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Der vergessene Mensch
Bei der Visite.
Der erfahrene Kardiologe Dr. Franz Martini nimmt sich Kalle, seinen Kollegen, zur Seite. „Sag mal Kalle, Du gefällst mir heute gar nicht“, sagt der Chefarzt. „Warum?“, fragt Kalle, der alte Internist. „Du hast die letzten Tage kaum gegessen, es sieht fast so aus als ob du danach Schmerzen hast. Und du wirkst angespannter als sonst.“ „Ich hab den Magen nur ein bißchen verstimmt“, meint der Alte und geht zunächst mit zur nächsten Visite. Dann nimmt sich Franz seinen Kollegen, den neuen Gastroenterologen, Enno Wagener, zur Seite und fragt: “Enno, ist dir beim Kalle auch was aufgefallen?“ Der Kollege antwortet: „Ja, ich finde er sieht schmaler aus als sonst, jetzt nicht fürchterlich viel, aber schon so das ihm die Hose nicht mehr vernünftig passt, wieso fragst Du?“ „Ich hatte ihn vorhin drauf angesprochen, weil er die letzten Tage kaum gegessen hat und so aussah als ob er Schmerzen hat“, meint Dr. Martini. „Da hast du wohl Recht. Jetzt wo du es sagst fällt es mir auch auf. Er wirkt auch nicht mehr so locker wie sonst.“ „Denkst du wir sollten der Sache mal näher auf den Grund gehen?“, fragt Franz. „Naja er ist ja eigentlich auch Internist. Er weiß ja eigentlich selbst auch welche Symptome was kennzeichnen“, erklärt Enno. “Mhh, naja sonst müssen wir uns das mal noch bis Montag anschauen und dann nochmal nachforschen. Vielleicht kannst du ihn dir dann mal holen“, erklärt der Kardiologe. „Verstehe schon, du denkst da an eine gastroenterologische Krankheit.“
Am Montag kommt der österreichische Kollege zu Enno. „Enno, hast du den Kalle heut schon gesehen?“, fragt der junge Kardiologe. „Ja, er ist mir eben auf dem Flur begegnet“, antwortet der Kollege. „Hast du ihm ins Gesicht gesehen?“ „Er hat abgenommen, das habe ich wohl gesehen, wenn du das meinst“, sagt Enno. Der Österreicher nickt bedrückt. Der Gastroenterologe antwortet: „Der Franz und ich haben uns letzten Donnerstag schon über ihn gesprochen. Wir wollen ihn uns heute nochmal holen und ihn Untersuchen.“ Der Junge Assistenzart nimmt diese Antwort hin.
Nach der Visite am Morgen nehmen sich Franz und Enno ihren Kollegen Kalle zur Seite. „Kalle, es ist uns ernst. Wir sehen uns das nicht länger an. Dein Gesicht ist gezeichnet, du hast abgenommen“, sagt Enno. „Ach ich bin schon ok“, sagt der Alte und möchte weggehen. „Warte Kalle. Du hast letzte Woche kaum gegessen. Deine Hose ist dir schon etwas zu groß. Was ist los mit dir?“, fragt der Neue. „Ich hab bloß Magenschmerzen. Besonders wenn ich was Fettiges gegessen hab. Wenn ich was Leichtes gegessen hab ging es einigermaßen“, erklärt der Internist bedrückt. „Wie lange hast du die Schmerzen schon?“, fragt Franz. „Angefangen hat es so vor sieben oder acht Wochen. Da hat es aber nur geschmerzt wenn ich Pizza oder Pommes gegessen habe. Aber seit so drei oder vier Wochen tut es auch weh wenn ich normale Nahrung esse“, überlegt Kalle. Franz denkt nach und fragt: „War das nicht gerade die Zeit, in der dein Zwillingsbruder im Sterben lag?“ Kalle nickt. „Und dann hast du natürlich hier auch Überstunden geklopft wie kein Zweiter“, überlegt Enno. „Aber das schlägt mir ja nicht auf den Magen“, meint Kalle. „Enno, weißt du wie sich das anhört?“ „Mhh, ich hab da eine Idee“ sagt Enno. „Komm Kalle, lass uns mal eine Endoskopie machen“ erklärt Franz. „Das ist nicht nötig. Das geht bald wieder“, sagt der Alte. Sie können ihn überreden. „Dann möchte ich aber, dass ihr das macht“, fordert Kalle sie auf. „Na gut. Franz, dann machst du die Narkose und ich mache die Endoskopie“, sagt der Neue.
