Der Venusbecher
Vor sechs Wochen, an einem Samstagmorgen, wollte ich gerade Bergfelds EDEKA-Laden betreten um Brötchen und Zeitungen zu kaufen, als mir mein Freund Siggi in die Arme lief. Er verließ soeben den Laden, eine Plastiktüte in jeder Hand.
„Moin Siggi! Na, so früh schon eingekauft? Zeig mal, was hast du Schönes in der Tüte?“
Ich griff nach einer der beiden Einkaufstaschen, und bemerkte sofort Siggis verlegenen Gesichtsausdruck, als ich in die Plastiktasche hineinsah.
Joghurt.
Die Einkaufstüte war gefüllt mit gut einem Dutzend Joghurttöpfchen, Marke „Venusbecher“. Ich kannte sie aus der Werbung. Leuchtend rot mit großer, weißer Aufschrift: "Venusbecher", darunter etwas kleiner: "macht Lust". Zwei fast nackte Frauen mit sinnlichem Blick sind darauf abgebildet. Und der Text: „Eine Mischung von ausgewählten, stimulierenden Ingredienzen und zartem Joghurt ermöglicht das neue Lusterlebnis durch den Venusbecher“.
Nun muss ich sagen, dass Siggi alles andere als ein Joghurt- oder gar Müsliesser ist. Ein gestandener Mann, anfang Fünfzig, kräftige Statur, um nicht zu sagen: dick. Ein Fleischfresser, wie er im Buche steht.
Es kam mir nicht in den Sinn, dass er die Joghurtbecher für sich gekauft haben könnte. Ich vermutete gleich, sie seien für Ulrike, Siggis Ehefrau. Auch sie eine Frau von Statur. Rubens hätte seine Freude an ihr gehabt. Vielleicht auch schon nicht mehr.
Wahrscheinlich wollte sie wieder eine Diät beginnen, um diese nach einigen Tagen, frustriert wegen der Wirkungslosigkeit, wieder abzubrechen. Ich hatte mit meiner Vermutung recht. Fast, jedenfalls.
„Na, will Ulrike wieder diäten, Siggi?“
Er sah sich verlegen um, seine ohnehin dicken und roten Wangen färbten sich noch ein wenig dunkler. Er räusperte sich und erwiderte leise: „Nein, keine Diät. Es ist so, Jörg: wir sind seit 26 Jahren verheiratet.“
„Ja, weiß ich, ich soll bei eurer Silberhochzeit dabeigewesen sein, hat man mir zwei Tage später erzählt!“
Siggi schmunzelte.
„Ja, warst schön voll, den Abend. Also, weißt du, nach 26 Jahren Ehe, da wird so manches... Will sagen, es ist viel Gewohnheit, Langeweile kommt auf. Samstagabend – frisch gebadet, wenn überhaupt. Verstehst du?“
Ich verstand. Aber noch nicht ganz.
„Naja, und dann hab ich neulich in der „Praline“...“
Siggi war schon immer ein Freund guter, erotischer Literatur gewesen. „...so einen Artikel gelesen: „Frischen Sie ihr Sexleben auf!“. Und da stand drin, dass es einen enormen Lustgewinn bringt, wenn man seine Partnerin, also meine Ulrike, zum Beispiel mit Joghurt... also, sie eincremt, und dann... Verstehst du, Jörg?“
Ja, jetzt verstand ich.
Die Vorstellung, wie Siggi seine Ulrike von oben bis unten mit Joghurt einschmiert und dann abschlabbert, hat mich fast um den Verstand gebracht. Es war ein kräftiger Biss auf die Zunge erforderlich, um nicht laut loszuplatzen, dort, vor dem Eingang zum Supermarkt.
„Jaja, verstehe Siggi, da gabs mal so ‘nen Film... Du meinst,
das klappt? Und - was sagt Ulrike dazu?“ Siggi zog die Stirn in Falten.
„Sie weiß es noch gar nicht, hab nichts davon erzählt. Heut‘ abend, vielleicht...“
„Na, da bin ich ja gespannt, Siggi! Nächsten Donnerstag beim Doppelkopf musst du mir unbedingt erzählen, wie es war!“
„Klar, Jörg. Aber erzähl‘ bitte den anderen nichts davon, das wäre mir peinlich, verstehst du?“
„Mach dir keine Sorgen, Siggi. Ich schweige, Ehrensache.“
Wir verabschiedeten uns. Kopfschüttelnd und lächelnd begab ich mich in den EDEKA-Markt, um die Brötchen fürs Wochenende zu kaufen.
