Der unsichtbare Mann
James, Du, mein Mann. Nach so vielen Jahren kann ich dich wohl so nennen, obwohl du es nie gewesen bist.
Wann habe ich Dich kennengelernt? In einem Sommer in England, da muß ich dreizehn, vielleicht auch vierzehn gewesen sein. Meine Eltern hatten mich hingeschickt, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern und Angst und Vorfreude hielten einander die Waage. Was dann kam, war so furchterregend, daß ich es bis zum heutigen Tage aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Ich bin einfach kein Mensch für die Fremde.
Nur der letzte Tag, den werde ich nie vergessen, denn da traf ich ja Dich.
Lieber Himmel, wie häßlich ich damals war. Ich habe das Bauerngesicht meiner Vorfahren geerbt und die zwei, drei Generationen von Akademikern konnten den Ausdruck von Bauernschläue darauf nicht auslöschen. Mein Gesicht ist so rund und rotbackig, wie ein Boskopapfel, der Inbegriff ländlicher Gesundheit, selbst mitten im schlimmsten Grippeanfall. Da ist so gar nichts Zierliches und Elegantes an mir. Alles ist groß, breit, kräftig. Meine Schultern und meine Hände sind zum Anpacken geschaffen und Hüften habe ich, ein Becken, wie gemacht, um eine ganze Horde von Kindern darin auszutragen. Nur daß ich nie welche hatte
Einzig meine Füße sind klein, viel zu klein für diesen großmächtigen Körper - man möchte kaum glauben, daß sie ihn tatsächlich tragen können. Aber ich zeige sie nie offen, denn die beiden kleinen Zehen sind verkrüppelt und ich schäme mich deswegen. Eine Unsicherheit aus Kindertagen, aber das ist eine andere Geschichte.
Das alles ist mir seit meiner Pubertät geblieben - wie hätte es sich auch ändern sollen. Ich bin immer noch grob gebaut und viele denken, wer grob aussieht, muß grob sein. Oder doch zumindest grobschlächtig. Und weil ich stets auf meine Bewegungen achtgeben muß, weil meine Arme länger und kräftiger sind, als die anderer, meine Schultern und mein Hintern breiter, zu breit für enge Gänge zwischen überladenen Regalen und Kleiderständern, wirke ich immer auch unbeholfen und ungeschickt, so ganz und gar nicht weiblich.
Warum ich sage, daß ich damals ganz besonders häßlich war, hat aber dennoch seinen Grund. Meine Mutter hatte mir mit der Begründung, daß es so viel praktischer sei, die schönen, hüftlangen Haare schneiden lassen und ich, mit meinem Busen, der gerade mal im Ansatz vorhanden war und einem Po, den man auch beim besten Willen nicht mehr griffig, sondern nur noch fett nennen konnte (das ist er heute zwar auch noch, aber ich verstecke ihn mittlerweile etwas geschickter unter Röcken und weiten Pullovern), wirkte unanständig androgyn, ein missing link zwischen Mädchen und Jungen unter Dauercortisonbehandlung, das keiner vermisste, ganz lustig, aber alles andere als hübsch.
Irgendwie lag mir im Leben die Rolle des Hofnarren immer schon besser, als die der Prinzessin. Für einen Teenager eine harte Erkenntnis, aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Der Gerechtigkeit halber ist der Hofnarr wenigstens immer der Kluge.
So sah ich also aus. Und ich muß sagen, ich versteckte mich weit lieber vor den Leuten, als unter ihren kritischen Blicken Spießruten zu laufen. Dementsprechend unauffällig zog ich mich an. Meine Haare konnte ich jetzt nicht mehr vors Gesicht werfen, dafür trug ich nur noch Kleider in Tarnfarben, schwarz, grau und moosgrün, als wäre ich auf direktem Wege in den Guerillakrieg.
Ich trug mich mit dem Gedanken, Nonne zu werden. Nicht so sehr, weil ich mich wirklich dazu berufen fühlte. Aber ich rechnete mir aus, daß ich in einem Kloster meine Ruhe haben würde. Ich hielt mich für tiefgläubig, war es vielleicht auch, und in meiner Hosentasche steckte stets eine dieser handlichen grünen Gideonbibeln, die ich, sobald mir ein paar Minuten Zeit dazu blieben, auswendig lernte. Das hat mich wirklich oft getröstet. Es gab also nicht allzu viele Gründe, die gegen ein solches Leben sprachen. “ Die sind mir zu sauer “, sagte der Fuchs von den Trauben, die ihm zu hoch hingen und deshalb sagte ich auch niemandem, daß ich aus Angst vor der Welt in ein Kloster wollte, sondern sprach mehr oder weniger von einem göttlichen Wegweiser, frei nach Buddha und Franz von Assisi. Und mit der Zeit kam mir das selbst ganz plausibel vor. Auf jeden Fall war es eine hübsche Geschichte. Und ich erzähle schon immer gerne hübsche Geschichten.
Kannst Du Dir vorstellen, wie es ist, wenn ein schüchternes Mädchen, das entsetzliche Angst vor dem Auffallen hat, auf einmal verzweifelt auffallen will ? Da waren all diese hübschen, schlanken Mädchen, die mit mir nach England gekommen waren. Und all die hübschen, schlanken Jungs scharten sich um sie. Nur um mich scharte sich niemand. Die Erfahrung war nicht neu.
´ Normalerweise zog ich mich dann zurück und redete mir ein, daß mir das nicht wichtig war, daß ich mir das gar nicht wünschte, daß mich das offene Desinteresse der anderen nicht im Geringsten interessierte. Aber ich war verletzt. Und ich wollte zu dieser Gruppe gehören, auch wenn ich nicht hübsch und schlank war - was das Mädchensein anbetraf, war sich ja eh keiner sicher.
Also fing ich an zu reden wie ein Wasserfall und Faxen zu machen und als das nicht klappte, begann ich die ach so Kluge zu spielen. Ich hatte natürlich keinerlei Erfolg, dafür zerschlug ich haufenweise Porzellan und fühlte mich noch schlechter, als zuvor. Naja, so war die Lage und ich fühlte mich, fern aller mütterlicher Vertröstungen auf eine bessere, schönere Zukunft und Ente-zu-Schwan-Parabeln, dem Kloster näher, als je zuvor in meinem Leben. Bis du kamst, das ist klar.
Wie habe ich dich damals kennengelernt ? Unser Reisebegleiter wurde krank und weil wir laut Vertrag nicht alleine fortgeschickt werden konnten, rief er seinen kleinen Bruder mit der Bitte um Vertretung an. Und der kleine Bruder tat, wie ihm geheißen ward und der kleine Bruder warst du.
So klein warst du natürlich nicht mehr. Um die 28, glaube ich .Also gut doppelt so alt, wie wir. Trotzdem wirktest du sehr jung. Und du warst schön, wirklich schön. Einer der ganz wenigen schönen Männer, die ich je gesehen habe - der Pierce Brosnan Typ, aber nicht ganz so schmächtig.
Und als Draufgabe deine Ausstrahlung. Wenn du lachtest, dann leuchtete dein ganzes Gesicht und deine Witze zwangen die Umgebung zu ungeahnten Heiterkeitsanfällen, wo sie aus anderem Munde allenfalls müde Belustigung erzeugt hätten. Du konntest tun und lassen, was immer du wolltest - die Leute mochten dich. Vielleicht deshalb, weil du dich selbst ganz ehrlich mochtest und die gute Meinung anderer nicht nötig hattest. Die meisten mögen es, wenn man nichts von ihnen braucht. Sie respektieren die Unabhängigkeit. Können gerade von dieser Unabhängigkeit abhängig werden. Wahrscheinlich gehört eine ganze Menge Oberflächlichkeit dazu, um eine solche Last zu tragen. Niemand, der viel denkt, kann sich seiner selbst auf so liebevolle, aber nicht selbstverliebte Art sicher sein. Hübsch, oberflächlich und mit einer Ausstrahlung, die Männer und Frauen im Umkreis von mehreren dutzend Metern in die Knie sinken ließ. Was für eine Kombination !
