen Weg zum Meer. Nach oben reicht die Wiese bis an das Ende der Welt. Blühende Blumen leuchten mit kräftigen Farben. Alles ist schön und bunt und riecht nach gesunder Luft. Aber trotzdem, ich möchte gerne da aufwachen, wo ich auch eingeschlafen bin.
Vielleicht kann ich mich ja zurück träumen, nach Hause, in mein warmes Bett. Ich rolle mich zur Seite, lege meinen Kopf auf eine Hand, ziehe die Beine an, schmiege mich an den weichen Boden und wünsche mir eine Gute Nacht.
„Gute Nacht. Gute Nacht. Gute Nacht“, zischelt es rings um herum. „Gute Nacht. Gute Nacht. Gute Nacht.“
Was ist denn hier los? Erschrocken setze ich mich wieder hoch, schaue um mich, nach vorne, nach hinten, nach oben – und sehe nichts. Aber dann, unter mir, zwischen meinen Beinen, da tobt das Leben. Ich liege auf einer Ameisenstraße. Unter mir krabbeln Tausende von Ameisen ihren Weg zur Arbeit entlang und jede, die über meinen großen Zeh klettert, wünscht mir: „Gute Nacht. Gute Nacht. Gute Nacht.“
Ein freundliches Volk, diese Ameisen, nur ein bisschen laut.
„Buhuuu! Buhuuu!“ Schnief, schnäuz, schluchz.
Was ist denn das?
„Buhuuu! Buhuuu!“
Etwas weiter oben, am Knie, sitzt eine Ameise auf meiner Schlafanzughose und weint bitterlich.
„Buhuuu! Buhuuu!“
Ohne Unterbrechung erklingen die gut gemeinten Rufe: „Gute Nacht. Gute Nacht. Gute Nacht.“ Hunderttausend Ameisen krabbeln in den nahen Wald.
Ich stupse die heulende Ameise an. „Was macht dich denn so traurig?“
„Ich bin zu dick, buhuuu, buhuuu!“, schluchzt sie herzerreißend. „Viel zu dick.“
„Ich glaube, du spinnst“, sage ich zu ihr. „Du bist eine ranke und schlanke Ameise und wiegst fast nichts.“
„Ich bin eine Sie.“
„Eine was?“
„Eine Sie, ein Mädchen, ein Ameisenmädchen, und dann heißt es nicht Ameise, sondern Ameisi.“
„Also gut, Ameisi. Und was ist dein Problem?“
„Ich bin zu dick, buhuuu, buhuuu!“
„Aber nein, das bist du nicht.“ Ich kraule sanft mit meinem kleinen Finger ihr Köpfchen. „Du bist so zart und so schön, du musst nicht weinen. Schau doch nur, wie dich die Sonne mit ihren feinen Strahlen streichelt. Ich glaube, sie ist in dich verliebt.“
„Meinst du?“
Tatsächlich lässt das warme Licht der Abendsonne Ameisi in einem wunderschönen, fast durchsichtigen Orange erscheinen. Erst jetzt sehe ich, dass sie tatsächlich ein kleines Bäuchchen mit sich herum trägt.
„Du bist so leicht, dass ich nicht einmal merke, dass du auf meinem Bein sitzt.“
Sie schluckt. „Ist das wirklich wahr?“
Ich nicke, sie schluchzt nur noch leise.
„Gute Nacht. Gute Nacht. Gute Nacht,“ rufen mir ihre Brüder und Schwestern unermüdlich zu.
„Gute Nacht“, antworte ich etwas genervt.
„Buhuuu, buhuuu!“, geht die Sirene wieder los.
Ich schaue Ameisi erschrocken an.
„Ich habe keinen Namen! Buhuuu!“
Es ist kaum zu glauben, dass so ein kleines Tierchen so laut heulen kann. Vielleicht ist ihr Bäuchlein ein Wassersack, aus dem die Tränen fließen. Das sage ich ihr aber nicht, das wäre gemein.