Am darauffolgenden Donnerstag fehlte Siggi bei unserem Doppelkopfabend. Auch an den nächsten Donnerstagen mussten wir unseren vierten Mann unter den anderen Kneipengästen aussuchen. Mir war klar, was das bedeutete. Siggi hatte mit dem Wiederbelebungsversuch an seinem halbtoten Sexualleben eine Katastrophe ausgelöst. Dergestalt, dass Ulrike, angewidert von seinem Ansinnen, ihm jeglichen Umgang mit seinen Freunden verboten hatte, vermutend, dass wir ihn auf jene abstruse Idee gebracht hätten. Mehrmals hatte ich den Telefonhörer in der Hand, wollte Siggi anrufen, um zu erfahren, was geschehen sei. Die Angst vor der Wahrheit und vor Ulrike ließ mich den Hörer jedesmal stumm wieder auflegen.
Heute morgen habe ich Siggi wiedergesehen.
Ich bin im EDEKA-Laden an ihm vorbeigegangen, habe ihn nicht auf Anhieb erkannt. Sein „Hey Jörg, kennst du mich nicht mehr?“
ließ mich verharren und zu ihm umdrehen.
Das war nicht mehr mein Siggi.
Blass die Wangen, schmal das Gesicht. Der Hemdkragen schlotterte um seinen ehemaligen Stiernacken. In den Hosengurt hatte er zusätzlich drei Löcher eingestanzt, damit dieser die viel zu weite Hose nicht rutschen ließ.
Das Schlimmste: seine Augen, die immer so fröhlich glänzten, besonders, wenn sie eines fetten Eisbeines mit Sauerkraut, einer großen Schlachteplatte oder einer Riesenportion Grünkohl mit Bauchspeck und Bregenwurst, oder eines großen, vollen Bierglases ansichtig wurden - sie hatten ihren Glanz verloren.
„Mein Gott, Siggi! Wie siehst du aus! Was ist passiert? Bist du krank? Wir haben uns um dich gesorgt, Junge!“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein nein, nicht krank. Mir geht es gut, soweit. Macht euch keine Sorgen...!“
Verstohlen wischte Siggi sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Erst jetzt bemerkte ich den Inhalt seines Einkaufswagens: Dutzende von „Venusbechern“ verschiedenen Geschmacks: Schwarze Johannisbeere, Kirsche, Aprikose und andere. Von allen Bechern lächelten mich die beiden halbnackten Damen verheißungsvoll an. Dazu Konfitüren, Marmeladen, Kefir, Quark, Sahne und Buttercremeschnittchen. Außerdem hatte Siggi Verschiedenes an Obst und Gemüse eingekauft: Karotten, Maiskolben, Gurken, Zucchini, Bananen, Weintrauben. Siggi hatte noch nie gerne Obst und Gemüse gegessen. Aber immerhin: Es lagen auch einige Dosen Bier in seinem Wagen.
„Sag mal, bist du unter die Vegetarier gegangen, Siggi?“
Er begann, zu schluchzen, Tränen rollten über seine eingefallenen Wangen.
„Ulrike. Der Venusbecher. Weißt du noch? Der Zeitungsartikel...“
Ich wüsste noch, sagte ich und drängte ihn in eine ruhige Ecke des Supermarktes, wo er ungestört erzählen konnte.
„Als ich ihr davon erzählte, an dem Abend, war sie zunächst außer
sich vor Entrüstung. Hat mich angesehen wie einen Triebtäter, einen Kinderschänder, einen Perversen, wie ich so dasaß, im Bett, neben ihr, den Joghurtbecher in der Hand.
Ich wollte mich gerade zurückziehen, so peinlich, Jörg, so peinlich war mir das! Ich kam mir vor wie ein altes Ferkel. Da sagt sie plötzlich, wenn ich schon da wäre mit dem Joghurt, solle ich mal machen, dieses eine Mal. Und dann hat sie ihr Nachthemd ein wenig aufgeknöpft...“
Und ihm ihre riesigen Brüste präsentiert.
„...ich hab sie dann ganz vorsichtig mit Heidelbeerjoghurt...“
Eingeschmiert. Vermutlich jeweils eine der ganzen Früchte auf ihren Brustwarzen positioniert. Und dann alles abgelutscht. Die ganzen Früchte vorsichtig zwischen Zunge und Gaumen zerdrückt, so, dass Ulrikes Brustwarzen dabei zärtlich massiert wurden.