War es ein Wunder, daß ich mich auf Anhieb in dich verliebte ? In trauter Einigkeit mit allen anderen Mädchen meiner Gruppe, das versteht sich. Was sie nicht alles versuchten, um deine wertvolle Aufmerksamkeit zu erregen. Bei einer Pause goß jede einzelne ihre Fantadose über deinem Kopf aus oder stahl deine Pommes vom Teller, nur um dann kichernd gerade so schnell vor Dir davonzulaufen, daß du sie erwischen und unter den neidischen Blicken aller anderen sanft versohlen konntest. Eine wunderbare Möglichkeit, gleich darauf wieder neben dir zu erscheinen, und sich über den schmerzenden Hintern zu beklagen (was hätten sie nur 10 Jahre später angestellt ?). Es stimmt schon, Frauen mögen starke Männer. Das ist zwar unemanzipiert und darf aus Gründen der political correctness nicht gesagt werden, aber seit den Zeiten der Höhlenmenschen, hat sich an der weiblichen Hormon- und Werteskala nicht allzu viel geändert.
Ich stand daneben und schwieg und sah zu. Glaub` bloß nicht, daß ich mich distanzierte, weil ich es für unter meiner Würde hielt, mich ebenso zu verhalten, oder einfach zu vernünftig war. Ich hätte dir furchtbar gerne auch meine Limonade über den Kopf gegossen, mußte aber damit rechnen, daß ich es sein könnte, die das Faß zum Überlaufen bringen würde, daß du mir für etwas böse wärest, das du, wenn andere es taten, nur mit einem Lachen quittiertest. Und wenn das nicht geschehen sollte - was, wenn die Bank umkippte, auf die ich steigen mußte, um größer als du zu sein oder wenn du es aufgeben müßtest, mich übers Knie zu legen, weil deine Muskeln meinem Gewicht nicht gewachsen waren. Von Kind an darauf trainiert, mich als virtueller Elephant im Porzellanladen zu fühlen, wurde mir meine körperliche Ungeschicklichkeit in diesem Moment bewußter, als je zuvor. Also unterließ ich alle Annäherungsversuche und war still.
Und weil es sich nicht sehr cool machte, einfach nur daneben zu stehen und still zu sein, ging ich zur Seite und schlug abwesend die erste Seite meiner Bibel auf. Als ich dann aber zu der Stelle kam, an der steht : “Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei“, schloß ich das Buch schnell wieder. Das war ja unbestreitbar ein netter Gedanke, aber in meiner konkreten Situation nicht allzu hilfreich.
Doch offensichtlich hattest du beim Aufstehen den Vorsatz gefaßt, als Animateur für die ganze Gruppe zu fungieren und kamst zu mir herüber. Ob ich deswegen feuerrot anlief, kann ich heute nicht mehr sagen, obwohl es mir mehr als wahrscheinlich zu sein scheint, aber daß mir die Worte wegblieben, das weiß ich ganz genau. Ich spucke immer ein wenig beim Sprechen und wenn ich aufgeregt bin, stottere ich auch noch. Das hätte sich nun wirklich nicht gut gemacht. Aber wie gesagt fiel mir eh keine Antwort ein und bei “ ja” und “ nein” kann man erstaunlich wenig stottern.
Dementsprechend schnell gabst du auf und wir fuhren weiter, ich irgendwo allein im Bus über die Peinlichkeit der eben erlebten Situation sinnierend und du hinten auf der Rückbank, die immer schon die vielbeneideten Cliquen für sich in Anspruch genommen haben, mitten zwischen kichernden Mädchen und protzenden Jungen. Und als es völlig dunkel geworden war, hielt der Bus und wir waren an unserem Ziel angelangt. Dover, die Western Docks.
Der Busfahrer wollte gleich wieder zurück, aber du bestandest darauf, dich von jedem einzelnen zu verabschieden. Sie umdrängten dich wie die Trappkinder Schwester Maria und ich flüchtete, immer getreu dem Bild der leidenden Heroin in die Fährenstation, um niemanden merken zu lassen, wie schlecht ich mich fühlte. Und dann kam das, was ich dir nie vergessen werde.
Ich saß schon auf irgendeiner Bank und blätterte im Halbdunkel in meiner Bibel, als dir auffiel, daß ich fehlte. Dir kann nicht klar gewesen sein, wieviel es mir bedeutete, daß du gemerkt hast, daß von all den Kindern, die du an dem Tag kennengelernt hattest, gerade ich fehlte. Und es wurde noch schöner. Du ließest sie tatsächlich alle stehen und machtest dich auf die Suche nach mir und als du mich gefunden hattest, meintest du : “Und was ist mit dir ? Willst du mir nicht auf Wiedersehen sagen ?“
Erst wollte ich den Kopf schütteln und mich so schnell wie möglich in meinen Parka verkriechen, doch dann stand ich auf und hielt dir stumm die Hand hin. Aber jetzt warst tatsächlich du es, der den Kopf schüttelte und mich statt dessen in die Arme nahm und küßte. Vor den Augen all dieser hübschen Mädchen. Und mitten auf den Mund.
In der Retrospektive stimmt mich das bedenklich. Wie kommt ein Mann um die 30 dazu, einen ihm völlig fremden Teenager, im Grunde noch ein Kind, in aller Öffentlichkeit abzuknutschen ? Aus meiner heutigen Sicht muß ich annehmen, daß irgend etwas mit dir nicht stimmte. Oder warst du tatsächlich so sensibel mir auf dem steinigen Weg ins Frausein helfen zu wollen ? Darf ich so hoch von Dir denken ? Wie auch immer - damals ließt du ein paar Sekundenbruchteile lang einen erotischen Traum wahr werden, von dem ich nie geahnt hatte, daß er in mir schlummerte.
Was dich dazu bewog weiß, ich also beim besten Willen nicht. Zuneigung kann es nicht gewesen sein. Aber du tastest es so beiläufig und natürlich, als hättest du es in den letzten Jahren jeden Tag getan und bevor du dann wirklich gingst, drücktest du mir noch etwas in die Hand, eine kleine grüne Schwarte, ein kirchliches Gesangbuch, das uralt sein mußte, denn ich konnte die Buchstaben kaum mehr entziffern. Du mußt es zufällig bei dir gehabt haben und warst vielleicht froh, es auf diese Weise loszuwerden, aber das war egal. Wichtig war nur, daß du es mir, nur mir geschenkt hattest - und daß jeder es gesehen hatte. Und das war der Moment, in dem ich begann, dich zu lieben.
Dann hupte der Bus und du gingst und ich ging, wir gingen alle, nur war diesmal ich es, um die die Mädchen sich ringten, um zu erfahren, ob du wirklich das getan hättest, was sie zu sehen geglaubt hatten, aber ich war mir der Anforderungen, die meine Rolle an mich stellte, bewußt und antwortete ihnen nicht, sondern suchte statt dessen die Einsamkeit, die mir die ganze Zeit hindurch aufgedrängt worden war, weil ich nun endlich einen guten Grund dafür hatte zu weinen, alleine für mich zu weinen. Und das war noch viel schöner, als der eben erhaltene erste Kuß.
