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Der velorene Sieg
DER VERLORENE SIEG
Prolog
„Fiveteen-Thirty!“ Die imposante prägende Stimme des Schiedsrichters hallte durch den Centre Court von Wimbledon, jedes Husten, jeder Windhauch war wie ein Vulkanausbruch, wie eine Explosion. Die Stille, die Bedeutung dieses Spieles war bis in die hintersten Ecken des Stadions zu spüren. Nichts würde auf die später folgende Massenhysterie hinweisen, die Schreie, das Weinen.
„Fiveteen-Forty! Two Matchballs Mr. Steller!” Die Leute klatschten, doch eine kleine Handbewegung des Schiedsrichters ließ sie verstummen. Einige Zuschauer schrieen noch etwas unverständliches, was nach „Run, Joachim, run!“ klang.
„Quiet please! Mr. Mirnyi, you serve!”
„Mirnyi tippt den Ball auf. Einmal, zweimal. Er wischt sich den Schweiß von den Händen, von der Stirn. Noch einmal tippt der Ball auf. Mirnyi schaut zu Steller, atmet durch und schlägt auf. Riskanter Stoppball, Mirnyi muss ans Netz, versucht einen Crossover, doch Steller ist da! Netz!“
„Thirty-Forty! Matchball Mr. Steller! Quiet please!”
“Puh, Durchatmen ist angesagt. Das hätte es sein können. Wieder Aufschlag Mirnyi. Er tippt den Ball nur einmal auf, schaut, Aufschlag. Steller nimmt ihn gut, Return auf die Rückhandseite von Mirnyi, doch was tut er? Steller geht ans Netz! Mirnyi versucht Lob, natürlich! Abgewehrt! Mirnyi auch ans Netz, spielt volley, Lob von Steller, Mirnyi läuft, der passt! Auf die Grundlinie, er gewinnt Wimbledon!“
„Game, Set and Match Steller! One-Six, Three-Six, Seven-Six, Seven-Six and Six-Four, Gratulations Mr. Steller!”
„Joachim Steller gewinnt! Er sackt auf den Boden, hält sich die Arme vor den Kopf, ich kann es nicht glauben! Was für ein Spiel! Steller liegt immer noch am Boden, er steht nicht mehr auf. Die Leute klatschen, geben Standingovations. Da stimmt etwas nicht. Jetzt kommt ein Balljunge, dreht ihn vorsichtig um, hebt den Arm. Oh mein Gott, was ist passiert, ich kann es ihnen nicht sagen. Ärzte kommen, eine Trage. Die Zuschauer setzen sich wieder, Getuschel, Gemurmel. Der Schiedsrichter steht auf, geht zu Steller. Oh mein Gott!“
Eine Person lächelt und steht auf.
I
„Morgen!“ Obwohl es Montag war, schien Inspektor Grant mehr als glücklich zu sein.
„Morgen!?“ Etwas verwundert grüßte seine Chefin und Partnerin Albertz zurück. „Warum so glücklich?“
„Nun...“, begann Grant herauszögernd, „England hat gewonnen. Und, ja...“
„Was?“
„Nun, gegen Deutschland. Fünf zu zwei.“
„Na ja. War ja nur ein Freundschaftsspiel“, konterte sie abweisend, doch in Wirklichkeit ärgerte sie sich schrecklich über die krassen Abwehrfehler ihrer Mannschaft.
„Das sagen die Deutschen immer. Übrigens, Sie haben mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie vor drei Jahren nach London gezogen sind und jetzt bei New Scotland Yard arbeiten.“
„Das ist eine lange Geschichte. Und...“
„Och, wissen Sie, ich habe gerade recht wenig zu tun, und mein Kaffee ist noch schön heiß.“
„Dann trinken Sie ihn schnell, bevor er kalt wird.“
„Wir könnten uns ja mal außerhalb der Arbeit, vielleicht im Steven’s treffen.“
„Sie wollen mich doch nur flach legen.“
„Hören Sie mal, ich bin doch kein Casanova!“
„Nun, bei Scotland Yard spricht sich viel herum. Ihre fünf Ehen sollen alle wegen Ausrutscher Ihrerseits vor dem Scheidungsrichter gelandet sein. Und um mal wieder zum Ursprung des Gespräches zurückzukehren: Ich glaube, dass ein gewisser Erfolg bei einem gewissen Turnier in einem gewissen Land sehr viel wichtiger ist, als so ein lächerliches Freundschaftsspiel, bei dem bestenfalls die C-Elf der Deutschen aufgestellt worden ist. Und der Sieger ist ein Spieler aus einem gewissen Land. Sie verstehen mich? Abgesehen davon habe ich kein Vertrauen mehr zu Männern.“
„Pah.“
„Wann hat eigentlich der letzte Brite Wimbledon gewonnen?“
„Wen interessiert schon Tennis?“ Albertz überging die alles andere als ernstgemeinte Frage und beantwortete die ihre selbst.
