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Der vergrabene Bahnhof
Es war einmal ein Bürgermeister. Eigentlich war er kein richtiger Bürgermeister, sondern ein Ober-Bürgermeister. Er war Ober-Bürgermeister einer großen, schönen Stadt, und er hätte der glücklichste Ober-Bürgermeister von allen sein können, aber er war sehr unzufrieden und schlief schlecht, denn seine große, schöne Stadt hatte einen schrecklichen Makel: sie hatte einen Kopf-Bahnhof. Das heißt, die Züge der großen Eisenbahngesellschaft konnten zwar vorwärts hineinfahren aber nicht vorwärts wieder hinaus, sondern mußten ihre Lokomotive stehen lassen und bekamen hinten eine neue angehängt, die sie dann wieder aus dem schrecklichen Kopf-Bahnhof herauszog. Das kostete sehr viel Zeit und ärgerte die Leute von der Eisenbahngesellschaft und den Bürgermeister, aber sonst ärgerte es eigentlich niemanden. So waren der Ober-Bürgermeister und seine Leute auch ziemlich alleine bei der Suche nach einer Lösung. Gut, man hätte ein Loch in den Kopf des Bahnhofs schlagen und die Züge dann durch die Fußgängerzone leiten können, wäre bestimmt kein Problem gewesen, genauso wenig wie die Durchfahrt durch die Glaspassage des lokalen Traditionskaufhauses, denn handelsübliches Glas hält eine Menge aus heutzutage! Und die paar Straßencafes hätte man schnell zur Seite geräumt, genauso wie die Schuhläden. In der Fußgängerzone gibt es sowieso zu viele Schuhläden, da wären ein paar Eisenbahnwaggons sicher eine willkommene Abwechslung gewesen. Außerdem wäre vom Stadtrand bis in die Fußgängerzone eine schöne, gerade, komplikationslose Strecke entstanden. Man war schon kurz davor gewesen, Champagner zu ordern, da wies einer darauf hin, daß genau die gerade Strecke das Problem sei, da die Züge dann sehr schnell würden, und das leuchtete allen ein, und so wurde die Fußgängerzonenlösung wieder verworfen, denn 350 km/h sind selbst für H+M zuviel.
Der Ober-Bürgermeister war völlig ratlos, und die Leute von der Eisenbahngesellschaft wurden immer aufdringlicher, und so beschloß er, den Ministerpräsidenten um Rat zu fragen, aber der hat ihn nur angeschaut mit großen Augen und kein Wort verstanden von dem Problem des Ober-Bürgermeisters. Und als der Ober-Bürgermeister wieder gegangen war, war der Ministerpräsident so verzweifelt, weil er nicht verstanden hatte, wovon der Ober-Bürgermeister gesprochen hatte, daß er sofort sein Amt hinschmiß und wieder zur Schule ging.
Der Ober-Bürgermeister setzte sich aufs Fahrrad und fuhr in den Wald. Das machte er immer, wenn ihm die Ideen ausgingen, und außerdem hatte er sich das Radfahren angewöhnt, weil es da mal einen gegeben hatte, der immer Fahrrad fuhr und deshalb beinahe statt seiner Ober-Bürgermeister geworden wäre. Der Ober-Bürgermeister fuhr mit seinem Fahrrad an einer Baustelle vorbei, wo Arbeiter ein Loch gegraben hatten und munter darin herumliefen, und er fiel fast vom Fahrrad, denn ihm kam die rettende Idee: Der Bahnhof müsse vergraben werden! Unter die Erde gelegt, dann könnten die Züge durch einen ewiglangen Tunnel fahren und am Flughafen wieder auftauchen, und nicht nur die Leute von der Eisenbahngesellschaft, sondern auch die Franzosen mit ihrem TeeScheeWee wären begeistert, und seine große, schöne Stadt wäre endlich tatsächlich eine große, schöne Stadt. Der Ober-Bürgermeister raste ins Rathaus. Seine wenigen Getreuen, die unter dem Kopf-Bahnhof genauso litten wie er, waren begeistert von seiner Idee, und man fing schon mal fleißig an, die Leute zu enteignen, deren Häuser da standen, wo das Loch gegraben werden sollte für den Bahnhof. Sie waren zwar nicht begeistert, aber alle wollten letztlich doch in einer großen, schönen Stadt wohnen. Dann kam plötzlich ein Mann mit einem Blatt Papier mit einer Menge Rechenaufgaben drauf und meinte, den Bahnhof zu vergraben wäre immens teuer. Mit so was hatte wirklich niemand gerechnet, und alle starrten den Mann mit den Rechenaufgaben an wie die finale Heimsuchung. Aber der Bürgermeister und seine Getreuen setzten sich hin und rechneten nach und kamen zu dem Schluß, daß der Mann mit dem Blatt Papier sich verrechnet hatte. Es kam dann später noch ein anderer Mann mit einem anderen Blatt Papier, aber auch der hatte sich verrechnet, und dann meldeten sich schließlich auch erstaunlich viele Leute aus der Stadt, die die Idee mit dem vergrabenen Bahnhof komplett hirnrissig und außerdem auch viel zu teuer fanden, aber normale Bürger können doch nicht rechnen, wann sollten sie das denn gelernt haben?