Schließlich ist alles vorbereitet und Franz gibt Kalle das Hypnotikum. „Gib ihm Grad mal noch Was, er wehrt sich noch“, erklärt Enno. „Er steckt aber ganz schön was weg, der kleine Kerl; er hat jetzt 200 drin“, murmelt der Erfahrene.
Nach der Endoskopie wird Kalle schnell wieder wacher.
Enno sagt: „Mensch Kalle, du kleiner und zierlicher Kerl bist jetzt nach 5 Minuten fast wieder orientiert“ Kalle erwidert: „Jaja, andere Schlafen da den ganzen Tag von. Aber ich bin halt klein aber oho. Habt ihr denn das gefunden?“ „Ja, die Magenschmerzen die dich quälen kommen tatsächlich von einer Gastritis, so wie wir es vermutet haben“, erklärt Enno. „Dann steckt dir dein Zwilling wohl doch noch in den Knochen“; meint Franz. „Ach Quatsch, es geht schon. Er hat sich am Schluss ja auch nur noch gequält“, meint Kalle nachdenklich.
„So ich muss dann mal wieder an die Arbeit“, murmelt Kalle und geht.
Als Franz und Enno allein sind unterhalten sie sich über Kalle. „Junge Junge, das hätte ich auch nicht gedacht, dass der kleine und schmächtige Kerl die Narkose eben mal so wegsteckt“ meint Enno. „Er ist ganz schön zäh, aber ich glaube er steckt das alles nicht so einfach weg wie er tut. Seine Wangen sind sehr gezeichnet. Er hat es ja öfters gemerkt, dass mit seinem Zwillingsbruder was nicht stimmt. Dann fällt ihm der Abschied jetzt sicher nicht einfach“, sagt Franz. „Mhh und er hat ja die ganze Zeit durchgeackert. An dem Tag, als sein Zwilling starb, ist er mal weg, aber selbst an dem Tag der Beerdigung hat er vorher und nachher noch gearbeitet. Die ganze Zeit schon arbeitet er fast rund um die Uhr so hab ich das Gefühl. Er macht ja Überstunden wie kein Zweiter“, überlegt der Gastroenterologe.
„Hier findet er auch keine Ruhe. Hier steht er ständig unter Strom. Er macht Notarztdienste und Bereitschaftsdienste. Und wie es der Zufall will, fallen ihm die schlimmsten Patienten in die Hände“, sagt der Kardiologe nachdenklich. „Kein Wunder das ihm das irgendwann auf den Magen schlägt. Er ist einer der wenigen Ärzte der Mensch geblieben ist. Aber das muss er auch an sich selbst zeigen. Er muss sich auch Ruhe gönnen. Auch manche Patienten, die ihn schon länger kennen haben gefragt, ob er krank sei und gesagt, dass er krank aussehe“, murmelt Franz.
Schließlich setzten sich die vier Kollegen zusammen.
„Kalle wir möchten, dass du erstmal nach Hause fährst und dir eine Auszeit nimmst. Du bist ganz erschöpft, noch dazu ist dir die Situation auf den Magen geschlagen. Da musst du auch erstmal mit umgehen“, meint Enno „Es geht schon. Ich hab hier doch noch viel Arbeit, die kann ich nicht liegen lassen. Und meine Patienten lasse ich auch nicht alleine“ erwidert Kalle und setzt sich hin. Er sieht nach unten. Frank nimmt hebt Kalles Kopf hoch, so dass er in seine Augen sieht. „Kalle, du machst dich hier kaputt. Dir ist der Stress schon auf den Magen. Du bist krank“, merkt der Alte an. „Du bist einer der wenigen Ärzte der Mensch geblieben ist. Aber das musst du jetzt auch an dir selbst zeigen“, sagt der Österreicher. „Aber ich kann jetzt nicht einfach freinehmen. Ich hab wirklich noch zu viel Arbeit hier. Und ich hab doch heute Bereitschaftsdienst und ab Morgen übers Wochenende Notarztdienst“, sagt der Internist. „Für den Bereitschaftsdienst kann ich auch einspringen- und für deinen Notarztdienst können wir hier so viele andere hier fragen. Hier haben ja mittlerweile so viele die Notarztzulassung“, schildert Enno. „Und meine Patienten?“, fragt Kalle widerwillig. „Die kann der Österreicher übernehmen. Er ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wir du“ stellt der Neue fest. „Du darfst uns nicht weiter abbauen. Du bist zu wertvoll und auch du hast noch ein paar Tage bis in die Rente“, murmelt der Assistenzarzt. „Dann mache ich aber nur über das Wochenende frei. Das reicht mir.“
„Kalle, hast du uns nicht verstanden? Du musst dir länger Zeit nehmen. Deine Seele ist angekratzt, und das schlägt sich auch auf deinen Körper nieder“, schimpft Franz. „Wir schreiben dich krank. Für mindestens zwei Wochen“, erklärt Enno.