Also setzte ich mich in einen Gepäckwagen mitten auf den Docks, während die grellgelben Lichter der Werftanlagen über die berühmten Felsen huschten und die unromantischste aller Atmosphären erzeugten und ich weinte mir genußvoll die Augen aus, weil ich soeben von dem ersten Mann verlassen worden war, den ich aus ganzem Herzen liebte.
Das war alles. Genau so hat es sich ereignet. Ich habe nichts hinzugefügt und nichts weggelassen.
Und damit war die Begegnung zwischen dem Mann, der James Richardson getauft worden war und mir auch schon zu Ende. Und damit begann mein Leben mit James, der seine Entstehung einem einzigen, jungfräulichen Kuß zu verdanken hat, mit dir, der du mich durch all meine Jahre begleitet hast, wie ein treuer Gefährte, ein ehrlicher Freund, ein liebender Verehrer.
Natürlich wurdest du nicht sofort geboren. Zuerst einmal kam ich nach Hause zurück und lauschte mit roten Ohren den Erzählungen meiner Freundinnen, die in den Ferien in Italien oder Spanien ihren ersten Mann geküßt oder berührt hatten. Und ich stand daneben und konnte nur zuhören, eine Betätigung, die mir zwar viele Sympathien, aber wenig Genugtuung einbrachte.
Dann lag eines Tages ein Brief auf meinem Schreibtisch. Den Namen der Adressatin hatte ich schon lange verdrängt, als ich den Umschlag öffnete und fünf Bilder in der Hand hielt. Fünf Bilder, auf denen James und ich zu sehen waren. Sie mußten direkt hintereinander gemacht worden sein, denn länger hatten wir gar nicht zusammengesessen und das fünfte zeigte uns küssend auf den Western Docks.
Ich schätze, daß diese Bilder eine kleine Stichelei hatten sein sollen, aber sie wurden der Wegweiser in eine Richtung, die keiner hatte erahnen können. Denn als meine beste Freundin, die gar keine so gute Freundin war, das nächste mal in mein Zimmer stürzte, um mir Geschichten zu erzählen, die ich schon ein halbes dutzend mal gehört hatte, lagen sie - gewollt oder aus Nachlässigkeit - immer noch auf dem Schreibtisch und als sie sie sah, vermutete sie weit mehr, als wirklich geschehen war.
Ich begann damit ihr die Wahrheit zu erzählen, aber mitten im Bericht fing ich an mich zu fragen, warum eigentlich immer ich das häßliche Entchen spielen mußte und gab dieser kleinen Episode einen Ausgang, der weit romantischere Schlüsse zuließ, als es der Realität entsprach.
Natürlich konnte meine Freundin ihren Mund nicht halten und binnen kurzem war ich es, die erzählte, während andere, die noch nicht einmal bis zum ersten Kuß gekommen waren, mir mit roten Ohren zuhörten. Ich stieg beträchtlich in ihrer Achtung und ich bin mir sicher, daß meine Geschichten als soziales Engagement betrachtet werden konnten, denn so manches Mädchen, das mir gelauscht hatte, ging mit der Überzeugung fort, daß sie, die um so vieles hübscher und charmanter als ich war, mindestens ebenso viel Erfolg haben müßte - und sie hatten ihn.
Automatisch wurde ich in den Kreis der Erfahrenen aufgenommen und dort mit erstaunlichen Einzelheiten bekannt gemacht, die mir zuvor in dieser Form fremd gewesen waren. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich höchstens in die gröbsten Vorgänge dessen, was es zwischen Mann und Frau gab, eingeweiht gewesen, aber schon bald konnte ich mich bezüglich des Fachvokabulars und -wissens mit jeder meiner Klassenkameradinnen messen.
Solange ich James beibehielt, war ich gezwungen, ihn mit einer halbwegs greifbaren Persönlichkeit auszustatten. Im Bus hatte man mir die markantesten Punkte seiner Laufbahn erzählt und ich wußte also, daß er erst Kunst studiert hatte, um dann seine Zeit mit den verschiedensten Berufen in Europa und Amerika zu verbringen und schließlich bei der Royal Navy anzuheuern.
Das klang aufregend genug, aber als hingebungsvolle Geliebte mußte ich mehr Einzelheiten kennen. Also las ich einige Fachbücher zum Thema Kunst und Marine, stattete ihn mit einer dreiköpfigen Familie (Mutter, Vater und Bruder), die bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen war, einem Master of arts und einer Wohnung in London aus. Fürs erste reichte das vollkommen.
Meine Photos machten die Runde und alle stimmten darin überein, daß ich einen “tollen Hecht“ ans Land gezogen hätte. Sie wurden eingehend studiert und analysiert und manch eine fand in James` Blick wahre Hingabe und Leidenschaft, wo ich allenfalls Bemühtheit entdecken konnte. Aber sie kannten natürlich auch nicht die wahre Geschichte.
Die Wochen vergingen, es kamen neue Ferien und mit den Ferien fanden meine Freundinnen neue Verehrer. Nur ich blieb mit traurig-tragischem Blick meinem James treu. Meine Freundinnen erklärten mich zu einer Heiligen und mein Herz für gebrochen. Es ließ sich durchaus damit leben.
Um mein Warten nicht allzu hoffnungslos erscheinen zu lassen, bat ich einen meiner amerikanischen Cousins nach langem Zögern endlich, mir einen englischen Liebesbrief zu schicken. Für eine depressive Freundin angeblich. Eine reichlich fadenscheinige Ausrede, aber er fragte nicht groß nach. Ganz im Gegenteil erfüllte der gute Junge, den ich in meinem Leben noch nicht gesehen hatte, seine Aufgabe mit Bravour und von nun an konnte ich damit rechnen, alle paar Wochen einen Liebesbrief zu erhalten, der mir zwar in seinen Formulierungen mehr oder weniger unverständlich blieb, aber doch meine zartesten Gefühle erwachen ließ. Und einen britischen Liebhaber hatte sonst niemand vorzuweisen.
Vor kurzem habe ich diese alten Briefe noch einmal durchgesehen. Ja, ich habe sie immer noch. Mit einem roten Seidenband zusammengebunden liegen sie in meinem Schreibtisch, damit ich sie hervorholen kann, wenn Not am Mann ist.
Meine lieber Cousin neigte, vor allem nachdem sich die Zahl der amourösen Botschaften weit über ein Dutzend hinausbewegte, zum Kopieren. Ich schätze, daß er schlicht und einfach die Lust verlor. Aber welche Frau läßt sich nicht gerne mit Shakespeares oder Byrons Worten verehren, zeigt es doch den gebildeten Charakter des Schreibenden. Daß der wechselnde Stil auf mehrere Verfasser hinweist, ist außer mir zum Glück noch niemandem aufgefallen.
Mein Cousin hat im übrigen mittlerweile eine Professur für Literatur an einer größeren amerikanischen Universität angetreten und ich bilde mir ein, an diesem Erfolg durch mein frühes Drängen in Richtung dieses Genres nicht ganz unbeteiligt zu sein.
Die Jahre vergingen. Meine Haare wurden wieder schulterlang, ich bekam eine Brille und war bald von niemandem mehr mit einem Jungen zu verwechseln. Meine Brüste wuchsen und wuchsen, wenn auch in unterschiedlichem Tempo zueinander, bis sie mir als zwei wogende Fleischmassen das Leben erschwerten und mich von neuem von meinen Freundinnen mit ihren wohlgeformten, männerhandvollgroßen Busen distanzierten. Irgendwie war dummerweise die mit Abschluß der Pubertät versprochene Schönheit an mir spurlos vorbeigegangen.
