Der verlorene Vater
Adrian wachte plötzlich auf. Satzfetzen und Ausrufe der Mutter, laut und erregt gesprochen, drangen vom Flur her an sein Ohr. Telefonierte sie schon wieder mit dem Vermieter, diesem Halsabschneider, der die Miete wider erhöhen wollte?
Da war auch wider das scharfe Stechen in seinem Kopf, nur noch stärker als vor dem Einschlafen.
Meine Güte, kann sie denn nicht leiser sein, wenn sie schon so spät telefonieren muss?
Er wollte gerade vom Bett aus die Tür aufmachen und lautstark Ruhe verlangen, als die Stimme auf dem Flur noch erregter und lauter wurde.
„Was? Theo hier? Er wohnt bei Hubert? Hubert hat ihm hoffentlich nicht gesagt wo wir wohnen?“
Die Stimme wurde wider gedämpfter. Adrian, nun hellwach, verstand nichts mehr. Dann plötzlich wieder ein lauter Satz, der ihn traf wie ein Stromschlag: „Das könnte diesem Schuft so passen! Nach vierzehn Jahren hier als der freizügige Vater aufzukreuzen!
Wie gelähmt lag Adrian im Bett, achtete nicht weiter auf die Stimme im Flur. Seine Gedanken überschlugen sich. Sein Vater, hier in dieser Stadt... so greifbar nahe – dieser Schuft, der seine Mutter sitzengelassen, sich niemals um ihn, seinen Sohn, gekümmert hatte, der sich sogar geweigert hatte, Unterhalt zu zahlen, dieser Drückeberger, dieser... Seine Mutter hatte gelegentlich ähnlich von ihm gesprochen, immer mit so viel Verachtung in den Augen, dass Adrian nicht wagte, Fragen zu stellen. Jetzt war er also wiedergekommen, zurück aus Kanada. Kanada! Erinnerungen an Geschichten über Goldsucher und Abenteurer in Nordamerika flackerten auf. Seine Neugierde wuchs. Vielleicht war er Millionär, dieser Theo Markwald, sein Vater, wer weiss...
Er wollte ihn sehen, einmal ansehen, diesen grossen Unbekannten, ihn fragen und ihm die Meinung sagen. Sich vierzehn Jahre lang nicht um ihn zu kümmern, kein Wort, kein Brief, nicht mal eine Postkarte, nichts! Morgen würde er zu Onkel Hubert gehen. Er musste sowieso vor dem Urlaub noch einen alten Autoatlas abholen; er würde hingehen, um IHN zufällig dort zu treffen, diesen Mann, seinen Vater.
Die Gedanken liessen seinen Puls schneller gehen; der Druck im Kopf wurde fast unerträglich: Morgen würde er ihn zur Rede stellen! Nach vierzehn Jahren Einsamkeit und Warten war eine Abrechung fällig.
Nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich Pläne für das Treffen mit seinem Vater gemacht hatte, stand er auf. Die Kopfschmerzen waren noch schlimmer geworden.
Irgendwie schaffte er es, sich durch die nächste halbe Stunde zu kämpfen, dann verabschiedete er sich von der Mutter und ging in Richtung Schule davon. Aber dies war nicht sein Ziel, er wollte zu Onkel Hubert!
Onkel Hubert wohnte in mehrstöckigen Mietshaus. Vor dem haus zögerte er. Er hatte der Mutter nichts erzählt und eigentlich sollte er jetzt in der Schule sein. In wenigen Minuten würde er den Vater sehen, diesen verlogenen Mann, der sich nie um ihn gekümmert hatte! War es wirklich richtig gewesen hierher zu kommen? Ja! Bestimmt war das die richtige Entscheidung, erwürde dem Vater nun die verdiente Abrechnung verpassen! Langsam näherte er sich dem Haus und trat ein. Er ging in den dritten Stock hinauf und klingelte an der Tür mit der Aufschrift Hubert Markwald.
Nach mehreren Minuten, in denen er immer wieder geklingelt hatte, wollte er enttäuscht und erleichtert zugleich wider gehen, als die Tür plötzlich doch noch aufging. Aber nicht Onkel Hubert war an der Tür. ER war es! Es war sein Vater! Da war er sich ganz sicher. Dieser kahlköpfige Mann, abgemagert und mit schwarzen Zähnen war sein Vater! Er konnte nichts sagen, all seine Pläne und Entschlüsse waren weg. Er hatte mit einem gutaussehenden, gepflegten Mann gerechnet. Nicht mit einem , der aussah, als ob er dem Tod näher stünde als dem Leben!
Nach ein paar Augenblicken, Adrian kamen sie eher wie Stunden vor, bat ihn der Mann hereinzukommen. Er hatte eine leise zittrige Stimme. Adrian trat wie unter Schock ein und setzte sich mit dem Vater ins Wohnzimmer. Dann plötzlich fing der Vater an zu erzählen. Leise erzählte er, dass er Angst gehabt hatte vor der Geburt, dass er deswegen weggelaufen sei. Dass er nach Kanada gegangen sei und dort zuerst in einem Hotel gearbeitet und später dann seine eigene Kneipe eröffnet habe. Er erzählte, dass er die Kneipe vor einem Jahr geschlossen habe, weil er krank geworden sei. Dass er eine Chemotherapie gemacht hatte, die aber nichts gebracht habe und dass er nun schon ein halbes Jahr Adrian sehen wollte, aber nie den Mut gehabt habe zu ihn zu gehen. Dass er, nun da er ihn gesehen und ihm alles erzählt habe, den mut habe für eine zweite Chemotherapie. Dass dieses Treffen, das erste und sogleich letzte sein würde, da er nicht wolle, dass Adrian ihn in seinem Zustand sehe.
Dann fragte er Adrian, über Hobbies, Schule, Freunde und noch vieles mehr, aus. Adrian beantwortete, immer noch wie gelähmt, die Fragen. Schliesslich sassen sie beide schweigend da und starrten sich an. Beide wussten, dass nun der Abschied kam. Schliesslich stand der Vater auf und sagte Adrian, dass er jetzt gehen solle, da sich sonst die Mutter um ihn sorge. Adrian stand auf und ging zur Tür. Stumm umarmten sich die beiden und ohne weitere Worte ging Adrian.
Von der Strasse schaute Adrian nochmals hinauf in den dritte Stock. Niemand schaute aus dem Fenster. Adrians Hass war Mitleid gewichen.
In seinem Kopf dominierte ein Gedanke.
Er hatte den Vater gefunden und sogleich wieder verloren!