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Der Vagabund
Tom war auf Reisen. Wie lange, wusste er nicht mehr. Er wohnte in einem kleinen Zimmer etwa einhundert Meter vom Strand entfernt. Im Sommer wurden hier rauschende Feste gefeiert und der Ort war von Lachen erfüllt, erzählte der Gastwirt. Jetzt gab es bis auf ein paar Gestalten, die auf dem Marktplatz saßen, nur die stete Meeresbrise.
Der Vagabund war ihm vor dem Spiegel im Busbahnhofsklo begegnet und hatte ihn in das kleine Gasthaus mitgenommen. Er hatte ein zerknittertes Gesicht und glasige Augen. Sein Dialekt war von vielen Sprachen gefärbt. Vermutlich, dachte Tom, beherrscht er keine Sprache mehr richtig. Er hatte lange keine Gesellschaft genossen und so begleitete er den Vagabunden auf einem Spaziergang.
Der Vagabund brachte ihn zu einem verfallenen Haus am Ortsrand. Er schien sich gut auszukennen und ging zielstrebig hinein. "Pass auf die Spritzen auf!" rief er von innen. Dann zeigte er auf eine Ecke. "Da hab ich mal 'ne Alte durchgenommen. Und draußen haben sie mit Taschenlampen rumgeleuchtet." "Die Polizei?" fragte Tom und sah sich um. Da stand der Vagabund plötzlich vor ihm. Die Luft stand und Tom spürte seinen fauligen Atem. "Ich erzähl dir jetzt mal was" flüsterte der Vagabund. "In dem Raum da hinten ist ein Koffer versteckt. Da drin findest du meine Vergangenheit! Du kannst sie haben, wenn ich weg bin." Tom wich zurück. "Was soll das denn alles und wo willst du hin?" Der Vagabund lachte. "Kommt ganz auf dich an, mein Freund!", und blieb eine weitere Antwort schuldig.
Am Strand folgten sie dem Rauschen der Wellen und tranken ein paar Kannen. Der Vagabund zeigte aufs Meer. "Wofür brauchen wir Fernseher und Handys, wenn wir das hier haben?". Tom wusste keine Antwort.
Abends stiegen sie auf einen glitschigen Felsen, der vor einer dunklen Mauer aus den Fluten ragte. Wasser spritzte hoch und Tom schrie gegen den Wind: "Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Es ist, als kenne ich dich schon mein ganzes Leben." Der Vagabund stand direkt am Abgrund. Ein dürrer Körper vor der tosenden Leere. Nur einen Schritt und es ist aus mit dir, dachte Tom. Der Vagabund drehte sich um, "Hier hat sich früher mal ein edler Prinz in die Fluten geworfen, weil die Leute über ihn lachten." Tom konnte seinen Gefährten in der Dunkelheit nur noch schemenhaft erkennen. "Was hat das alles mit uns zu tun?" rief er. Der Vagabund lächelte traurig: "Über dich lacht man nicht, vielleicht kannst du meinem Leben noch einen Sinn geben."
Sie gingen zurück zum Gasthaus und verabschiedeten sich vor dem Spiegel im Flur.
Ein seltsamer Mensch, dachte Tom.
Als er sich schon aufs Bett gelegt hatte und der Fernseher lief, spürte er seine trockene Kehle. Es gab einen Laden direkt gegenüber. Im Foyer traf er den Gastwirt. "Entschuldigung," sagte Tom, "in welchem Zimmer wohnt eigentlich der Vagabund? Ein lustiger Alter, der viel erzählt." Der Gastwirt musterte ihn, "Ein Vagabund, sagen Sie?" "Ja, ich reise morgen ab und will mich noch verabschieden". Der Gastwirt verschränkte die Arme. "Wohin möchten Sie denn?" "Ich weiß es noch nicht, aber es ist doch egal!" Tom wandte sich zum Gehen. "Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein." sagte der Gastwirt. "Wir kennen uns ja schon länger. Ich mache mir Sorgen." "Wie bitte?" "Hören Sie, außer Ihnen wohnt hier kein anderer. Sie sind hier der einzige Gast, wie jeden Winter." Da musste Tom lachen, über die Dummheit der Menschen und über das Leben, das an ihm vorbeigezogen war. Er trat mit funkelnden Augen heraus.
Als er zurückkam, begegnete ihm vor dem Spiegel im Flur, gekrümmt und lumpig, aber mit einem schelmischen Grinsen, der Vagabund und prostete ihm zu.