Meine Eltern zogen um und wir Kinder mit ihnen. Ich fand mich in einer neuen Umgebung unter neuen Menschen wieder und die alte Befangenheit, die sich im Kreise von Jugendlichen, mit denen ich die Hälfte meines Lebens verbracht hatte, verloren hatte, kehrte nun zurück. Von Neuem war ich mir meines Aussehens, meiner penetranten Art und meiner sagenhaften Ungeschicklichkeit schmerzhaft bewußt. Aus dieser Zeit stammt auch der wenig schmeichelhafte Spitzname “Olli Fant“, den ich bis heute nicht losgeworden bin.
Früher oder später fand ich dann doch wieder Anschluß und wurde ausgeschlossen, weil die, die ich als meine Freundinnen betrachtete selbst Anschluß fanden - an ihre ersten festen Freunde. Mittlerweile beschränkte man sich schon lange nicht mehr aufs Küssen, man ging miteinander ins Bett und das waren Erfahrungen, die trennten, anstatt zu vereinen.
Alleingelassen sann ich auf einen Ausweg. Und das war der Augenblick, in dem du, mein lieber James, wieder aus der Versatzkiste der Erinnerungen geholt und abgestaubt wurdest. Ich förderte Bilder, Briefe und alte Kenntnisse zu Tage und überraschte die Grazien um mich herum mit Reden, die den Gedanken, ich könnte gar noch Jungfrau sein, schlicht lächerlich machten.
Wie es so ist, wenn man glaubt, einem Erfahreneren, Gesetzteren gegenüberzustehen, begannen die Mädchen meiner Klasse mich, die ich noch nie auch nur eine einzige sexuelle Begegnung gehabt hatte, um Rat anzugehen. Die Tatsache, daß meine Beziehung zu einem wesentlich älteren Mann, der noch dazu in einem anderen Land lebte, glücklich zu sein schien, brachte mir ihr Vertrauen ein. Und ihr Vertrauen becherte mir neues Wissen und die Möglichkeit eine Erfahrung zu heucheln, die der einer Puffmutter glich. Ich lernte in dieser Zeit eine hervorragende Zuhörerin zu sein.
Nun war es nötig, nicht ganz so angreifbar zu sein. Ich beichtete die ganze Sache schließlich meinem älteren Bruder. Schon Tage vorher war mir bei dem Gedanken an diese Aussprache übel gewesen, aber er war überraschend verständnisvoll und stellte sich - da es ihm, wie ich später erfuhr, nicht anders ging - voll hinter mich, fest davon überzeugt, daß alles, was dazu diente mir Sicherheit und einen festen Halt in meiner Klasse zu verschaffen, rechtens war. Er war es, genau wie ich, leid, immer als Außenseiter und Trottel dazustehen und ich weiß nicht, war es der Wunsch, daß seine kleine Schwester es besser haben sollte oder die Freude daran, alle anderen für blöd zu verkaufen, die ihn dazu brachte mich zu unterstützen, auf jeden Fall bestätigte er jedes Wort meiner Lügengeschichte, behauptete den guten James persönlich zu kennen und trug mit vielen kreativen Einfällen zur Buntheit meines imaginären Liebeslebens bei.
Er war es auch, der unsere Schwester einweihte. Sie war als einzige von uns dreien immer beliebt und extrovertiert gewesen. Ein hübsches, zierliches Kind, das rein äußerlich gar nicht in unsere Familie paßte und die Probleme ihrer Geschwister nicht verstehen konnte. Aber sie hatte Humor und lachte sich über diese Verschwörung fast tot. Es machte ihr Spaß mit uns eine geheime Gemeinschaft bilden zu können, nachdem sie als mittleres Kind meistens ausgeschlossen worden war und genoß das Musketiergefühl. Gegen diesen Familienbund kam keiner an.
Aus dem, was mir erzählt wurde und dem, was ich in einschlägigen Büchern las, bastelte ich mir meinen James zusammen. Er, nein, du warst wunderbar. Du konntest genauso kindisch sein, wie ich, wenn wir gerade keine Lust darauf hatten, uns erwachsen zu verhalten. Was ich tödlich ernst nahm, räumtest du mit einem Lachen beiseite, bis ich es selbst wieder mühelos schaffte. Du warst zärtlich und verständnisvoll und man konnte sich dir mit dem sicheren Wissen anvertrauen, daß du einen nicht hintergehen und fallen lassen würdest. Mein Gott, ich begann wirklich dich zu lieben. Wenn ich von dir sprach, begannen meine Augen zu glänzen und es wurde in meinem Herzen warm. Da gab es so viele schöne Szenen zwischen uns beiden, die ich mir ausmalte, bis ich sie beinahe selbst glaubte.
Bei Truman Capote hatte ich einen Satz gelesen, der mich nicht in Ruhe ließ. Da wurde ein Mann beschrieben, der seiner Frau, während er sie hofierte, immer die Zigarette anrauchte, um sie ihr erst in den Mund steckte, wenn sie bereits brannte. Also saß ich im Café, steckte mir eine Zigarette an und stellte mir vor, daß du es warst, der sie mir mit seinen schönen Fingern zwischen die Lippen steckte. Und wenn du dann dabei ganz zufällig mit deinen Fingerkuppen meine Lippen berührtest, spürte ich diese Zärtlichkeit bis in meinen Magen hinunter und erwiderte sie sanft mit einem Kuß.
Du gabst mir einen unglaublichen Mut. Ich hatte nicht auch nur das geringste Selbstbewußtsein und unter normalen Umständen hätte ich es nie gewagt alleine in ein Café oder ein Restaurant, eine Disco oder ein Kino zu gehen, und wenn ich es doch getan hätte, hätte ich vor lauter Nervosität keine Sekunde stillsitzen können. So aber stellte ich mir vor, daß ich gar nicht wirklich alleine war, daß ich auf dich wartete oder du kurz auf der Toilette wärst. Und es half. Ich amüsierte mich mit allem, was mir einfiel und wenn mir doch einmal auffiel, daß ich als einziges von allen abwesenden Mädchen nie angesprochen wurde, konnte ich mich damit trösten, daß niemand sein Glück bei ein Mädchen versuchen würde, das einen Begleiter wie dich hatte.
Meine Freundinnen waren ehrlich beeindruckt von dir. Sie glaubten dich zu kennen, denn ich berichtete ihnen regelmäßig von deinen Besuchen und Gedanken, zeigte ihnen Karten, die du, dank der Navy ein echter Weltenbummler, mir von überall her geschickt hast. Daß sie in Wirklichkeit von einem angeberischen Bekannten, der seinen Vornamen Johannes mit J. abkürzte, stammten, störte niemanden, am allerwenigsten mich. Bewiesen sie nicht, daß du lebtest und an mich dachtest ?
Manchmal, wenn meine Freundinnen mich besuchten und in besonders guter Stimmung vorfanden, fragten sie mich mit wissendem Blick, ob “er“ wohl wieder dagewesen sei und ich nickte lächelnd. “Schade, du hast ihn eben verpaßt.“
Und natürlich unterstützten die üblichen Gerüchte meine Glaubwürdigkeit. Da machte die eine zur Gewißheit, was die andere bislang nur vermutet hatte und wenn ich sagte : “eigentlich müßtest du ihm begegnet sein. Er fährt so ein rotes Auto“, dann konnte ich mir sicher sein, daß die Betreffende ihn gesehen, aber leider gerade nicht aufgepaßt hatte.
Ohne dich hätte ich all die vielen Parties nicht durchgestanden, auf die ich eingeladen war, um dann mit einem Glas Sekt in der Hand in der Küche zu sitzen, während im Wohnzimmer das Licht ausging und die festen Pärchen ebenso wie die Pärchen in spe eng umschlungen miteinander tanzten. Denn wenn mich meine Freundinnen dann fragten, warum der Knabe, den man für mich eingeladen hatte, jetzt mit einer anderen turtelte, konnte ich ihnen immer noch verschweigen, daß er mich nur einmal angesehen und dann die Flucht angetreten hatte und sagen: “Mein Gott, es ist blöd, aber ich liebe ihn eben doch.“ und jeder wußte, wer gemeint war und bewunderte meine tugendhafte Standhaftigkeit.
