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Der Vampir
Früher muss es anders gewesen sein, schoss es mir durch den Kopf. Wenn es vor ein paar Jahrtausenden um Leben oder Tod ging, zählte nichts als die körperliche Verfassung. War der eine Urmensch stärker, schneller, kräftiger, dann schlug er seinem Kameraden einfach den Schädel ein, wenn es nicht genug Beute für beide gab. Der Starke nagt das Fleisch von den Knochen, der Schwache blutet den Höhlenboden voll. Jetzt geht es nur noch darum, wer die Waffe in der Hand hat. Heute hält der mit der Waffe einen hohlen Vortrag, der Unbewaffnete pisst sich vor Angst in die Hose.
Ein kreisrunder, dunkler Fleck hatte sich im Schritt meiner Jeans ausgebreitet, es lief mir warm die Wade herunter. Ich saß auf einem Stuhl, die Handgelenke mit Klebeband gefesselt. Der Knebel in meinem Mund schmeckte nach Schweiß, Dreck und Zigarettenasche. So gut es mit den Fesseln ging, hob ich zittrig meine leeren Handflächen, als würde in ihnen der wertvolle Beweis meiner Unschuld liegen, gab dabei einen erstickten Laut von mir.
Der Vampir ignorierte das. Er schritt vor mir auf und ab, seufzte theatralisch und schüttelte den Kopf, als würden ihm die richtigen Worte nicht in den Sinn kommen. Er ließ den Blick über die schmutzigen, von Schimmel zerfressenen Wände des kahlen Raumes gleiten, als sähe er auf ein riesiges Publikum herab. Aber außer uns war niemand in diesem Haus, dieser Scheißbude im gottverlassenen Nichts. Das dachte ich zumindest.
Carlos „Der Vampir“ Ángel Muñoz hatte keinerlei Ähnlichkeiten mit einem Vampir. Er war nicht blass, sondern hatte den typisch braunen Hautton, wie wir alle. Sein schwarzes Haar war kurzgeschoren und er hatte dunkle, ruhelose Augen. Die Ärmel seines grauen Hemdes, das wohl mal weiß gewesen war, hatte er hochgekrempelt, die ausgeblichene Jeans war abgewetzt. Er war klein und schmächtig, hatte einen beinahe jungenhaften Körper. In einem Kampf hätte ich ihm locker jeden verdammten Knochen gebrochen. Ich sah seine Waffe an und dachte an die Neandertaler.
Seinen Namen hatte der Vampir schon, bevor er zu dem wurde, der er nun war. Man erzählte sich, dass er als Jugendlicher bei einer Straßenschlägerei auf seinen gestürzten Gegner gesprungen war und ihn mehrmals in den Hals gebissen hatte. Er hatte ihm die Halsschlagader zerfetzt und mit den Zähnen den Kehlkopf herausgerissen, ehe sein Gegner elendig verblutet war. Angeblich hatte er wie ein Wahnsinniger gelacht und seine Freunde gefragt, ob sie auch mal probieren wollten.
Plötzlich blieb der Vampir stehen und entsicherte mit einem Klicken seinen Colt, als wollte er sich Gehör verschaffen. Mein Puls raste.
„Die Menschen“, sagte er in feierlichem Ton und ernster Miene. „Die Menschen haben in der Geschichte stets versucht, die eigene Spezies in genau zwei Lager zu teilen. Sie waren immer auf der Suche nach dem einen Kriterium, das an Größe und Gewichtigkeit alles überragt und nur zwei Parteien zulässt.“
Er sah über meinen Kopf hinweg, das Kinn in die Höhe gereckt, und machte eine ausholende Geste.