„1966. Der Steller war schon klasse gestern. Hat einen 0:2 Rückstand nach Sätzen noch umgebogen.“
„Wo wir gerade bei dem Steller sind... Haben Sie gelesen? Große Schlagzeile:“, Grant holte die London Times aus seiner Tasche, „Der verlorene Sieg - Überragender Steller stirbt nach Wimbledon-Sieg.’ Tragisch kann ich da nur sagen.“
„Überragend war er. Wirklich tragisch. Wäre eine Bereicherung für die Davis-Cup-Mannschaft gewesen.“
„Es soll ja kein natürlicher Tod gewesen sein, steht hier. Die Polizeidirektion in Wimbledon-Arsenal hat ein wenig Vorarbeit geleistet. Ich hoffe ja nicht, dass wir...“
Die Tür wurde mit einem Knall gegen die Wand geschmettert.
„Morgen meine Herren! ... und Damen...“ Der Mann schien vom Anblick Albertz’ nicht sehr erfreut zu sein.
„Guten Morgen Mr. Owen“, grüßte sie freundlich, aber gequält.
„Keine Schleimereien, Ms. Albertz.“
„Ich habe doch nur...“
„Ruhe. Ich denke, Sie haben alle den Artikel in der Times gelesen. Eine äußerst, nun, wie soll ich sa-gen...“
„Tragische Geschichte.“
„Danke, Mr. Grant. Da Sie eine deutsche Partnerin in Ihren Reihen haben, werden Sie und...“
„Er ist mein Partner, und ich bin sein Vorgesetzter, Mr. Owen.“
„Und ich bin Ihr Vorgesetzter und ich sage, dass Sie Ihre deutsche Klappe halten sollen!“
„Das muss ich mir nicht gefallen lassen!“
Doch Mr. Owen ging gar nicht weiter darauf ein.
„Sie werden den Fall übernehmen, Mr. Grant. Ich, die deutsche Polizei, und natürlich die Medien wollen eine rasche Aufklärung. Viel Erfolg.“
Genau so schnell wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Albertz war in ihren Stuhl gesunken, Hass und Trauer standen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie schüttelte ihren Kopf und war den Tränen nahe.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Madeleine. Mr. Owen war mit sechszehn Soldat im Zweiten Weltkrieg und hat bei deutschen Luftangriffen auf London seine Eltern verloren. Sie müssen ihn verstehen.“
„Ich habe mit dem Krieg doch gar nichts zu tun!“
„Ich weiß. So sind wir Briten nun mal. Nachtragend. Aber ich kann Sie trösten. Owen ist sechsundsiebzig. Er wird sein Amt als Chef von New Scotland Yard London bald niederlegen. Seine Sekretärin sagt, er plane seinen Abgang im nächsten Jahr.“
„Ich kann es nur hoffen.“ Auf einmal rappelte sie sich wieder auf, die Tränen waren wie verschwunden, und ihr typisches Lächeln bedeckte ihr Gesicht als wäre nichts gewesen.
„So! Wo wollen wir anfangen?“
„Ich rufe Mr. Oliver an. Er soll uns sagen, was er schon gemacht hat.“
„Mach das. Ich habe noch ein paar Sachen auf dem Schreibtisch liegen, die gemacht werden müssen.“ Madeleine wendete sich ihren anderen Fällen zu, während Grant sich dem Telefon zuwendete.
„Sergeant Oliver?“
„Ja?“
„Inspektor Grant hier. New Scotland Yard. Es geht um die Tennisspieler-Sache.”
„Was wollen Sie von mir wissen, Sir?“
„Ich hörte, Sie hätten schon einiges ermittelt?“
„Ja. Das heißt, Spurensicherung und solche Gedönse. Obduktion hab ich auch gedeichselt. Fragen Sie bei Mr. O’Brian. Außerdem können Sie einige Leute als Mörder ausschließen, Sir. Alle Tennisspieler gegen die dieser... äh... Steller gewonnen hat, sind bereits abgezwitschert. Mindestens zwei Tage vorher.“
„Noch etwas, Sergeant?“
„Mh... warten Sie, Sir, ich habe mir noch was aufgeschrieben... Jep. Seine ganze Verwandtenbagage, also Cousin, Onkel und was weiß ich nicht alles, sind ebenfalls unwahrscheinlich, weil sie alle in anderen Städten wohnen und den Entseelten seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Das glaube ich denen auch, Sir.“
„Das war nett von Ihnen, Mr. Oliver. Ich danke.“
„Null Problemo, Sir.“
II
Dieser Mann war, um es noch einigermaßen nett zu umschreiben, die reinste Vogelscheuche wie aus dem Bilderbuch. Wenn man von den Pickeln, mit Haaren überwucherten Warzen und der vermoderten Hornbrille absieht, erkennt man die wahre Schönheit dieses Mannes: Seine verklebten schulterlangen Haare. Hätte man ihn in ein Kürbisfeld gestellt, wäre die Rabenplage für die nächsten zehn Generationen aus den Köpfen der Farmern wie verbannt gewesen.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, rief seine Stimme.
„Indem Sie sich eine Maske über ihren Kopf stülpen.“
„Bitte, Peter...“ Madeleine Albertz versuchte, ihren Kollegen zu besänftigen. Doch nicht nur sein Aussehen war unter aller Würde, sondern auch das Gehör schien wegen diesem beleidigt nicht mehr richtig zu funktionieren.