„Wieso hast du keinen Namen? Jeder heißt doch irgendwie.“
„Ich nicht, buhuuu! Ich bin nur ich und hab’ keinen Namen, buhuuu.“
„Du heißt doch Ameisi.“
„So ein Quatsch! Ich bin eine Ameisi, so wie du ein Mensch bist. Aber ich heiße nicht ... ich hab keinen ... buhuuu ...“
Ich stecke mir ein paar Grasbüschel in die Ohren.
„Also“, sage ich zu der kleinen Heulboje, „du bist klein und fein und wunderbar geformt und du heißt ...“
Gespannt schaut sie mich an. Mir fällt kein Name ein. Sie spitzt ihre Lippen: „Bu ...“
„A ... Amaisel“, sage ich schnell.
Ihre Augen werden fast so groß wie ihr ganzer Kopf. „Stimmt das? Woher willst du das wissen?“
„Ich habe zu Hause ein riesengroßes Tierbuch, darin stehen die Namen von allen Tieren der Welt.“
„Maisel“, flüstert sie. „Maisel.“
Mit der Ecke eines weichen Papiertaschentuches wische ich ihr eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Maisel.“
Ich sehe ihre Freude. „Ja, Maisel. Das ist vielleicht ein schöner Name.“
Sie strahlt mich an und tiriliert.
Wenn ich ihr sagen würde, dass Vögel tirilieren und nicht Ameisen, würde sie bestimmt gleich wieder losheulen. Also halte ich meine Klappe.
„So, und jetzt geh zu deinen Geschwistern“, sage ich stattdessen. „Du musst doch bestimmt auch arbeiten.“
Hoffentlich fällt ihr nicht noch was Schreckliches ein.
Aber Maisel setzt in bester Stimmung ihre vielen Beinchen in Bewegung und krabbelt davon, fröhlich vor sich hin singend: „Maisel, Maisel, ich bin die kleine Maisel.“
Einmal bleibt sie stehen und dreht sich zu mir um. Sie wird doch nicht ...
„Gute Nacht!“, ruft sie mir zu, winkt mit zwei Beinen und verschwindet schließlich hinter den Blättern eines Löwenzahns.
Ich ziehe mir die Grasbüschel aus den Ohren.
„Ich heiße Karl.“
Ich höre eine dunkle Brummstimme hinter mir und drehe mich um. „Bitte was?“
„Ich sagte, ich heiße Karl.“
Jetzt erkenne ich ihn, es ist der Käfer, der mich nach dem Aufwachen so angeschnauzt hatte. Sein Kopf, zwei scharfe Kneifer und ein Beinpaar sind zu sehen, der Rest steckt in der Erde.
„Karl, der Käfer.“
Ach, Karl? Den kenn ich doch. Irgendwo habe ich diesen Namen schon einmal gehört.
„Sind Sie der Karl von ...?“
„Pffft.“ Karl pupst noch einmal kurz und zack, ist er wieder verschwunden.
Ich spitze die Ohren und höre den Wind, in der Ferne tönt der Lockruf eines Bergadlers. Aus dem Tal klingt das Läuten der Kirchenglocken. Die Ameisen sind weg. Karl gibt Ruhe.
Schnell die Augen schließen und einschlafen – und dann zu Hause in meinem Bett wieder aufwachen.
Irgend etwas kitzelt mich an der Nase. Müde drehe ich mich zur Seite, ziehe die Decke bis zum Hals hoch, es ist kühl geworden. Ich rieche mein Kopfkissen, höre Stimmen aus dem Wohnzimmer. Wieder kitzelt es. Mühsam öffne ich ein Auge und schiele auf meine Nasenspitze. Und wen sehe ich da? Die kleine Ameise, Entschuldigung, Ameisi, die kleine Maisel. Sie spitzt ihre Lippen und – schnarcht: „Chrrrrr ... schschsch, Chrrrrr ... schschsch ...“