„Zuerst unterschied der Mensch wohl nach Mann und Frau. Eine Unterscheidung, die noch heute gültig ist. Doch ist sie noch die allererste, die wir treffen? Man suchte nach neuen Lösungen. Die Kreuzritter zum Beispiel versuchten es mit Christen und Ketzern. Der Adel grenzte sich vom Bauern ab. Später unterschied man nach Hautfarben, nach Schwarz und Weiß. Die roten Khmer unter Pol Pot kategorisierten in neues und altes Volk. Und Marx unterteilte das Volk in Bourgeoisie und Proletariat.“
Vielsagend sah er auf mich herab, als müssten mir diese Wörter und Namen etwas sagen. Ich hatte keine Ahnung, er seufzte enttäuscht.
„Wem sag ich das, Amigo. Du verstehst doch gar nichts davon, oder?“ Natürlich konnte ich mit dem Knebel im Mund nicht sprechen, doch er erwartete sowieso keine Antwort von mir.
„Genau so schaut mich Antonio auch immer an, wenn ich seinen Verstand überfordere.“
Antonio Muñoz war der Bruder des Vampirs. Zumindest wurde das behauptet, aber ich konnte nie glauben, dass die beiden die selben Eltern haben könnten. Antonio war riesig, bestimmt über zwei Meter groß und nicht gerade schlank. Genau genommen war er unglaublich fett. Er atmete schwer, wenn er auch nur fünf Schritte am Stück gehen musste, und er hatte sein langes, fettiges Haar hinten zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Wenn Antonio neben seinem Bruder stand, sah der Vampir winzig wie eine Puppe aus. Trotzdem folgte Antonio dem Vampir aufs Wort, wenn er Anweisungen gab, als wäre er sein gigantisches Haustier. El perro gordo nannte man ihn heimlich. Der fette Hund.
Mit Antonio hatte alles angefangen, erinnerte ich mich. Miguel und ich saßen im Schatten eines Hauses. Es war ein heißer Sommer, der alle müde und träge machte und hätten wir in diesen Tagen irgendetwas zu tun gehabt, wären wir sicherlich zu faul dafür gewesen. Miguel war mein bester Freund, seit ich denken konnte. Ich war inzwischen siebzehn, Miguel war fünfzehn. Wir hatten ein paar Minuten lang abwechselnd einen Fußball gegen eine Hauswand getreten, bevor wir aus der prallen Sonne geflüchtet waren. Jetzt hingen wir herum und Miguel setzte gerade zu einer Argumentation an, warum Camila Pérez das heißeste Mädchen der Nachbarschaft sei, als ein schwarzes Auto auftauchte. Ich hatte keine Ahnung von Autos, aber dieses musste echt teuer gewesen sein. Wir staunten. Antonio stieg aus und sprach uns an. Er hätte einen Job für uns, er würde uns gut bezahlen. Wenn wir es gut machen, würde er sich wieder bei uns melden. Vielleicht würden wir dann auch bald so ein Auto fahren, meinte er. Der Job sei nicht gefährlich, wenn man vorsichtig ist, und unsere Eltern würden bestimmt auch jeden Schein gebrauchen können. Wir willigten ein, denn Geld hatten wir zu wenig, und Zeit hatten wir zu viel.
In den letzten vier Jahren waren immer wir es gewesen, die die Waffe in der Hand hielten. Wir erledigten unsere Jobs und stellten keine Fragen. Wir schüchterten Kunden ein, fuhren Taschen und Koffer durch ganz Mexico, ließen Autos verschwinden, kutschierten Nutten vom Bordell zu den Muñoz-Brüdern und zurück, arbeiteten Plastikpäckchen in die Sitze und Verkleidung von Autos ein.
„Für dich ist jetzt nur eine Sache wichtig, Amigo“, setzte der Vampir nach einer dramatischen Pause fort. „Nämlich, wie ich die Menschen unterscheide. Für mich gibt es nur zwei Arten von Menschen: Die, die mir loyal und treu sind - und diejenigen, die das nicht sind.“
Er hob die Pistole und betrachtete sie. Mein Körper schüttelte sich unkontrolliert durch meine Heulkrämpfe. Hätte ich sprechen können, hätte ich ihn angefleht und geschworen, dass ich zu den Loyalen gehörte. Ich wollte nicht sterben, Scheiße, ich wollte nicht sterben.
