Der Unraum
Ermüdet durch den langen und monotonen Arbeitstag schlich Gregor in sein Arbeitszimmer und setzte sich in dem alten Chefsessel. Das Leder war kalt und er spürte ein kurzes Aufflammen der Gänsehaut.
'Auch, wenn sie mir dort draußen den kleinsten Rest der Freiheit rauben, so haben sie hier keine Macht über mich', dachte der füllige, kleine Mann. Er drehte sich auf dem Sessel in Richtung einer leeren Wand neben seinem Bürotisch und fing an sie fasziniert anzustarren.
Als er vor etwa fünf Jahren sein Haus entwerfen ließ, beauftragte Gregor den Architekten an der Stelle, die er gerade mit einem friedlichem und doch bohrendem Blick anschaute, einen Raum einzuplanen. Circa drei mal drei Meter groß sollte er sein, ohne Fenster und Türen. Die Inneneinrichtung überließ Gregor ganz der Fantasie eines befreundeten Innenausstatters. Nach der Fertigstellung des Hauses sollte der Zugang zu dem Raum für immer verschlossen und das Wissen um sein Inneres vergessen werden.
Auch im Nachhinein, als seine Jahre immer schneller und gnadenloser verstrichen, erfuhr niemand von der Existenz des geheimnisvollen Raumes - weder die Verwandten noch Freunde und auch nicht seine Verlobte mit der er über drei Jahre lang in dem Haus zusammenlebte. Es war alleine sein Wissen. Der Raum sollte von niemand anderen Phantasie beschmutzt werden. Und wenn er manchmal dabei ertappt wurde, wie er die Wand anstarrte, so gab er nie zu, was er in Wirklichkeit tat. Alles, was in diesem Raum geschah, gehörte nämlich ihm alleine - und es geschah eine Menge.
Manchmal verbrachte er Stunden damit, die mit waagerecht angeordneten Holzpaneelen verkleidete Außenwand des Raumes einfach zu beobachten und sich haarklein auszumalen, was gerade darin geschah. Er war überzeugt, dass gerade das Fehlen einer Möglichkeit in das Innere des Raums zu blicken, diesen mit allen möglichen Dingen und Ereignissen zu füllen vermochte.
Einmal war in dem Raum ein alter Mönch, der in Kreisen wanderte und dabei still, vor sich summend, meditierte. Ein andermal erblühte aus dem Parkettboden, den sich Gregor dort ebenfalls rein dachte, ein kleiner Kirchbaum, der unentwegt seine wunderbaren, rosafarbenen Blüten zu Boden regnen ließ. Manchmal verwandelte sich der Raum in eine von sonderbaren Lebensformen wimmelnde Unterwasserwelt, dann in eine blühende Oase mitten in einer Wüste oder in die Spitze eines mit Schnee bedeckten Berges. Es regnete, donnerte, bebte und loderte dort. Manchmal war es auch totenstill und leer wie im Weltall.
Durch seine Vorstellungskraft erschuf Gregor eine intime Realität des Raumes, füllte sie mit Zeit, verlieh ihr Gestalt und Wesen. Eine unendliche Macht die ihm das ersehnte Gefühl von Freiheit schenkte. Das spannendste für den vierzigjährigen Quantenphysiker war, dass er niemals wusste, was dort vor sich gehen würde, bevor er sich nicht gemütlich hinsetzte, entspannte und konzentrierte.
An einem Freitag des kalten und verregneten Novembers beobachtete Gregor in dem Raum einen kleinen Jungen der an einem sonnigen Sommermorgen etwas mit der Lupe auf dem vom Gras bewachsenem Boden suchte. Wie gerne hätte er ihm über die Schulter geschaut, mit ihm die frische Morgenluft geatmet und sich an den Sonnenstrahlen berauscht welche so zärtlich über die Grashalme strichen. Plötzlich drehte sich der Junge um und sah Gregor direkt an. Der ältere Mann erschrak zunächst, doch bald wandelte sich sein verspannter Gesichtsausdruck und ein trauriges Lächeln kam zum Vorschein. Er erkannte sich selbst, wie er oft in seiner Kindheit mit der Lupe nach Schätzen suchte. Eine schöne Kindheit die leider allzu früh endete. Der junge Gregor drehte sich wieder weg und obwohl bei seinem älteren Ich nun ein Gefühl der Melancholie keimte, war er froh und dankbar für diese wunderbare Erinnerung die sein Raum ihm schenkte.
