Der unheimliche Friedhof
Sonderbare Dinge geschehen hauptsächlich in unheimlichen Geschichten oder Horrorstories, wobei Friedhöfe, Keller oder dunkle Dachböden die beliebtesten Schauplätze sind. Wer geht schon heute in der Dunkelheit über einen Friedhof, ohne ein mulmiges Gefühl im Bauch zu haben? Sicher, ein Friedhof ist immer etwas Unheimliches. Wenn man da an die vielen Leichen denkt, die unter der Erde liegen, zum Teil schon verwest, kann einem schon das Grauen kommen.
Normalerweise war ich kein Angsthase, aber sobald die Sonne untergegangen war, brachten mich keine zehn Pferde über einen Friedhof. Tagsüber schon, da nahm ich auf meinem Schulweg oft die Abkürzung durch den städttischen Friedhof, denn auf diesem Weg war ich etwa eine Viertelstunde schneller. Aber nachts - nein danke! dass dieser Friedhof tatsächlich unheimlich war, beweist folgende Geschichte, die ich vor einiger Zeit selbst erlebt hatte.
Im letzten Jahr meiner Oberschule wollten wir unsere Professoren zu Weihnachten mit einem kleinen Theaterstück überraschen.
Wir übten unser Stück also fleißig ein, natürlich außerhalb der Schulzeit und meist noch am späten Abend. So auch damals an jenem schicksalshaften 20. Dezember. Nachdem wir fertig geprobt hatten, verließen wir die Schule. Draußen war es bereits stockdunkel, kein Wunder, es war ja schon nach zehn Uhr abends. Mein Schulfreund Thomas, der denselben Heimweg hatte, begleitete mich. Als wir zum Friedhof kamen, blieb ich ganz selbstverständlich auf der Straße, während Thomas in die andere Richtung abbog. "Du willst doch nicht jetzt noch über den Friedhof gehen", sagte ich. Er starrte mich an. "Warum nicht?" entgegnete er. "Wir gehen doch immer diesen Weg, der ist kürzer." "Ja, schon, aber nicht in der Dunkelheit", antwortete ich. Er kannte meine Angst, doch ich glaube, das störte ihn nicht sonderlich. "Du kannst ja den Umweg machen, ich warte dann auf dich beim Ausgang." Mit diesen Worten ging Thomas auf den Eingang des Friedhofes zu. Das Gitter war selbst zu so später Stunde noch offen, und das wunderte mich sehr. Ich sah ihm ein Stück nach, dann machte ich mich auf den Weg. Ich hoffte, er würde wirklich warten, und ich hoffte, ihn heil am anderen Ende des Friedhofs wieder zu treffen. Doch das war jetzt nicht mehr mein Problem, sondern seines. Anscheinend hatte er keine Angst. Ich ging also rund um den Friedhof herum, und nach etwa zwanzig Minuten war ich auf der anderen Seite angelangt. Ich erwartete, Thomas zu sehen, doch der war noch nicht da. Sofort bekam ich ein sonderbares Gefühl. Ich wusste, er musste schneller gewesen sein als ich. Da sah ich plötzlich, dass das Gitter auf dieser Seite geschlossen war. Das unheimliche Gefühl wurde stärker: Warum war es auf dieser Seite zu und auf der anderen nicht? Thomas konnte hier gar nicht heraus, drübersteigen war so gut wie unmöglich. Das Gitter war sehr hoch, und Thomas war alles andere als der perfekte Athlet. Sport war immer ein Alptraum für ihn gewesen. So wie ich ihn kannte, würde er statt der Turnstunden lieber zu seinem Vater in die Konditorei gehen und Kekse naschen. Ich nahm also an, er hatte kehrt gemacht, war auf der anderen Seite durch das offene Gitter hinausgegangen und kam nun denselben Weg wie ich ihn gegangen war. In diesem Fall musste er in etwa zehn Minuten hier bei mir auftauchen. Ich setzte mich also auf eine Bank und wartete.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich gewartet hatte, jedenfalls hörte ich plötzlich die Kirchturmuhr einmal schlagen: Viertel nach elf! Und Thomas war immer noch nicht hier. Das war jetzt schon unheimlich! Es gab schließlich nur diese beiden Wege: den einen durch den Friedhof und den anderen über die Straße. Am liebsten wollte ich nach Hause gehen. 'Morgen früh,' so dachte ich, 'ist alles vorbei, und Thomas sitzt wieder neben mir, als wäre nichts geschehen.' Doch ein Gefühl sagte mir, dass es nicht so war, dass Thomas noch irgendwo im Friedhof herumirrte. Ich tat also das einzig Richtige, was mir einfiel: Ich ging denselben Weg zurück, den ich gekommen war, umrundete die Friedhofsmauer im Laufschritt und erreichte schließlich außer Atem das andere Ende - und das Gitter, und das war geschlossen! Ich stieß einen leisen Schrei aus. Warum war es jetzt zu, und wie lange war es schon zu? Thomas war mir auf der Straße nicht begegnet, also musste er noch drinnen sein. Ich rief seinen Namen, rüttelte ein paar Mal an dem Tor und brüllte ihn in den Friedhof hinein, doch nichts geschah. Erschöpft ließ ich mich auf den Boden fallen. Ich war am Ende meiner Weisheit. Es war fast Mitternacht. Sollte ich den Friedhofgärtner wecken? Er wohnte ganz in der Nähe, und er hatte einen Schlüssel. Aber dann verwarf ich den Gedanken. Ich beschloss, nun doch nach Hause zu gehen und die Sache auf morgen zu verschieben.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht lag ich in meinem Bett und konnte nicht einschlafen. Ich musste immerzu an Thomas denken. Wo war er? Hatte er sich mit mir einen Scherz erlaubt, war vor mir herausgekommen und hatte nicht auf mich gewartet? Doch wie war er herausgekommen? Das Gitter war ja geschlossen gewesen. Natürlich hatte ich in jener Nacht einige merkwürdige Träume, an die ich mich jedoch nicht mehr erinnere.