„Mr. O’Brian, wir sind von New Scotland Yard London. Mr. Oliver von der Polizeidirektion Wimbledon-Arsenal hat Ihnen den Auftrag gegeben, einen Mr. Joachim Steller aus Deutschland zu obduzieren.“
„Ja, ja, hat er. Eine...“
„Tragische Geschichte“, ergänzte Grant.
„Ja. Wimbledon gewonnen und doch alles verloren.“
„Woran ist er gestorben?“ Der Chief Inspektor ergriff wieder das Wort. O’Brian ging zu seinem Schreibtisch und plumpste auf seinen Ledersessel. Den Ermittlern bot er einen vermoderten Sitz an, während er STELLER, MR. JOACHIM eingab.
„Überdosis Atropin“, sagte der Pathologe während er sich in seinen verlausten Bart fasste. „ein sehr giftiges Alkaloid, das in den Früchten von Tollkirsche und Stechapfel vorhanden ist. Es wirkt auf das Zentralnervensystem und auf die Muskelzellen, wo es verhindert, dass der Überträgerstoff Acetylcholin wirksam werden kann. In geringer Dosierung wird Atropin daher in der Augenheilkunde angewandt“, ergänzte er.
„Es war also kein natürlicher Tod.“
„Selbstverständlich. Sonst wären Sie doch nicht hier.“
„Wie hat er das Gift zu sich genommen?“
„Atropin ist ein weiß-grünes Pulver. Entweder er hat es pur zu sich genommen oder in verdünnter Weise.“
„Wie schnell wirkt Atropin?“
„Je nach der Stärke der Abwehrkräfte des Opfers. So zwischen fünf und zehn Minuten.“ O’Brian musste das gefunden haben, nachdem er suchte, denn er nahm die Hand wieder aus dem Bart und schnippte etwas in den Mülleimer.
„Ms. Albertz! Das heißt, es muss zu sehen sein, wie und wann genau er das Gift genommen hat! Das Match ist doch live aufgenommen worden.“ Grant freute sich so, als ob der Fall schon geklärt wäre.
„Mh.“
„Pulver wäre aufgefallen. Mr. O’Brian, könnte er das Gift mit seinem Getränk eingenommen haben?“
„Wie gesagt, das wäre sehr gut möglich gewesen.“
„Könnte es Selbstmord gewesen sein? Rein theoretisch.“
„Ich würde sagen nein. Zumal Mr. Steller tatsächlich eine Augenkrankheit hatte. Pupillenverengung. Er war also gar nicht wettbewerbstauglich.“
„Was?“
„Sie haben richtig gehört. Seine Sichtweite betrug ohne dieses Mittel nur knapp fünfzig Zentimeter und der Blickwinkel höchstens zwanzig Grad. Ich habe allerdings herausgefunden, dass er das Gift exakt eine Stunde zu früh genommen hat. Das kann man feststellen.“
„Was meinen Sie damit?“
„Wenn Atropin schon zehn Minuten früher eingenommen wird als man soll, ist das tödlich. Doch da es eine Ü-berdosis war, ist es völlig unerheblich, wann und wie er das Gift eingenommen hat.“
„Aber dann wäre Selbstmord doch umso einleuchtender!“
„Das sehe ich nicht so. Atropin ist ein Gift, das sehr schmerzhaft ist. Das heißt, das Opfer erstickt. Allerdings so, dass er zwischenzeitlich wieder Luft bekommt und dann wieder nicht. Das liegt an den Muskelzuckungen. Die Luftröhre schließt und öffnet sich in regelmäßigen Abständen, bis das Schließen die Überhand gewinnt. Der Erstickungsprozess kann, wie gesagt, fünf bis zehn Minuten dauern, aber auch fünfzehn oder zwanzig. Schlafmittel oder Erschießen wäre erheblich schmerzfreier.“ Er setzte ein Lächeln auf, was nach kurzer Zeit wieder verschwand. „Außerdem: Weshalb sollte sich ein Mensch töten, wenn er kurz vor seinem größten Triumph seines Lebens steht? Der Mörder wollte also auf Nummer Sicher gehen.“
Inspektor Grant versuchte über das Aussehen des Pathologen hinwegzusehen – was praktisch unmöglich war, denn der Gestank führte immer wieder zu den dicken einternden Pickeln– und das Gespräch weiter zu verfolgen.
„Könnte es nicht sein, dass der Trainer oder sonst eine nahstehende Person das Atropin vom Mann-schaftsarzt bekommen oder geklaut hat und Steller es in die Flasche gemischt hat?“
„Der Arzt hätte dem Trainer niemals ein solch hochgefährliches Gift gegeben, Mr. Grant, aber ich be-zweifele, dass er überhaupt so eines besitzt, denn Atropin wird nur denen gegeben, die unter einer Augenkrankheit leiden. Der Apotheker beziehungsweise der Arzt muss das Mittel erst bei einem Toxikologen anfordern“, erwiderte O’Brian als wäre die Antwort selbstverständlich, „es war ein Ballwechsel zu Ende, und Mr. Steller bestand auf eine Pause, aus irgendeinem Grund war er der Meinung, es sei jetzt Zeit, seine Medizin einzunehmen. Doch dies war leider ein tödlicher Irrtum.“
„Angenommen, ein Toxikologe hätte keine Moral – würde er jedem Menschen dieses Gift aushändigen?“ Der Inspektor fragte mit einem unnötigen Nachdruck, der die Leichen in den Eisfächern erschüttern ließ.