Auch Alter kann Selbstvertrauen geben und ich wurde so alt, daß ich einen Teil der Jungen als zu kindlich aussonderte. Denen blickte ich dann mit verächtlich-mitleidigem Blick hinterher, auf diese Weise die Unverdorbenheit der Jugend betonend, die aus ihren Milchgesichtern sprach und überging die Tatsache, daß sie anderen Mädchen hinterherpfiffen.
Mit den Jungen meines Alters war es etwas anderes und oft verfluchte ich mich, fragte mich, was mit mir nicht stimmte und verbrachte Stunden vor dem Spiegel, bis ich mein Gesicht regelrecht zu hassen begann. Schließlich beschloß ich, daß es an dir liegen mußte. Ich galt ja praktisch als verheiratet, wie sollte es da einer wagen mich anzusprechen.
Ich spielte mit dem Gedanken dich ertrinken zu lassen, aber das schien mir denn doch zu grob einer so großen Liebe gegenüber, also bekam ich Zweifel an deiner Treue, weil ich schon längere Zeit keine Nachricht von dir bekommen hatte, weinte mich bei einer meiner besseren Freundinnen aus und wartete auf die Jungen.
Allein, sie kamen nicht. Ganz im Gegenteil, die männlichen Freunde, die ich bis jetzt auf in großer Zahl gehabt hatte, begannen mich zu meiden, als ich ihnen nicht mehr als wertneutrale Beraterin zur Verfügung stand, sondern sie als weibliches Wesen bedrohte. Meine Freundinnen verloren binnen kurzem ihr Interesse an meinen Klagen und mit meinem schönen Liebsten hatte ich eine Menge Prestige eingebüßt.
Es half alles nichts, du mußtest mich um Vergebung anflehen. Zwei Stunden telephonierte ich angeblich eines Abends zum Leidwesen meiner Eltern mit England, bevor ich am nächsten Tag mit breitem Lächeln und frischfrisierten Haaren in die Schule kam. Alles war wieder in Ordnung. So schätzte man mich. Immer fröhlich und praktisch verlobt.
Natürlich fühlte ich mich oft genug alles andere als fröhlich. Vor allem dann, wenn das über mich kam, was Böll so schön das “Begehren der Frau“ nannte. Ich war keine 19. Ich wollte geküßt und gestreichelt werden und außerdem war es mittlerweile wirklich an der Zeit mit einem Mann zu schlafen. Nicht wie früher als Erfahrungswert, sondern weil ich es brauchte, wie man essen und trinken muß.
Unsere Familie hat nie zur Überbevölkerung beigetragen. Meine beiden Tanten, mein Bruder, alle sind wir nicht verheiratet. Von dreien hat aus unserer Familie immer nur einer seine Jungfernschaft verloren. Erst mein Vater und dann meine Schwester. Uns anderen ist sie geblieben, auf daß wir sie tragen, in Ewigkeit, Amen.
Oh ja, diese Jungfernschaft. Sie kann ziemlich belastend sein für ein junges Mädchen. Bei einem Jungen kann man das ja nicht so genau nachprüfen und etwaige Unfähigkeiten immer noch als Unerfahrenheit auslegen, die sich schnell genug geben wird. Aber ein Mädchen wird sich zwangsläufig verraten und je älter ich wurde, desto mehr Angst hatte ich vor diesem Verrat der ersten Nacht. Von wegen unbefleckte, jungfräuliche Schöne. Das ist für uns schon lange kein Wert mehr, sondern nur ein Beweis dafür, daß man nicht weggekommen ist.
Dieses Problem ist mir jetzt, da meine Haare ergraut und mein Apfelgesicht großmütterlich geworden ist, genommen. Was geblieben ist, ist die Begierde nach einem Mann. Was soll‘s, ich brauch‘s. Warum sollte ich es nicht zugeben ? Und der perfekteste Traummann kann diese Begierde nicht stillen. Ein großer Nachteil. Aber dafür dein einziger. Andere Männer haben andere. Wie gesagt hielt man mich ja auch gar nicht mehr für jungfräulich. Ich behielt meine Stellung als wertvolle Beraterin für Männlein und Weiblein bei, bis ich mein Abitur hatte und vor der Frage stand . Und was jetzt ?
Da ich mich so ans Zuhören und beraten gewöhnt hatte, entschloß ich mich dazu, Psychologie zu studieren. Das war der Augenblick, der für unsere endgültige Trennung vorgesehen war. Eine Reise nach London, ein Streit und Schluß. Ich hatte mir alles genau zurechtgelegt. Während meines Studiums wollte ich mich nicht länger mit einem Freund belasten, der in der ganzen Welt herumreiste, anstatt bei mir zu sein, wie es sich gehörte.
Aber wieder kam es anders, als geplant. Ich denke, ich hatte es nicht als einzige schwer als Single in unserer Gesellschaft alt zu werden. Sicher, Jungeselle, das hat noch etwas nobles und man denkt automatisch an eine Art Jokus von Pokus mit angegrauten Schläfen und Clark Gable Lächeln. Aber wer läßt sich schon gerne Jungfer nennen ?
Ich zumindest hatte keine Lust, als alt und ein wenig sonderbar ausgemustert und mit hämisch-mitleidigen Blicken bedacht zu werden. Die Opferrolle ging mir auf die Nerven. Nach den ersten beiden Semestern, in denen man mich auf ein eventuelles Lesbentum abgeklopft und schließlich als hoffnungslosen Fall aufgegeben und den Witzeleien und kleinen, bösartigen Spitzfindigkeiten der besser Gestellten überantwortet hatte, versöhnte ich mich wieder mit meiner alten Jugendliebe und zog sogar mit ihr zusammen.
Noch während der Abiturvorbereitungen war mein Vater gestorben und zu Beginn meines Studiums folgte meine Mutter ihm. Ich kaufte mir von meinem Erbe eine kleine Wohnung, die ich mit allen möglichen Erinnerungsstücken vollstopfte, die meine Eltern über die Jahre gesammelt hatten und die ich auf keinen Fall wegwerfen wollte. Mit diesen und weiteren Versatzteilen erbaute ich mir meine Märchenwelt und entwickelte eine Phantasie, um die mich jeder Bühnenbildner beneidet hätte. Godot konnte nicht an- oder abwesender sein, als mein guter, geliebter James.
Ich begann meine Vorstellung damit, daß ich den Verlobungsring meiner Mutter hervorkramte und mir an den Finger steckte. Ich trug ihn mit doppeltem Stolz, verband er mich doch sowohl mit dir, als auch mit meiner Mutter, zwei Menschen, die ich umso mehr liebte, als sie für mich völlig unerreichbar waren.
Dann richtete ich meine Wohnung auf einen Mann aus. Rasierapparat und eine zweite Zahnbürste ins Bad. Vor den Spiegel After Shave. An den Haken im Flur einen Männermantel und ein breitgeschnittenes, modisches Sakko. Darunter drei verschiedene Paar Schuhe, zwei elastische, ganz offensichtlich getragene Sportschuhe und einmal schwarzes, penibel sauber poliertes Lackleder. Unter das zweite Kopfkissen im breiten Doppelbett meiner Eltern kam ein geschmackvoller Pyjama und als ich sogar noch eine getragene Navyuniform auftrieb, war mein Glück perfekt.