Am folgenden Abend, als er sich wieder auf einige magische Stunden freute und es sich mit einer Tasse Tee davor gemütlich machte, passierte etwas Eigenartiges. Der Raum blieb leer. Da außer dem Architekten und dem Innendekorateur keiner wusste, wie es in dem Raum tatsächlich aussah, stellte Gregor ihn sich nun wie die restlichen Räume des Hauses vor – mit weißen, teilweise durch Holzpaneelen verdeckten Wänden und dunklem Parkettboden. Ein schauderhafter Gedanke ergriff ihn und ließ den Schrecken über den ganzen Körper wandern - 'was, wenn der Innenausstatter es sich leichtgemacht hat?' Immerhin war es Gregors eigener Wunsch gewesen, dass dieser das Innere des Raums nach seinen persönlichen Vorstellungen gestalten sollte. Vielleicht war sein Wunder-Raum genau wie all die anderen Räume! Und was, wenn er dort etwas Banales herein stellte - ein Möbelstück oder irgendeinen lächerlichen Gegenstand? Mit verzweifelter und angespannter Miene starrte Gregor auf die Wand, als ob er versuchen würde mit dem Blick hindurchzdringen. Er malte sich immer neue Formen der perfiden Verschwörung aus. Doch das schlimmste war, dass der Raum weiterhin leer blieb. Als ob er protestierte, sich gegen die unverschämten Vorwürfe des misstrauischen Verstandes wehrte. Unfähig und unwillig sich weiterhin zu konzentrieren, schleppte er sich ermüdet in sein Bett und beschloss den Raum bis zum nächsten Tag in Ruhe zu lassen.
Die Stunden auf der Arbeit zogen sich wie Tage dahin. Die Ungewissheit und die Angst, nie wieder etwas im Inneren seines Mausoleums der Träume zu erblicken, schürten in seinem Inneren Verzweiflung und rastlose Agonie.
Als er wieder Zuhause war und wie gewohnt Platz genommen hatte um die Vorstellung beginnen zu lassen, trat das ein, wovor er sich den ganzen Tag am meisten gefürchtet hatte – es passierte Nichts. Eine Stunde nach der anderen verflogen und Gregor starrte immer noch apathisch auf die leere Wand. Das Gleiche geschah auch am nächsten Tag und dem Tag darauf.
Wochen vergingen, es näherte sich die Weihnachtszeit, doch Gregors Gemüt wurde immer bedrückter und unglücklicher. Seine Freunde und Kollegen mieden ihn nun, noch mehr als für gewöhnlich. Er schlief nicht mehr richtig und nickte manchmal bei der Arbeit vor dem Computer ein. Blaue Ringe unter den Augen und eine fahle Hautfärbung waren die Konsequenzen und verliehen seiner ohnehin müden Erscheinung einen Hauch von depressiver Melancholie.
Er redete sich immer mehr ein, dass es nur eine Möglichkeit gab sich Erleichterung zu verschaffen - er musste die Wand niederreißen. Geduld gehörte noch nie zu seinen Tugenden. Doch was hatte er zu verlieren? Der Raum war praktisch nutzlos geworden. Zudem war er schon immer neugierig zu erfahren was in dem Inneren wirklich war, doch solange der Raum ihn mit solch wunderbaren Visionen versorgte, gab es keinen Grund ihn zu stören. Nun tat er aber nicht mehr wozu er bestimmt war.