„Wenn er das Gift hätte: Leider ja. Normalerweise gibt er es nur heraus, wenn ein ärztlicher Artest vorliegt. Illegales Aushändigen von tödlichen Giften wird in Großbritannien mit zwanzig Jahren Haft bestraft.“ Schuppen rieselten aus seinen Haaren, als er den Kopf schüttelte.
„Welche Toxikologen in Großbritannien und Deutschland haben dieses Atropin?“
„Das kann ich Ihnen nicht aus dem Stehgreif sagen. Aber ich kann Sie anrufen.“
„Vielen Dank Mr. O’Brian. Verbleiben wir so.“
III
Am nächsten Tag trafen Sie sich nicht im Büro, um ihre Ermittlungen fortzuführen, sondern direkt auf den Trainingsplätzen von Wimbledon. Chief Inspektor Albertz hatte auf der Homepage des Deutschen Tennisbundes ausfindig gemacht, dass sich die deutschen Spieler und Trainer trotz des Todes ihres Wimbledonsiegers noch im Trainingslager in Wimbledon aufhalten sollen.
„Können Sie deutsch?“, wollte Madeleine wissen. „Wenn nicht, haben Sie bei diesem Fall ein Problem fürchte ich.“
„Ein bisschen. Ich verstehe besser als ich spreche.“
Als sie durch das vergoldete Tor, auf dem ‚All England Championsships of Wimbledon’ stand, schritten, hörten sie Schreie, die wuchtigen Schläge und das Auftippen der Bälle. „Quinze-quatorze!“, rief ein Mann, „out!“ ein anderer, und jemand stellte fest, dass ein Spieler einen „fault!“ gemacht hatte. Die Polizisten folgten den wenigen deutschen Rufen auf den hinteren Plätzen der Anlage.
„Mensch Junge, geh’ ans Netz! Bin zwar kein Fan von Serve&Volley, aber auf Rasen musst du einfach offensiver spielen!“
„Aber, aber, Herr Ludwig! Ich dachte, Sie würden hier für die US-Open trainieren!“ Albertz und Grant gingen gerade durch die Tür, die zum Court führte.
„Wer sind Sie? Von der Presse? Ich gebe keine Interviews. Ich bitte Sie, verschwinden Sie.“
„Das habe ich eigentlich nicht vor. New Scotland Yard London. Mein Name ist Madeleine Albertz. Mein Kollege heißt Peter Grant.“
„New Scotland Yard London? Sie können sehr gut, nein, perfekt, Deutsch. Haben Sie in Deutschland gearbeitet?“ Er sagte dies alles ohne aufzuhören, zu spielen.
„Nein.“ Sie lächelte. „Ich bin Deutsche.“
„Tja. So kann man sich irren.“ Er hämmerte einen Smash ins Netz und wendete sich den Ermittlern zu. „Sicherlich sind Sie wegen Joachim hier.“
„Genau. Sagen Sie, wie gut kannten Sie ihn?“
„Wenn ich ihn nur während den Grands Slams betreut hätte, und das ist mein Job als Teamchef von der Davis-Cup-Mannschaft, die Spieler zu betreuen, könnte ich über ihn kaum etwas sagen, außer über seine Schlaghand. Aber ich war auch sein Privat- und Mannschaftstrainer beim TC Eisenach. Man kann sogar sagen, dass ich mit ihm befreundet war, ich kannte ihn seit knapp sechs Jahren. Das war als er sein Sportabitur gemacht hat und zum TC Eisenach gekommen ist.“
„Wie tief ging ihre Freundschaft?“
„Recht weit. Er hat mir seine Freundinnen immer vorgestellt. Das werte ich sehr hoch.“ Diese Antwort schien ihm einige Kraft gekostet zu haben.
„Was für einen Grund hätte der Mörder gehabt, ihn zu töten?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er war ein lieber Junge. Gute Manieren, höflich, sehr sozial. Das einzige, was man hätte bemängeln können, das war das ständige Wechseln seiner Freundinnen. Alle zwei Wochen ne Neue.“
„Nun gut, Joachim war vierundzwanzig.“
„In dem Alter war ich schon verheiratet, und mit meiner Frau bin ich immer noch zusammen. Fünf-unddreißig Jahre.“
„Hatte er Feinde?“
„Keinen, den ich kannte. Er war ja so charmant.“
„Wer war der Arzt von Joachim?“
„Dr. Karsten Hubertus aus Karlsruhe. Die Nummer kann ich ihnen aber nicht sagen.“
„Vielen Dank, Herr Ludwig.“
„Es war mir ein Vergnügen.“ Ludwig drehte sich wieder um, und rief seinem Schützling zu, er solle jetzt endlich mal ans Netz.
IV
Der nächste Morgen war mal wieder einer von den Tagen, an denen sich Inspektor Grant lustige Notlügen ausdachte, weshalb er zu spät kam. In der Toilette eingesperrt und Schlüssel aus Versehen heruntergespült, Ball hatte Fensterscheibe zerstört und er musste die Versicherung anrufen. Diesmal war es die Tochter, die er zum Kindergarten nach Southend-on-the-Sea bringen musste. Dabei war seine Wohnung im neunten Stock, sodass gar kein Ball dort eine Scheibe zerstören kann, und eine Tochter hat er auch nicht. Doch Albertz lächelte nur. Heute kam er ganze siebzig Minuten zu spät.