Es fiel mir nicht schwer, meine Wohnung bewohnter aussehen zu lassen, als sie tatsächlich war. Ein paar englische Bücher, die laut Eintragung James Richardson gehörten, eine englische Seglerzeitschrift, die ich auf deinen Namen abonniert hatte und gelegentliche Zettel auf dem Eßtisch (“Be back in a couple of minutes“ oder “had a call from M. Got to go, call you later, love J.“) vervollständigten das Ambiente.
Fast jeden Tag fiel mir eine neue Variante ein, es war ein wunderbares, unterhaltsames Spiel dein Leben auszustaffieren und bald war meine kleine Wohnung so voll mit deinen Besitztümern, daß ich meine eigenen nur mit Mühe und Not unterbringen konnte.
Du warst ein Clown und ein Romantiker, ein Weltenbummler und Philosoph, eine Mischung zwischen Corto Maltese, Legolas und Fabian-Labude. Und du warst schlichtweg umwerfend. Du trafst dich nicht mit meinen Freunden, aber wenn wir in den Urlaub fuhren, unterschriebst du auf den Karten und deine Kommentare riefen stets lautes Gelächter hervor.
Dieser Beweis meiner Normalität enthob mich der psychologischen Analyse meiner Kommilitonen und brachte mich in die Position im Gegenzug sie zu analysieren. Und da gab es so manche lohnenswerte Auffälligkeit. Zum erstenmal konnte ich Gefallen an diesem kleinen Gesellschaftsspiel finden. Mit der Zeit gab auch der Hartnäckigste zu, daß James ein unglaublicher Mann sein mußte, wenn er meiner Kritikfreude über einen so langen Zeitraum hinweg standhalten konnte.
Meine Freundinnen heirateten und bekamen Kinder und ich war Brautjungfer, Trauzeugin und Patin, stand dabei und lachte und weinte und beglückwünschte alle und fühlte mich furchtbar elend, weil sie, die sich manchmal wirklich nicht viel aus Kindern machten, welche haben durften, während es mir, die ich sie liebte, versagt blieb. Ich dachte kurzzeitig an eine künstliche Befruchtung, aber genau so, wie es mir immer widerstrebt hatte, James` Briefe selbst zu verfassen, war mir auch das zuwider. Also blieben James und ich ein Kinder- und trauscheinloses Paar. Es tat mir vor allem für ihn leid. James liebte Kinder.
Mit dem Fortschreiten meines Studiums tauchte ein neues Problem auf, denn ich ging immer öfter dazu über, meine Beziehung zu James zu analysieren und mußte mir die Frage gefallen lassen, ob ich schon schizophren war oder einfach nur an Realitätsverlust litt. Im Grunde war ich davon überzeugt, daß ich psychisch krank genannt werden mußte und die einzige Möglichkeit einer Heilung in einer endgültigen Trennung und Rückkehr in die Wirklichkeit bestand. Gleichzeitig fiel mir mit jedem weiteren Semester die Beantwortung der Frage, was oder wer eigentlich normal ist, immer schwerer, bis mir als einzige haltbare Definition nur noch die blieb, daß jeder Mensch einen mehr oder weniger großen psychischen Knacks hat und die Einstufung der Störung nur nach der Dringlichkeit des Behandlungsbedarfes vorgenommen werden konnte.
Was mich anbelangt, so schmerzte es mich alleine die Möglichkeit einer Trennung in Betracht zu ziehen sehr, nachdem ich mich so an meinen unaufdringlichen Liebhaber gewöhnt hatte. Wir diskutierten es in einem langen candle-light Dinner mit viel Wein aus und kamen zu dem Schluß, daß es sich bei meinen Erfindungen um reine Schutzmechanismen handelte, die mich vor krankhaften Depressionen, Minderwertigkeitskomplexen und den Sticheleien der Umwelt bewahrten. James hatte gewonnen. Er blieb.
Meine Freundinnen stritten sich mit ihren Ehemännern und deren Müttern. Ihre Kinder wurden krank und kamen in die Flegeljahre. Dieses oder jenes Paar ließ sich scheiden und man traf sich in anderer Besetzung wieder, um bei einer neuen Hochzeit die Brautjungfer zu spielen, die Ehe zu bezeugen und irgendeine entnervte Langzeitgattin in irgendeinem entlegenen Zimmer zu trösten. Mit der Zeit hatte ich sie fast alle auf “meiner Couch“. Und ich beschloß mir dir, meinem einzigen James sehr, sehr glücklich zu sein.
Weißt du, das ist etwas, das ich in meinem Leben herausgefunden habe: es hält sich alles immer die Waage. Natürlich ist es wundervoll verheiratet zu sein und Kinder zu kriegen - aber hast du dir auch einmal angesehen, wie viele Ehen geschieden werden, wie viele Leute glauben, ihr Leben in ihrer Ehe vergeudet zu haben ? Ich hatte meine Form der Ehe, die zugegebenermaßen alles andere als perfekt war, aber gleichzeitig fühlte ich mich nie wirklich alleine und fand neue Wege mich zu verwirklichen, die mehr als ein reines Ausweichmanöver waren, keine Beschäftigungsstrategien. Nein, es stimmt schon, es ist gar nicht so furchtbar alleine zu bleiben, wenn man sich nicht von anderen dazu überreden läßt, aus dieser Vermutung eine Überzeugung zu machen. Und wiegen die traurigen Stunden echter Einsamkeit wirklich schwerer, als die das Hasses und der Frustration, die nunmal mit dem Zusammenleben mit einem anderen Menschen einhergehen ? Oder nennt man sie nur schwerer, weil sie nicht dem normierten Idealbild von Ehe und Kindern entsprechen ? Wie auch immer - jede Form des Lebens ist lebenswert und du hast meines nicht nur wertvoll sondern auch bunt, zufrieden und glücklich gemacht.
Und dann kam der Höhepunkt unseres Lebens - unsere eigene kleine Tochter. Natürlich war sie nicht wirklich unsere Tochter, ich hatte sie ja nicht zur Welt gebracht - wie auch, es wäre die erste jungfräuliche Geburt gewesen, an die ich geglaubt hätte. Nein, meine Schwester und ihr Mann hatten einen Autounfall und ich “erbte“ ihre Tochter.
Das war zwar nicht so einfach, wie es dieses Wort implizieren mag, aber meine Eltern waren bereits tot, die Eltern des Vaters, übrigens ein Einzelkind, zu alt, um noch ein Kind groß zu ziehen. Das Jugendamt zögerte mir die Adoption zuzugestehen, da ich alleinstehend war, aber ich hatte einen relativ guten, sicheren Verdienst und außerdem hatten die Beiden das Kind in meiner Obhut zurückgelassen, als sie losfuhren, was bei der Anhörung als elterlicher Vertrauensbeweis anerkannt wurde.
Nicht, daß ich mich über den Tod meiner Schwester gefreut hätte, Gott, du weißt selbst am besten, wie sehr es mich traf. Ich habe meine Schwester immer geliebt. Aber meine kleine Paula war nun einmal das Beste, das ich in meinem Leben geschenkt bekommen habe. Außer dir, versteht sich. Und ich kann den Moment, in dem sie zu mir kam nur mit unbeschreiblicher Freude verbinden.
Kennst du die Erzählung von dem einsamen Mann, der sich eine Familie von Schaufensterpuppen zulegt ? Ich hatte es ja noch nicht einmal bis zu dieser Substanzhaftigkeit gebracht und plötzlich war da ein winzigkleines, rosarotes Baby, das nur zu mir gehörte und jeder, der die Geschichte nicht kannte, nahm automatisch an, es müsse deines und meines sein, obwohl ich die Wahrheit nie abstritt oder auch nur zu vertuschen suchte.