Gregor wusste genau, was es bedeuten würde den Raum zu öffnen. Es hieße die mystische Welt darin für immer zu ruinieren, seine Unendlichkeit auf unseren Mikrokosmos zu reduzieren. Es hieße den Raum wie ein hilfloses Tier ausbluten zu lassen, nur, dass es kein Blut, sondern die mystische Kraft der Vorstellung wäre die ihm entwiche. Danach wäre der Raum wertlos, seine Magie für immer vernichtet.
Doch am ersten Weihnachtsfeiertag wurde das Schweigen des Raumes unerträglich, Gregor fühlte sich verraten, das Gefühl von einem Freund im Stich gelassen zu werden bemächtigte sich seines geschundenen Geistes. Er sprang vom Sessel und rannte nach unten in den Keller. In einer Kiste fand er viele alte Werkzeuge. Bewaffnet mit Jähzorn, einem Hammer und einem großen Schraubendreher machte er sich auf den Weg den Raum für seine Widerspenstigkeit zu strafen.
Nachdem die Paneele entfernt und ordentlich auf dem Tisch im Büro aufgestapelt waren, wischte Gregor sich den Schweiß von der Stirn und fing an wie ein Wahnsinniger mit dem Hammer auf die Wand einzuschlagen. Der Putz ließ sich noch relativ leicht entfernen doch die Ziegel stellten ein ernstes Hindernis dar.
Nassgeschwitzt durch die ungewohnte physische Anstrengung des fülligen Leibes begriff Gregor, dass er mit bloßem Hämmern nicht weiterkäme. Also nahm er den Schraubendreher zur Hilfe und benutze ihn als Pflock um den harten Spachtel zwischen die Ziegel zu beseitigen. Er schlug immer wieder auf den Kunststoff-Griff des Schraubendrehers und trieb ihn so immer tiefer hinein.
Bereits nach wenigen weiteren Schlägen gab der erste Ziegelstein etwas nach und rutschte ein Stück nach hinten. Motiviert durch diesen kleinen Erfolg fing Gregor an noch fanatischer auf die Wand einzuschlagen. Doch plötzlich stockte er, ließ den Hammer fallen und drückte gleichzeitig den Schraubendreher in der anderen Hand zusammen. Ein krampfhafter und betäubender Schmerz in der linken Brusthälfte überflutete seinen gesamten Körper. Das Herz wollte bei der perfiden Abrissaktion nicht weiter mithelfen.
Gregor dachte aber nicht daran aufzugeben. Mit letzter Kraft stemmte er sich gegen den einen, lockeren Ziegel und drückte ihn ins Innere. Ein sanftes, violettes Licht strömte sogleich durch die entstandene Öffnung. Gregors Pupillen weiteten sich, er steckte die Hand in den Spalt und versuchte weitere Ziegelsteine herauszubrechen doch der Schmerz wurde so stechend, dass er ihn nicht mehr ignorieren konnte. Und dennoch galten seine letzten Kräfte dem wunderbaren Leuchten. Kaum noch atmend, fauchend und schwitzend zog er sich an dem Spalt hoch und schaute endlich in den Raum hinein. Der violette Schein betuchte geschmeidig sein blasses Gesicht.
In der Mitte des Raumes stand ein großer, goldverzierter Spiegel der majestätisch seinen leblos-müden Blick reflektierte. Die Wände waren mit violett leuchtenden Phosphor bemalt, aufgeladen durch das Leuchten von hauchdünnen Lichtwellenleitern welche hundertfach, chaotisch durch den ganzen Raum verliefen und ihm die bezaubernde Fluoreszenz einhauchten. Der Zeit gänzlich entrissen, hatte Gregor für einen Augenblick das Gefühl den Raum in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Doch schon bald wich die Faszination und eine bittere Enttäuschung überkam ihn.
Voller Reue das bezauberndste in seinem Leben wie ein besinnungsloser Vergewaltiger entweiht zu haben ließ er den Spalt in der Wand los und rutschte völlig entkräftet zu Boden. Seine Augen fielen zu. Er war bereit den gerechten Preis für die unverschämte Entweihung seines geliebten Tempels zu zahlen.