„Heute hat Mr. Oliver mir die Unterlagen für die Spurensicherung gegeben“, sagte Madeleine nebenbei.
„Was Sie nicht sagen. Was steht drin?“
„Nichts spannendes. An allen fünf Trinkflaschen, Handtuch, Tasche und so weiter nur Fingerabdrücke von dem Toten, auch sonst keine verdächtigen Spuren. Außerdem habe ich noch weitere Recherchen angestellt.“
„Welche?“
„Der Arzt von Joachim in Karlsruhe hat mir erzählt, dass er die Medizin jeden Tag dreimal einnehmen musste. Um neun, um dreizehn und um siebzehn Uhr. Er wies mich auch noch einmal auf die Wichtigkeit hin, dass man Atropin äußerst pünktlich einnehmen sollte.“
„Hat die Vogelscheuche auch gesagt.“
„Genau. Und ich habe mir etwas überlegt. Das er das Atropin eine Stunde zu früh genommen hat, kann an der Zeitverschiebung liegen. Von Deutschland nach Großbritannien sind es minus eine Stunde.“
„Also Selbstverschulden.“
„Auch nicht. Stefan Kleinmeier, ein anderer deutscher Spieler und guter Freund von dem Toten, hat angerufen. Er berichtete mir, dass Joachim auf Grund seiner Krankheit eine Uhr brauchte. Seine war allerdings verschwunden. Da Kleinmeier selbst keine hatte, musste Steller sich eine ausleihen. Die verschwundene Uhr kam Kleinmeier mysteriös vor, deswegen rief er an.“
„Was ist mit der Uhr auf dem Centre Court?“
„Die wurde abgenommen, um die Spieler nicht zu verunsichern.“
„Hat ihm jemand eine Uhr gegeben?“
„Ja. Und Joachim meinte, auf der Uhr wäre die englische Zeit. Eine Stunde weniger als in Deutsch-land. Er dachte also, er hätte die Medizin um sechszehn Uhr englischer Zeit eingenommen, gleich siebzehn deutscher, die Zeit, wann er die Medizin einnehmen musste. Und dabei hat der Besitzer die Uhr nicht umgestellt. Also stand auf der Uhr die mitteleuropäische Zeit: eine Stunde, bevor er die Medizin hätte einnehmen dürfen.“
„Wem gehört diese Uhr?“
„Kann ich nicht sagen. Ich glaube, wir sollten uns mal das Video von dem Spiel anschauen.“
„Haben Sie das Spiel aufgezeichnet?“
„Natürlich.“
„Den Freund von Joachim, dieser... Kleinmeier, den sollten wir uns aber noch mal vornehmen.“
V
Dieses Mal war das Tor geschlossen, welches zu den Trainingsplätzen von Wimbledon führte. Sie klingelten an einer verchromten altmodischen, aber doch äußerst teuer aussehenden Eintonklingel, worauf ein noch älter aussehender Mann aus einem Häuschen kam.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Seine Augen schienen die Ermittler zu röntgen.
„Wir suchen einen Mr. Stefan Kleinmeier aus Deutschland“, sagte Inspektor Grant ohne den Mann anzuschauen. Der Mann blätterte in einigen Unterlagen.
„Ja, der ist hier. Haben Sie sich angemeldet?“
„Wir sind von der Polizei. New Scotland Yard London.”
„Darf ich Ihre Ausweise sehen. Ich glaube Ihnen, aber das muss sein, wissen Sie. Sicherheitsvorkehrungen. Mr. Kleinmeier ist auf Court vierundzwanzig.“ Sie zeigten ihre Ausweise, und das Tor öffnete sich. Grant konnte sich nicht verkneifen, zu fragen, weshalb das Tor ein Tag zuvor offen gewesen war, worauf der Mann verwundert und wütend zugleich in sein Häuschen rannte, jemanden anrief und anfing am Telefon wild herumzugestikulieren. Grant lächelte.
„Ach ja“, säuselte er, „er macht seine Arbeit mit äußerster Sorgfalt und Richtigkeit, und dann kommt so ein junger Mensch, der lieber ausschläft, als das Tor zu bewachen. Das würde mich auch auf die Palme bringen.“
„Da wissen Sie ja, wie ich mich fühlen muss, wenn Sie jeden Tag zu spät kommen.“
Sie gingen weiter. Madeleine fand es gut, dass die Courts durch Hecken voneinander abgetrennt waren. So konnte keiner spionieren, denn außer den deutschen Spielern mit ihren Trainern waren vor allem US-Amerikaner, Spanier und natürlich Briten hier, um sich für die US-Open vorzubereiten. Dies fand sie wiederum sinnlos, weil der Hartbelag aus New York ganz anders zu spielen ist, als der Rasen von Wimbledon. Sie gingen durch die Tür zum Court vierundzwanzig.
„Entschuldigen Sie bitte!“
Der Ballwechsel fand ein jähes Ende, als der junge Spieler, den Grant als Kleinmeier vermutete, vor Schreck aus allen Wolken fiel und den Filzball über die Hecken schlug.