Wie hat Paula vor kurzem gesagt, als sie mit ihren eigenen Kindern bei mir zu Besuch war ? “Es ist völlig egal, wer mich geboren hat. Meine Eltern sind du und James. Es könnte nie andere für mich geben.“
Paula brauchte ein Heim und eine Familie und ich war fest dazu entschlossen, ihr beides zu geben. Zu dieser Zeit hatte ich bereits meinen Doktortitel und konnte es mir leisten, eine kleine Praxis sowie die Wohnung direkt darüber zu mieten. Dann stellte ich eine Sprechstundenhilfe und ein weiteres Mädchen an und hoffte auf steten Zulauf. Zu meinem Glück war das damals noch einfacher als heute und da ich von meiner früheren Arbeitsstelle eine ganze Menge an Patientengut mitnehmen konnte, ging meine Rechnung auf.
Paula konnte in der Wohnung schlafen, die ich mit Babyphon überwachte oder später im Spielzimmer der Praxis herumtoben und wenn irgend etwas nicht in Ordnung war, war sofort eine von uns dreien bei ihr, um nach dem Rechten zu sehen. Alles in allem war sie ein friedliches und pflegeleichtes Kind, obwohl sie die volle Palette an Streichen durchlief, die allen Babies gemein zu sein scheint. Sie trank Hustensaft und aß Niveacreme, fiel die Treppe herunter und sperrte sich ins Klo ein, bekam Zähne und fürchtete sich vor Gespenstern, wenn ich todmüde in mein Bett gehen wollte, beziehungsweise wurde krank, wenn mein Terminkalender bis zur letzten Minute mit Patienten vollgestopft war.
Ich hatte die Theorie, daß ein Kind so oft als nur irgend möglich in der Nähe seiner unmittelbaren Kontaktperson sein sollte, also schleppte sich sie überall hin mit, ob nun auf Klassentreffen und Feste, Psychologentagungen und Reisen, in die Oper oder ins Café etc. Es gibt natürlich bequemeres, als mit Windeleimer, Milchflasche und Lieblingsspielzeug bewaffnet durch die Stadt zu hetzen, aber dem Kind bekam es erstaunlich gut. Entgegen aller Warnungen wurde sie weder hektisch noch unleidlich, sondern lernte in jeder Stellung und Situation zu schlafen.
Viele kinderlose Emanzen sprachen mir ihren Glückwunsch zu dieser Karriere-Kinder-Integration aus, die ihrer Meinung nach ganz neue Maßstäbe der weiblichen Selbstdefinition und Freiraumrealisierung setzte, aber das ist alles Quatsch. Daß dank der Emanzipation junge Frauen heute nicht nur arbeiten, sondern auch noch Kinder alleine groß ziehen und den ganzen Haushalt versorgen dürfen, während im Gegenzug die Männer aufgehört haben Komplimente zu machen, Koffer zu tragen und Türen offenzuhalten hat mit Selbstverwirklichung und Eigenbestimmung wenig zu tun. Eher schon mit chronischer Überlastung, Schinderei und der großmütigen aber unüberlegten Entlassung mancher Männer aus einer Pflicht, die sie stets ungern getragen haben. Tatsache ist ich hatte einfach Glück. Paula war das ideale Kleinkind. Was ich getan hätte, wenn sie nicht mitgespielt hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Wahrscheinlich hätte ich es nicht geschafft.
Was uns anbelangt, so traf es sich günstig, daß Paula den Hang zur Romantik und die blühende Phantasie, die allen Mitgliedern unserer Familie gemein ist, geerbt hat. Ich erzählte ihr von Anfang an von dir, weil ich nicht einsah, warum ich dich nicht mit ihr teilen sollte, auch wenn deine Existenz streng genommen eine Lüge war. Überall konnte man lesen, daß ein Kind einen Vater braucht und ich gab ihr das, was ich zu bieten hattte - dich. Und sie erkannte instinktiv die Chance, die sich ihr da bot und machte einen Vater aus dir, neben dem anderer nicht bestehen konnten.
Es gab ein paar unscharfe, überbelichtete Männerphotos, die notfalls als Zeugnisse deines Vorhandenseins durchgehen konnten, zusammen mit einer Menge Landschaftsaufnahmen und einige Portraits von mir, manchmal sogar im Arm irgendwelcher männlicher Freunde. Ich machte mich mit Begeisterung daran aus diesen Einzelteilen ein Puzzle unserer Liebe zu basteln und als Paula zu mir kam, um ihren Vater einzufordern, holte ich das fertiggestellte Gesamtkunstwerk hervor. Zuerst sahen wir uns zusammen die Photoalben an, die mittlerweile auch mit diversen Photos von Paula selbst ergänzt worden waren und dann gewöhnte ich sie an deine Eigenheiten. Ich erklärte ihr, welche Musik du liebtest, welche Bücher du last. Da sie mich immer nur klassische Musik hörend kannte, ordnete sie dir automatisch die moderne zu und wenn ich am Abend diese Platten auflegte, wußte sie, daß du da warst und schlief wieder ein.
Natürlich hätte das nie gereicht, um sie zu täuschen Ich ließ dich bei der Navy, weil ich so die Möglichkeit hatte, dich auf die hohe See zu verbannen, wenn du gerade ungelegen kamst. In dieser Beziehung warst du immer schon bewundernswert flexibel. Außerdem gefiel Paula die Vorstellung einen Kapitän zum Vater zu haben.
Wenn ich wußte, daß sie mich hören konnte, gab ich vor mit dir zu sprechen. Du hinterließt ihr kleine Briefe, als sie alt genug war, sie Buchstabe für Buchstabe zu entziffern, schicktest ihr Ansichtskarten aus der ganzen Welt, brachtest von jeder deiner Reisen Geschenke für sie mit und manchmal riefst du uns sogar an. Dann hörte Paula am anderen Ende der Leitung eine Männerstimme und sie reagierte jedesmal so überschwenglich, daß mein Bruder keine drei Worte sagen mußte.
Wie hätte sie also annehmen können, daß es dich gar nicht gibt ? Außgerechnet sie, die so davon überzeugt war, dich zu kennen, dich immer um sich zu wissen, die deine Liebe zu ihr in jeder Minute spüren konnte. Und da sie an ihren Vater glaubte, glaubten auch etwaige Zweifler an ihn. Und da auch etwaige Zweifler an ihn glaubten, glaubte sie umso fester an ihn.
Als sie alt genug war um zu verstehen, habe ich ihr alles gestanden. Ich hatte furchtbare Angst, daß sie sich betrogen fühlen würde oder verlassen, daß sie nicht nachvollziehen könnte, daß du meine einzige Chance warst, nicht an meiner eigenen Einsamkeit zu verzweifeln und ihr eine intakte Familie zu bieten, die mit denen ihrer Freunde konkurrieren konnte. Schon lange davor hatte ich das Gefühl eventuell nicht nur als Mutter sondern auch als Psychologin versagt zu haben, indem ich ihr mein eigenes Lügengespinst aufzwang.
Ihre einzige Reaktion war mich für verrückt zu erklären und mein Geständnis zu ignorieren. Ihr ging es nicht anders als mir - sie wollte dich haben und behalten. Ich brauchte dich als Mann und Freund, sie dich als Vater. Keine von uns beiden war dazu bereit dich aufzugeben aus dem lächerlichen Grunde heraus, daß es dich nicht gibt.
Also erklärten wir deine imaginäre Existenz zu unserem süßen kleinen Geheimnis und ließen alles so, wie es seit jeher war. Es hatte sich nichts geändert. Das hat es bis heute nicht. Für sie bist du immer noch ihr Vater. Und sie hat mir erzählt, daß sie immer, wenn sie Probleme hat, an dich schreibt. Und davon überzeugt ist, daß du ihr auf deine Art antwortest.
