Der Verfall
"Es ist ein langsamer Prozess des Verfalls," hatte mein Vater vor einigen Monaten zu mir gesagt, "Ein Verfall, der heute begonnen hat und mit dem Tod enden wird. Der Tod kommt selten plötzlich."
Aber wer kann das glauben, besonders wenn es die eigene Oma betrifft? Noch dazu, wenn sie doch bis über ihr 90zigstes Lebensjahr hinaus immer rüstig und charakterstark war? Doch von einem auf den anderen Tag war alles anders. Plötzlich konnte sie nicht mehr aufstehen, dann nicht mehr alleine essen, und schließlich nicht mehr denken.
Ich sah den Prozess; den Prozess des Verfalls. Und ich konnte nichts dagegen tun.
Diese Oma ist meine einzige Oma. Ihr Mann ist schon vor meiner Geburt gestorben und meine anderen beiden Großeltern haben sich sehr früh mit Rattengift das Leben genommen. Meine Oma ist also das einzige Verbindungsstück zu meiner familiären Vergangenheit.
Bald kam meine Oma ins Altersheim.
Es kamen viele gute Tage, an denen sie wie früher war.Und ich dachte bei mir: "Wir haben den Tod überlistet. Der Prozess wurde rückgängig gemacht."
Doch wie der Name "Prozess" bereits besagt, ist dies ein ständig vorrückender Ablauf, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Als ich meine Oma heute besuchte, wurde mir das alles wieder klar. Die guten Tage waren nur Lichtblicke im Dunkeln gewesen. Mit trüben und verständnislosen Augen blickte sie mich an, wenn ich versuchte sie zu unterhalten.
Als ich wieder in mein Auto stieg, war ich verzweifelt.
"Wann kommt der Tod?"
Diese Frage stellte ich mir immer wieder. Ich konnte nun nicht nach Hause. Ich trat aufs Gaspedal und verlies die Stadt. "Warum habe ich das Leben, während es ihr entschwindet?" fragte ich mich. Die Tatsache, dass sie schon mehr als 70 Jahre länger gelebt hatte, war für mich keine befriedigende Antwort. Warum sollte ich auch plötzlich eine gesetzmäßige Gerechtigkeit akzeptieren, wenn doch die ganze Welt voller Ungerechtigkeit war?
Aprubt hielt ich an, um den farbenfrohen Untergang der leuchtenden Sonne zu betrachten. Ich wollte Teil an etwas Unendlichem sein. An etwas, dass immer wiederkehrte; als mir plötzlich klar wurde, dass selbst die Sonne eines Tages explodieren wird.