„Wir sind von der Polizei, New Scotland Yard London.“ Sie zeigten zur Sicherheit ihre Ausweise. „Herr Kleinmeier, wir haben einige Fragen zu Joachim Steller.“ Der jüngere Mann kam auf sie zu und schnaufte wie eine alte Dampflokomotive.
„Ja, bitte.“ Auch der Trainer kam zu ihnen.
„Ich bin Madeleine Albertz, Sie hatten mich angerufen.“
„Ja.“
„Sie waren ein Freund von dem Toten, habe ich Recht?“
„Diese Freundschaft wurde von den deutschen Medien hochgeschaukelt. Ich kannte ihn seit der fünften Klasse und von Tennisverein. Wir waren keine Freunde.“
„Hatte er Feinde?“
„Ich kann Ihnen keine Namen nennen, aber er hatte sicherlich welche. Wissen Sie, er war selbstverliebt, egoistisch, er hat getrunken und geraucht. Außerdem hat er alle Tage eine neue Frau angeschleppt. Joachim war alles andere als ein Musterprofi. Das haben ihm viele Menschen übel genommen. Er war vierundzwanzig. Da sollte man eigentlich die Pubertät überstanden haben.“
„Welche Frauen?“
"Fragen Sie mich nicht. Er ist mit ihnen aufs Zimmer, und ich musste raus. Es könnten auch Nutten gewesen sein." Er grinste.
„Allerdings muss man sagen, dass er sich das auch selbst übel genommen hat.“
„War er etwa suizidgefährdet?“
„Schwer zu sagen. Er hatte Probleme mit seinen Eltern, sie haben seine Saufgelage auch nicht akzeptiert. Er hatte ein schwaches Gemüt. Doch wenn ich kurz vor dem Wimbledon-Sieg gestanden hätte, ich hätte mich nicht umgebracht.“
„Der Trainer von ihm, er hatte auch Probleme mit Joachim?“
„Keiner kam mit ihm zurecht. Aber der Trainer ganz besonders. Er hat ihm sogar Essenspläne erstellt, damit Joachim sich richtig ernährt, kein Alkohol, keine Zigaretten. Aber er hat ihn ignoriert, ja ausge-lacht. Alle Leute in der Branche wusste von des Eskapaden. Und auf wen fällt das alles zurück? Auf den Trainer. Aber ich schätze das größte Problem für ihn war, dass sich Joachim an seine Tochter herangemacht hat.“
„Ach, das ist ja interessant. Herr Ludwig hat uns nämlich erzählt, er habe Joachim sehr geschätzt, sehr charmant soll er gewesen sein.“
„Das kann ich nur widerlegen.“
„Haben Sie sich das Spiel im Stadion angeschaut?!“
„Natürlich.“
„Wo haben Sie gesessen?“
„In der Angehörigenlounge.“
„Wer war noch da?“
„Sein Trainer, Freundin oder Edelnutte, DTB-Präsident und einige Cousins und so.“
„Seine Cousins und auch die anderen Angehörigen, hätten Sie ein Motiv gehabt?“
„Glaube nicht. Die haben Joachim seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie wohnen auch in anderen Städten.“
„Haben Sie eine Ahnung, von wem sich Joachim eine Uhr geliehen hat?“
„Nein.“
„Wussten Sie, dass Joachim eine schwere Augenkrankheit hatte?“
„Natürlich. Jeder wusste das.“
„Auch welches Mittel er dagegen nahm?“
„Ja. A-, Atro-...“
Atropin.”
“Ja, genau das. Er hat es immer in einer großen Dose unter seinem Bett deponiert. Zuhause und auch hier im Hotel.“
„Das wusste auch jeder.“
„Jeder.“
„Das soll es erst mal gewesen sein. Danke.“ Sie gingen einige zehn Meter in Richtung Court zwanzig, wo Ludwig seinen Schützling trainierte, als Stefan aus der Hecke herausrannte und ihnen hinterher rief: „Vorstrafenregister! Schauen Sie ins Vorstrafenregister!“ Grant schaute zurück, doch er war schon wieder verschwunden.
VI
Albertz und Grant hatten sich vorgenommen, Herrn Ludwig mit den Anschuldigungen seines Schützlings von TC Eisenach zu konfrontieren. Sie gingen weiter, bis sie die Stimme Ludwigs hörten und stellten fest, dass er auf dem selben Court sein Training gab, wie zwei Tage zuvor.
„Nicht Sie schon wieder...“, sagte Ludwig, ein Lächeln auf den Lippen.
„Sie hätten ein Motiv gehabt, Joachim zu töten, Herr Ludwig.“ In der Stimme des Chef Inspektors lag eine ordentliche Brise Pfeffer.
„Ach.“
„Er hat Sie ignoriert, seine Sauforgien haben Ihren Namen schlecht gemacht, Ihr Ruf wackelte bedenklich. Dass er sich aber an Ihre Tochter herangemacht hat, war für Sie das schlimmste.“
„Wer hat Ihnen denn diesen Schrott erzählt? Halt! Ich kann es mir denken. Stefan. Wer denn sonst? Nun, er hat auch etwas zu verbergen.“
„Was?“
„Joachim hat ihm die Freundin ausgespannt. Und das war nicht die erste. An einer Hand konnte man die schon nicht mehr abzählen. Er hat ihn heruntergemacht, als Versager dastehen lassen. Das er es tatsächlich ist, ist ja unerheblich.“ Sein Kopf wurde hochrot.