Wenn wir in den Urlaub fuhren, trafen wir uns hier und dort mit dir. An wie vielen Häfen haben wir nicht auf dein Schiff gewartet, wie vielen Seeleuten hat Paula nicht von dem englischen Schiff erzählt, das bald mit ihrem Vater an Bord einlaufen wird. Leider kamst du immer etwas zu spät und Paula lag schon im Bett, oder du hattest nur wenig Zeit und sie war gerade fort. Dann schlenderten wir am Strand entlang und unterhielten uns und du sagtest mir all die tausend Dinge, die du Paula und mich wissen lassen wolltest, all die Gedanken, die du dir in den langen Zeiten deiner Abwesenheit über uns zwei gemacht hattest. Es tat gut, jemanden zu haben, der an einen denkt.
Meine Freundinnen waren beeindruckt über die Freiheiten, die ich dir zugestand und die Tatsache, daß ich nicht von Eifersucht verzehrt wurde. Aber das hatte ich nicht nötig, denn ich wußte, daß du mir nie wirklich untreu werden konntest, daß du immer voll für mich da sein würdest, wenn ich dich brauchte, daß das, was zwischen dir und mir war, nie zwischen dir und einer anderen sein könnte. Du gabst mir alles, was ich mir wünschen konnte und selbst, wenn du es für eine andere Frau, ein anderes Kind genauso tätest, hätte ich es ihnen denn neiden können ? Sollte es mich nicht viel eher glücklich machen ? Wieviel mehr als 100 % kann eine Frau von einem Mann erwarten ?
Nein, als ich, die ich ja deinetwegen andauernd von einem Hafen zum nächsten reiste, auf eine junge Frau traf, die angeblich ein Kind von dir hatte und außerdem schwer in der Klemme saß, nahm ich sie mit und niemand hätte sich ihrer liebevoller annehmen können, als Paula und ich. Es war schön plötzlich eine Großfamilie zu sein und Isabella und ich unterhielten uns oft und gerne über den einen Mann, den wir liebten, während Paula fasziniert daneben saß und korrigierende Bemerkungen einwarf.
Manchmal stritten wir uns auch ein wenig über die eine oder andere deiner Charaktereigenschaften, aber letzten Endes konnten wir uns immer darauf einigen, daß du eben ein sehr vielseitiger Mann bist. Und Isabella ist eine kluge Frau. Sie kümmerte sich um Paula, als wäre es ihre eigene Tochter und eine Zeitlang wuchsen sie und Miguel zusammen auf, wie Bruder und Schwester. Wenn ich aus der Praxis kam oder Urlaub hatte, nahm ich ihr die Kleinen ab und sie war frei alles das zu tun, wonach es ihr verlangte. Was genau das war, habe ich nie gefragt oder erfahren, aber es müssen eine ganze Reihe Männer gewesen sein, die sich da die Klinke in die Hand gaben, wenn ich an all die Anrufe denke, die ich für sie abschmetterte.
Schließlich, als Paula 12 war und Miguel 10, heiratete sie einen deutschen Matrosen und gab alle Ansprüche auf dich endgültig auf. Wir stehen uns heute noch so nahe, wie Schwestern und ihre Kinder nennen mich nach gutem alten Brauch Comadre, auch wenn das das einzige spanische Wort ist, das sie noch kennen.
Ich arbeitete gerne und viel und als die Jahre dahingingen, habilitierte ich mich und begann als Privatdozentin an unserer Universität zu arbeiten. Noch etwas später folgte die feste Anstellung an der Hochschule. Die Lehre befriedigte mich unheimlich, jedes neue Semester war eine Herausforderung, der ich mit echtem Lampenfieber entgegensah und wenn die Ferien kamen, verließ ich den Hörsaal mit schwerem Herzen.
Meine männlichen Bekannten empfanden eine gewisse anerkennende Angst vor mir und eine gewisse anerkennende Bewunderung für dich, der du es so lange mit mir ausgehalten hattest, ohne dich an dieser “starken Frau”, zu der man mich aus Liebe zur Katalogisierung erklärt hatte, zu stören. Das kam mir zugute, denn es machte mich menschlicher, als es meiner Rolle in den Augen der anderen enstprochen hätte. Sie verziehen mir weder, daß ich häßlich, noch daß ich intelligent und erfolgreich war, aber beides kombiniert und in einer festen Beziehung mit einem Mann, der seinen Daumen draufhielt, das konnte gerade noch akzeptiert werden.
Doch, ich glaube, ich war dank deiner fast immer eine glückliche und zufriedene Frau. Schließlich hatte ich alles, was ich mir wünschen konnte. Und Paula sagt selbst, daß sie ein glückliches Kind war. Sie hatte eine gute, liebevolle Familie. Eine Mutter, die sich ehrlich bemühte und nur allzu oft versagte und einen Vater, der so wundervoll, so perfekt war, wie sie ihn sich zurechtträumte. Und der immer für sie ganz alleine da war, wenn sie ihn brauchte.
Manchmal frage ich mich, was aus dem anderen, dem James Richardson geworden ist, der mich in Dover küßte. Ob er glücklich ist ? Ob er Kinder hat ? Ob er sich noch an die unattraktive kleine Deutsche erinnert ? Und ob er sich in meinem James wiedererkennen könnte ?
Du hast keinen Bierbauch bekommen und wenn Du mich besuchst, bist du fröhlich und liebvoll. Und das brauche ich so sehr. Du hörst mir zu und gibst mir Kontra, wenn kein anderer es wagt. Du bist das neutrale Gegenüber, daß ich in meinem Beruf dringend brauche, bringst mich auf den Boden zurück, wenn mir alles zu viel wird, wenn ich anfange, die Kontrolle zu verlieren. Du bist es, dem ich es zu verdanken habe, wenn ich ruhig und ausgeglichen eine Belastung ertragen kann, an der viele meiner Kollegen zu Grunde gehen. Du bist der gesunde Mittelpunkt meines ansonsten verrückten Lebens, der ruhende Pol, meine geheime Kraftquelle.
Vieles von dem, was mir meine depressiven Patienten erzählen, kann ich gerade deshalb so gut verstehen, weil ich selbst ähnliches erlebt habe. Das, was sie von mir unterscheidet, ist die Gewichtung, die die negativen Erfahrungen in ihrem Leben gewonnen haben. Nichts im Leben war mir sicher, außer dir. Es gab viele Stunden, da hätte ich mir voller Verzweiflung und Sehnsucht mehr gewünscht, als nur das. Da fühlte ich mich von aller Welt verlassen und konnte nicht mehr weiter, hatte das Gefühl, daß es keine Perspektiven mehr gab, in meiner Einsamkeit. Aber selbst da warst Du mir immer nahe und hast mir hochgeholfen, mir den Kopf zurecht gesetzt und mich daran erinnert, wie dankbar ich sein kann, für das, was ich habe.
Und deshalb ist meine Antwort auf die Frage, die man mir manchmal stellt, worauf meine gefaßte, fröhliche Ausgeglichenheit beruht : “ich lebe in einer sehr glücklichen Beziehung.”
Du, James, mein Mann, den ich nach so vielen Jahren wohl so nennen darf,, was bleibt mir noch zu sagen ? Wie kann ich dir danken, für vierzig wunderbare Jahre ? Für eine Tochter und drei großartige Enkelkinder meiner Jungfräulichkeit zum Trotz ? Wie kann ich Dir dafür danken, daß Du es mir möglich gemacht hast, mit einem Lächeln durch mein Leben zu gehen ?
James, mein Mann, Du, ich liebe Dich.