„Die Treuen bekommen von mir alles, was sie sich erträumt haben. Ruhm. Ehre. Geld. Nutten. Alles! Aber die Untreuen …“ Er drückte mir den Lauf gegen die Schläfe. Ich heulte auf. Gleich würde er abdrücken.
Mit plötzlich leiser, bedrohlicher Stimme fuhr er fort.
„Ich werde dir eine Frage stellen, nur eine einzige. Ich will, dass du dich jetzt genau an euren letzten Job erinnerst, wenn ich dir gleich den Knebel abnehme.“
Der Job war eigentlich einfach gewesen. Miguel und ich sollten eine schwarze Sporttasche zu einer Adresse in Tijuana fahren. Ein Mann kam heraus, nahm die Tasche aus dem Kofferraum und stellte eine andere Tasche hinein. Wie uns befohlen wurde, zählten wir die Scheine darin. Es waren fünfzigtausend amerikanische Dollar in Hundertern. Dann fuhren wir zurück.
„Dein Freund sitzt im Raum nebenan. Er sagt, er weiß nicht, wo die fünftausend Dollar geblieben sind. Er sagt auch, dass du sie ganz bestimmt nicht genommen hast.“
Ich erstarrte. Miguel war hier? Scheiße, jetzt legen sie uns beide um, dachte ich.
Der Vampir nahm mir den Knebel ab, der widerliche Geschmack in meinem Mund blieb.
„Amigo, sag mir, warum sind bei mir nur fünfundvierzigtausend Dollar angekommen?“
„Bitte …“, wimmerte ich. „Ich weiß nicht. Ich hab das Geld nicht. Ich – Ich hab keine Ahnung.“
Ich schluchzte, Tränen liefen mir die Wangen hinunter.
„Halt dein Maul“, sagte der Vampir. „Wer hat das Geld? Ich werde nicht nochmal fragen.“
In diesem Moment gab es für mich nur noch zwei Arten von Menschen. Mich und die Anderen.
„Miguel hat es genommen. Ich hab es gesehen, als wir ausgestiegen sind. Da hat er etwas eingesteckt. Wahrscheinlich ist sein Bruder damit längst über alle Berge. Ich wollte ihn nicht verraten, weil er doch mein Freund ist.“
Ich schmeckte Tränen und Rotz auf meinen Lippen. Der Vampir seufzte.
„Antonio!“, rief er.
Die Tür ging auf und Antonio erschien.
„Der da drüben war’s“, sagte der Vampir. „Er hat das Geld nicht mehr.“
Antonio nickte und verschwand.
„Ich wusste doch, dass du es nicht warst, Amigo. Du bist treu und loyal, das habe ich gleich gemerkt. Dein Freund ist ein Nichtsnutz, deshalb glaube ich dir“, sagte der Vampir. Mit einem Teppichmesser schnitt er meine Fesseln auf. Dann tat er etwas, was wie eine Verbeugung aussah. Er legte die Hand auf die Brust und lächelte dankbar nickend in Richtung der kargen Wände, ehe er hinaus stolzierte.
Ich rieb mir die geschundenen Handgelenke und starrte auf meine Hände. Die Hände, mit denen ich die fünftausend Dollar aus der Tasche genommen hatte.
Ich weiß nicht mehr, warum ich es tat. Ich hatte nicht gedacht, dass die Muñoz-Brüder das Geld noch einmal zählen würden. Eigentlich hatte ich inzwischen genug Geld, um mich und meine Eltern gut über die Runden zu bringen. Aber als ich diesen Berg von Scheinen sah, da konnte ich nicht anders. Ich wollte, nein, ich musste es einfach haben.
Im Nebenzimmer ertönte ein Schuss.