Dafür war der Schock, den ich am nächsten Morgen bekam, noch viel größer als der schlimmste Alptraum, den ich je gehabt hatte. Ich war extra früh aufgestanden, um vor der Schule noch den Friedhofsgärtner, Herrn Partos, aufzusuchen. Dieser war gerade beim Frühstücken, und ich erzählte ihm meine Geschichte. Seine Antwort war keineswegs beruhigend: "Das ist ganz unmöglich, ich habe beide Gitter bereits um zwanzig Uhr gesperrt. Ich sperre immer um die gleiche Zeit!" "Aber das eine war ganz bestimmt offen", entgegnete ich hartnäckig. Ich spürte, der Mann glaubte mir nicht. Zu zweit machten wir uns auf den Weg zum Friedhof. Bei Tag sah er viel weniger unheimlich aus als bei Nacht. Wir erreichten das Gitter, das am Vorabend offen gewesen war. Herr Partos sperrte auf, und wir gingen hinein. Es war nichts Sonderbares zu sehen. Die Grabsteine waren gepflegt und sauber, Herr Partos war ein gewissenhafter Mensch und ein fleißiger Arbeiter. Nach etwa fünf Minuten erreichten wir das andere Ende. "Nichts, dein Freund hat sich wohl irgendwo verkrochen!" Dann hielt er einen Moment inne und fuhr fort: "Wie, sagtest du, heißt er?" "Thomas Engelmann", antwortete ich. "Engelmann, dann hat er Verwandte hier, nicht wahr?" "Ja, seine kleinen Schwestern, die vor einigen Monaten von einem Auto überfahren wurden." Herr Partos führte mich auf einem Seitenweg zwischen den Gräbern durch, und nach einiger Zeit erreichten wir unser Ziel. "Hier sind die Geschwister Engelmann begraben." Ich betrachtete den Grabstein - und stieß einen entsetzten Schrei aus: Hinter dem Grabstein lugte ein Schuh hervor. Es war derselbe, den Thomas am Vorabend getragen hatte. Er hatte einen der Hirten gespielt, und dies war unverkennbar eine seiner Sandalen. Auch Herr Partos wurde bleich. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich dürfte niemals hinter das Grab gehen, und Thomas ansehen. Herr Partos, der offenbar nicht derselben Ansicht war, ging um das Grab herum, in Richtung des Schuhes. "Wir müssen sofort die Polizei..." Das Wort 'rufen' ging in seinem entsetzten Schrei unter. Ich starrte ihn nur an. Ich hatte noch nie einen solchen Schrecken auf dem Gesicht eines Mannes gesehen. Er wurde immer bleicher. Ich konnte genau beobachten, wie von Sekunde zu Sekunde jedes bisschen Farbe aus seinem Gesicht wich. Er schrie immer wieder, und plötzlich sackte er zusammen. Ich wusste, er hatte einen Herzinfarkt bekommen, und ich war auch nahe daran. Schreiend und ohne mich umzudrehen, lief ich davon. Wie durch ein Wunder erreichte ich das Gitter, stürmte zu meiner Schule, direkt auf die Krankenstation. Ich brauchte dringend einen Arzt. Die Ärztin in unserer Schule war sympatisch und hörte mir aufmerksam zu.
Heute weiß ich, dass sie es schließlich war, die die Polizei benachrichtigt hatte. Wie ich es vermutet hatte, war Herr Partos noch neben dem Grab seinem Herzinfarkt erlegen. Was genau mit Thomas geschehen war, habe ich bis heute nicht erfahren. Die Polizei hatte mir keine Auskunft gegeben. Ich weiß nur soviel, dass die zuständigen Beamten nach ihrem Einsatz auf dem Friedhof auf eigenen Wunsch hin versetzt worden waren, weit weg von unserer Stadt. Herr Partos hatte also nicht bloß Thomas' Leiche hinter dem Grabstein entdeckt, sondern etwas noch viel Entsetzlicheres.