„Wo waren Sie während des Spiels?“
„Auf der Tribüne, wo die Familie und Freunde sind.“
Mr. Grant flüsterte Madeleine etwas zu und sie schien zu verstehen.
„Hatte Joachim Vorstrafen?“
„Ich.. äh...“, Ludwig war verwirrt, „ich weiß nicht. Er hat mir nie etwas davon erzählt. Wobei, er hat mir im Allgemeinen nie etwas erzählt. Nie...“
VII
„Vielen Dank, Mr. O’Brian, ja – ja – ja. Nochmals vielen Dank. Ja, ich weiß, dass das viel Arbeit gekos-tet hat. Mhh.. mhh... Das ist nett, Sie haben das nur für mich gemacht? Reizend... mhh... Mr. Grant ist ein Idiot?“ Madeleine lächelte und schaute Theo an, der gerade die Tür hereinkam und verduzt seine Chefin anglotzte. „Es tut mir leid, dass Sie solche Umstände hatten... mhh... mhh... Wissen Sie was? Sie können mich mal.“
Wütend legte sie auf.
„Pah. Erst umgarnt er mich mit Komplimenten, von wegen all die Arbeit nur wegen mir ja, und dann regt er sich auf, dass das fürchterliche Umstände gemacht hatte, Schweißausbrüche und so’n Zeug.“
„Und beleidigt hat er mich.“ Er grinste. „Die alte Vogelscheuche. Was hat er herausbekommen?“
„Nun, entsprechend den ach so vielen Umständen recht wenig. Nämlich nichts.“
„Das ist wirklich... viel.“
„Das macht aber nichts, weil der Mörder das Atropin wahrscheinlich aus den privaten Vorräten Stellers genommen hat. Ich habe die Spurensicherung beauftragt, dass Zimmer nochmals zu durchsuchen, denn im Bericht stand nichts von Büchsen oder Dosen mit Atropin. Außerdem habe ich nachgefragt, ob eine Uhr gefunden worden ist, das wurde allerdings verneint. Was ist mit den Vorstrafen Stellers?“
„Das war recht kompliziert“, antwortete Grant. „Ich musste mich erst beim BKA einloggen, viele Gespräche führen und so weiter. Also. Wir haben so ungefähr zwanzig neue Verdächtige“, leierte er herunter ohne größere Emotionen.
„Was?“
„Ja, Sie haben richtig gehört. Jetzt kommt nämlich der Knüller. Joachim Steller hat vor drei Jahren zehn Mädchen zwischen vierzehn und siebzehn Jahren zur Prostitution gezwungen. Heraus kam alles, als ein Mädchen ihr Schweigen nach einem Jahr brach. Er hat nur zwei Jahre bekommen – auf Bewährung nach Jugendrecht. Das ist die deutsche Justiz...“ Er schüttelte verachtend den Kopf. „Die Eltern waren empört und riefen Drohungen durch den Gerichtssaal. Zwei Tage später starb das Mädchen, allerdings nicht an den Folgen der Prostitution, sondern sie wurde erschossen. Der Mord konnte nie aufgeklärt werden. Na klasse.“ Grant plumpste in seinen Bürostuhl. „Keine Indizien, keine Beweise und zig von möglichen Mördern.“
„Stimmt. Außer der Uhr haben wir tatsächlich keine Anhaltspunkte. Aber glauben Sie, einer der Eltern würde nach England fahren, um Steller zu töten? Erst einmal wäre das ein großer Umweg und zweitens wusste bestimmt keiner, dass er Atropin verwendete. Selbst ich, als Steller-Fan, hatte keine Ahnung davon. Wie sollte das einer von ihnen wissen?“
„Trotzdem. Wir haben nichts! Auch wenn wir die Uhr auf dem Video sehen sollten, auch wenn wir sie identifizieren könnten als die Uhr einer der Verdächtigen – das wäre noch lange kein Beweis. Ein Alibi braucht man nicht, denn der Mord geschah ja ohne direkte Beteiligung eines anderen. Ein Motiv hat jeder. Kleinmeier wurde die Freundin ausgespannt und als Versager dargestellt, und der Trainer wurde von Joachim verspottet, und seine Tochter wollte er auch.“
Die Tür wurde aufgeschmettert. Madeleine wusste, was auf sie zu kommen sollte: Mr. Owen.
„Mr. Grant! Wahrscheinlich drehen Sie sich im Kreis und wissen nicht, wer der Mörder ist! Das kann Ihnen helfen.“ Er warf eine Plastikmappe auf den Schreibtisch. „Hier, von Mr. Oliver.“, rief er und ging wieder.
Mr. Grant nahm sich die Mappe und nuschelte „Mhh... Bericht der Spurensicherung über das Hotelzimmer von Steller...“ Er las einige Zeit, wahrscheinlich von vorne bis hinten. Madeleine kümmerte sich derzeit um einen Einbruch in der Wellington Street. Die Minuten verstrichen, es konnten ein oder zwei Stunden gewesen sein, als Inspektor Grant fragte: „Warum?“
„Was bitte?“ Madeleine war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht merkte, dass ihr Partner mit ihr sprach.