Also wurde feste weitergeplant, den Bahnhof zu vergraben, und es kamen immer mehr Männer mit Rechenaufgaben und immer mehr Leute aus der Stadt, aber der Ober-Bürgermeister und seine Getreuen und die Leute von der Eisenbahngesellschaft waren wie im Rausch, und die Franzosen schickten schon mal ein paar TeeScheeWees vorbei zum Testen.
Eines Tages kam einer der Getreuen und meinte, man könne den Bahnhof nicht vergraben. Der Ober-Bürgermeister starrte den Getreuen an und meinte:
"Warum nicht?"
"Weil die Baumaschinen keine Feinstaubplakette bekommen."
"Keine was?"
"Keine Feinstaubplakette. Die braucht bald jedes Fahrzeug hier wegen dem Klima
und so."
"Und Bagger bekommen keine Feinstaubplakette?"
"Bagger nicht und Dampfwalzen oder Planierraupen auch nicht."
Der Ober-Bürgermeister verließ wütend das Rathaus und setzte sich aufs Fahrrad. Er fuhr an einem Feld vorbei, wo Bauern mit Schaufeln standen und feste arbeiteten. Wieder fiel der Ober-Bürgermeister fast vom Fahrrad, denn ihm kam eine neue rettende Idee: Die Bürger sollten den Bahnhof vergraben, mit Schaufeln! Genial, einfach genial! Er raste zurück ins Rathaus.
Die Getreuen waren schon ganz irritiert, als er da so reinraste mit rotem Kopf, denn sie wußten, daß der Ober-Bürgermeister gelegentlich durch grenzwertige Auftritte von sich reden machte, die nur deshalb keinen größeren Schaden angerichtet hatten, weil ein anderer Ober-Bürgermeister zur Beruhigung Cello gespielt hatte.
Aber dann fanden die Getreuen die Idee mit den Bürgern und den Schaufeln auch genial, und auch der Einwand, daß die meisten Bürger der großen, schönen Stadt ja Arbeit hätten und deshalb nicht abkömmlich seien, wurde schnell verworfen, denn man war sich einig, daß man für das, was das professionelle Vergraben des Bahnhofs kosten würde, locker dreihunderttausend erwachsene Bürger auch mit Feierabend-, Nacht- und Wochenendzuschlägen locker fünf Jahre lang graben lassen könne, und dann sei der Bahnhof sicher unter der Erde. Und außerdem würde man ja die Feinstaubplaketten sparen.
Der Ober-Bürgermeister und seine Getreuen orderten Champagner.
Am nächsten Tag kam ein Mann mit einem Blatt Papier und einer Rechenaufgabe darauf, daß auch das Bürgergraben zu teuer sei, da die grabenden Bürger auch noch krankenversichert werden müssten während der Grabezeit: Das sei zusammen mit den anderen Kosten unbezahlbar, ganz abgesehen von den dreihunderttausend Schaufeln. Dieser Mann hatte sich nicht verrechnet, und der Bürgermeister kippte den Champagner aus dem Fenster.
Im Rathaus sitzen sie heute noch und beratschlagen, und nun tendieren sie wieder zur professionellen Lösung samt Feinstaubplaketten, aber es kommen immer mehr Leute mit Rechenaufgaben, und immer weniger davon haben sich verrechnet, und jede Version, den Bahnhof zu vergraben, wird teurer als die vorangegangene. Die Bürger werden immer angefressener, die Leute von der Eisenbahngesellschaft werden immer angefressener, und der Typ mit dem Cello hat mittlerweile sehr viel zu sagen, und er sieht es dummerweise gar nicht ein, warum er dem Ober-Bürgermeister noch mal aus der Klemme helfen soll.