Die drei Kollegen können Kalle überreden krank zu feiern.
Dennoch bleibt Kalle für den Rest des Tages im Krankenaus. Seine drei Kollegen suchen ihn
Schließlich findet Franz Kalle vor der Tür. Kalle hockt an der Wand und raucht. „Na Gott sei Dank. Wir dachten schon du würdest jetzt in einer Ecke liegen“, sagt Franz. Kalle zieht nochmal an der Zigarette. „Keine Sorge, ich brauchte nur mal zwei Minuten für mich“, erklärt Kalle. „Seit wann rauchst du wieder?“ fragt der Alte erstaunt. Kalle zieht nochmal und schüttelt den Kopf. Er nimmt den Kopf auf die Brust und murmelt weinend: „Eigentlich gar nicht. Das ist euch offenbar nicht aufgefallen. Seit hier so viel los ist und er tot ist, hab ich nochmal zur Zigarette gegriffen. (Er drückt die Zigarette aus und atmet den letzten Rest der Zigarette aus). Ihr habt eigentlich ja schon Recht, dass mir das alles im Moment ziemlich an die Nieren geht. Ich hab gedacht, je mehr ich arbeite, desto weniger tut es weh, dass er weg ist. Aber ganz im Gegenteil. Es fühlt sich nur noch schlimmer an. Ich hab so eine leere in mir. Ich hab gedacht, wenn ich unter Kollegen bin, unter Menschen bin würde es besser gehen, aber das tut es nicht. Deswegen hab ich mich sooft auch zurückgezogen und geraucht. Danach ging es ein bisschen besser.“ „Und das Rauchen hat auch den Vorteil, dass du dein Hungergefühl damit unterdrückst“, erkennt der Kardiologe. Kalle nickt bedrückt. „Wenn ich was gegessen hab, weil ich wusste dass ich muss, hat es halt fürchterlich wehgetan“, erklärt der Internist. „Hey guck mich mal an. Warum hast du denn nichts gesagt, dass dir im Moment alles so nahe geht?“; fragt Franz. Kalle nimmt den Kopf wieder auf den Bauch. „Ach dann hätte es doch auch wieder nur geheißen: ‚Der Mann ist schon so lange Arzt, der muss das doch wegstecken können, wenn jemand stirbt‘“, sagt er. „Ach Kalle, weißt du warum deine Patienten und die Kollegen dich so schätzen?“ Kalle schüttelt den Kopf. Franz erklärt: „Der Österreicher hat vollkommen Recht. Du bist ein Mensch. Schon immer. Du bist immer Mensch geblieben. Ich hab mir sagen lassen, dass du als Assistenzarzt hier schon großes Ansehen genossen hast, weil du immer Mensch warst. Und das bis zum heutigen Tage.“ „Ach das sind andere auch“, meint Kalle. „Nein. Nicht so wie du. Aber Mensch sein heißt eben auch, dass du selbst auf dich Acht geben darfst und musst. Du darfst nicht zerbrechen unter deiner Last. Du gönnst dir keine Ruhe nach dem vielleicht schlimmsten Tag deines Lebens. Der einzige der von dir verlangt, wie bisher hier weiter zu machen, ohne erstmal mit dem Tod deines Bruders fertig zu werden, bist du selbst.“, meint Franz.