„Sie sind der Mörder an Joachim Steller.“
„Mit so was macht man keine Witze, Mr. Grant.“ Sie lächelte und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Es steht hier schwarz auf weiß. Auf einer Büchse, Inhalt Atropin, wurden Schweißablagerungen gefunden. Die DNA stimmt überein mit der Ihrer.“ Der Inspektor war immer noch geschockt.
„Ich... weiß... das kann nicht...“
„Sie sind die Mutter einer der zur Prostitution gezwungenen Kinder, habe ich Recht?“ Seine Stimme bebte. Schweiß lief ihm von der Stirn. „Vor drei Jahren kamen Sie zu Scotland Yard. Einen Monat nach dem Urteil gegen Joachim Steller. Einen Monat nach dem Tod Ihrer Tochter. Rache haben Sie geschworen. Aber ich glaube nicht, dass Sie den Mord jahrelang geplant haben, Ms. Albertz. Wissen konnten Sie nicht, dass Joachim irgendwann mal in Wimbledon spielen sollte.“
„Ich... es tut mir leid. Ich... Ich bin froh, dass er tot ist, er hat meine Tochter auf dem Gewissen und neun andere Mädchen auch. Ich bin froh... dass es raus es... es hat mich zerfressen, wissen Sie.“
„Erzählen Sie, wie haben Sie ihn umgebracht?“ Grant zitterte.
„Ich... ich wusste erst gar nicht, dass er in Wimbledon spielte. Gelesen habe ich das erst in der Times, dass er im Finale steht. Eigentlich wollte ich ein neues Leben beginnen bei Scotland Yard, in London, bei... bei... Ihnen.“ Sie lächelte kalt. „Geschafft haben Sie’s. Ich habe mein altes Leben vergessen, dank Ihnen. Aber als ich... den Artikel las... alles kam wieder hoch. Die Verhandlung, das Weinen meiner Tochter, die Schmerzen, ihr lebloser Körper, das Blut, ihre toten Augen. Ich konnte nicht mehr.“ Madeleine schluchzte auf, versenkte ihren Kopf in ihre verschränkten Arme. Als sie wieder aufblickte, waren ihre Augen hochrot.
„Woher wussten Sie, dass Joachim Atropin brauchte, und dann noch um welche Uhrzeit?“
„Joachim... er war einige Zeit mein Freund. Ich dachte, er liebte meine Tochter, er behandelte sie wie seine eigene, er war wie ein Vater zu ihr, zu Josephine. Das er das mir Ihr anstellen konnte... So kannte ich natürlich auch seine Augenkrankheit, die Einnehmzeiten und auch die schrecklichen Folgen von Atropin.“
„Wie ging’s weiter?“
„Ich wusste, in welchem Hotel er untergebracht war und...“
„Woher?“
„Aus der Zeitung. Und ich ging zu ihm. Erzählte, dass ich ihm verziehen hatte. Als er kurz verschwand, nahm ich das Atropin. Ich hatte Handschuhe an, deswegen verstehe ich nicht weshalb...“
„Baumwollhandschuhe. Man fand Fussel. Der Schweiß muss durch den Handschuh gesickert sein.“
„Das war wohl der Fehler. Ich nahm zwei Löffel von dem Gift und tat es in eine Klarsichthülle. Außerdem nahm ich seine Uhr. Als er wiederkam, sagte ich ihm noch, dass ich ihn vor dem Spiel besuchen wolle. Am nächsten Tag ging ich in seine Kabine. Joachim hatte dem Wächter gesagt, er solle mich vorbeilassen wenn ich käme. Ich gab ihm seine Uhr wieder, die ich um eine Stunde vorgestellt hatte. Der Idiot hat mir tatsächlich geglaubt, dass ich sie gefunden hätte. In einem günstigen Moment mixte ich das Gift in die Flasche, auf der ‚ATROPIN’ stand.“
„Warum haben Sie die Uhr nicht einfach schon im Hotelzimmer verstellt und so sichern können, dass alle Welt glaubt, der Mord wäre ein Unfall gewesen, Tod durch Selbstverschulden.“
„Ich habe in der Hektik nicht daran gedacht. Die Stoffhandschuhe ließen schon durchblicken, dass kein Profi am Handwerk war.“
„Die Uhr. Sie war nicht auffindbar.“
„Ich habe aus Versehen keine Handschuhe getragen, sodass ich sie beseitigen musste. Das ging zum Glück im Tumult unter. Ich habe die Uhr dann in die Themse geschmissen.“ Inspektor Grant stand auf, er musste sich die Tränen verkneifen.
„Ich... Ich verhafte Sie wegen dringenden Tatverdachtes, Mr. Joachim Steller getötet zu haben.“ Die Handschellen klickten in der Stille.
„Woher hatten die Rechtsmediziner meine DNA?“
„Jeder Polizeibeamter in Großbritannien hat eine Blutprobe abgegeben, die bei Kapitalverbrechen rou-tinemäßig gecheckt wird.“
„Es war schön mit Ihnen, Mr. Grant.“
Grant und Albertz lächelten sich an und gingen hinaus.
Marco Zacharias