„...als ich den ganzen Joghurt dann... naja... abgeleckt hatte, hat sie
mich ganz merkwürdig angesehen. Und hat gefragt, ob ich noch mehr Joghurt gekauft hätte. Und dann hat sie ihr Nachthemd...“
Ganz aufgeknöpft. Langsam, Knopf für Knopf.
„Als ich mit den anderen Joghurtbechern aus der Küche zurückkam, lag sie splitternackt vor mir. Wie schon seit zehn oder mehr Jahren nicht mehr, Jörg. Und ihre Blicke, und sie hat so merkwürdig geatmet. Und gesagt ich solle sie...“
Von oben bis unten mit Joghurt einschmieren. Überall. Auch da. Und da. Und sogar: da!
„...als ich dann alles abgeleckt hatte, war sie fast bewusstlos, und mir war hundeelend. Ich hatte mir den Magen verdorben, Jörg.
Am folgenden Sonntagmorgen konnte ich zum Frühstück nichts essen, und du weißt ja, ich ess‘ zum Frühstück so gerne Bratkartoffeln mit Rührei. Und dann, Jörg, am Sonntagabend...“
Sein Schluchzen wurde lauter.
Ich konnte mir schon vorstellen, was ihn Sonntagabend erwartet hatte.
„...nach der Tagesschau sagte sie, wir wollen heute mal früher zu Bett gehen. Sie ginge schon mal vor. Ich solle gleich nachkommen.
Und ich solle ein paar Gläser Konfitüre aus dem Keller mitbringen.“
Jetzt konnte der arme Kerl nicht mehr an sich halten. Er fiel mir um den Hals und heulte laut los. Seit jenem Abend sei es immer schlimmer geworden. Er hätte seit dem keine normale Mahlzeit mehr zu sich genommen. Ulrike sei sein Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch geworden. Und manchmal seine Kaffe- und Kuchentafel. Ihre Brüste, ihr Bauch, ihr Gesäß, ihre Oberschenkel und ihre rasierten Achselhöhlen seien seine Teller, ihr Bauchnabel und ihre Schamlippen seither Tassen und Gläser für ihn. Seine Zunge sei seitdem Messer, Gabel und Löffel. Er sehne sich so nach einem saftigen Steak mit Pommes Frites, und müsse Buttercreme aus Ulrikes Kniekehlen schlecken. Wenn er den Honig von ihren Pobacken leckt, denkt er an knusprige Grillhähnchen. Trinkt er das Bier lauwarm und in kleinen Schlucken aus ihrem Bauchnabel, erinnert er sich der schönen Doppelkopfabende in unserer Kneipe. Zum Frühstück bekommt er Obst und Gemüse präsentiert. Roh, aber garniert mit nicht auszusprechenden Säften. Und er müsse die Karotten, Bananen, Weintrauben und das andere Zeug vorher selbst in das von Ulrike dafür vorgesehene, feuchte Schälchen einlegen, um sie anschließend mit Lippen und Zunge wieder herauszuholen. Seit sechs Wochen Rohkost, drei-bis viermal täglich. Er sei ein Wrack, schluchzte er.
Armer Siggi.
Ich konnte ihm nicht viel mit auf den Weg geben, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, wünschte ihm alles Gute. Er möge den Kopf hochhalten. Ich bat ihn, Ulrike zu grüßen. Traurig sah ich ihm hinterher, wie er den mit Obst, Gemüse und Milchprodukten gefüllten Einkaufswagen zur Kasse schob. „Das hast du nun von den Auswüchsen der Pressefreiheit, Siggi“ dachte ich.
Ich besorgte noch eben das, was meine Frau mir zu kaufen aufgetragen hatte. Kartoffeln, Rinderfilet, Keniabohnen. Sie will morgen Abend ein schönes Essen anlässlich unseres zweiundzwanzigsten Hochzeitstages zubereiten. Zum Dessert will sie eine Beerencreme anrühren. Mit Joghurt. Als ich vor dem großen, übervollen Joghurtregal stand, unentschlossen, welche Marke ich nehmen solle, lächelten mich die beiden hübschen Mädchen von den Venusbechern an. Zwei der Becher legte ich in meinen Einkaufswagen, für die Beerencreme.
Und dann nochmal acht Stück dazu.