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Der ungewöhnliche Weg in ein neues Leben
Auf den Straßen feiern die Leute den ersten Mai und ich sitze in diesem kleinen verschwitzten Bunker, alles dunkel, schwarz und nehme die melancholische Musik nur wie aus weiter Ferne wahr.
Gedankenverloren betrachte ich die Menschen wie sie sich in rhythmischen, langsamen Bewegungen auf der Tanzfläche wiegen und sehe sie doch nicht wirklich.
Die dort draußen wissen bestimmt nicht mal so genau warum sie gut drauf sind. Und jene hier drinnen nicht, weshalb sie so desolat sind.
Ich wünschte, du wärst jetzt hier. Dann hätte ich keine Grund mehr darüber nachzudenken weshalb ich so trübsinnig bin obwohl ich noch vor einer knappen Stunde bester Laune war.
Ich hasse ihn. Er hat mir meine Mutter weggenommen. Wegen ihm sind wir überhaupt erst umgezogen. Weit weg von dir. Er sagte mir mal, du seiest ein schlechter Umgang für mich, und es wäre besser das wir nun keinen Unfug mehr zusammen treiben können.
Habe ich dir schon berichtet, dass ich mit dem Führerschein angefangen habe? Noch ein halbes Jahr, dann kann ich dich besuchen wann immer ich will.
Es wird mir zu stickig. Ich will raus hier.
Mit der Ausrede, dass ich mich eine Weile zurückziehen möchte, bekomme ich Timos Autoschlüssel.
Als ich auf der Rückbank sitze, die besoffene, grölende Menge durch die Scheibe beobachte, braut sich in meinem Kopf eine wahnwitzige Idee zusammen, nimmt Formen an und .....
.... ich fahre los.
Auf der Severinsbrücke, die über den Rhein führt, sehe ich den Dom. Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an meine alte Heimat, wie ich Richtung Bismarckplatz fahre und das Schloss sehe.
Die nächste Autobahnauffahrt ist meine.
Ich nehme keine Rücksicht auf andere. Mit rasanten Überholmanövern brettere ich Richtung Heidelberg. Die Tachonadel steht schon bei hundertfünfzig. Ich bin mir nicht über das Risiko bewusst andere in Gefahr zu bringen.
Wie viel Promille man wohl nach zwei Bier hat, geht es mir durch den Kopf.
Ich habe es nicht bis zu dir geschafft. Wenigstens versucht habe ich es. Die Polizei war hinter mir her. Das hättest du erleben sollen. Beinahe wäre es mir gelungen sie abzuhängen.
Eben nur beinahe.
Jetzt sitze ich in so ner kargen, unbeheizten Zelle, mit kalten Füßen. Meine Schuhe musste ich vor der Tür abstellen.
Die glauben mir nicht, dass ich nur zwei Bier getrunken habe. Vielleicht haben sie ja recht. Nach dem zweiten hatte ich ja aufgehört zu zählen.
Meine Mutter und ihr Lover wissen noch nicht das ich hier bin. Erst wenn Timo den Verlust seines Autos bei der Polizei meldet, werden sie wissen wer ich bin.
Einen Ausweis hatte ich nicht dabei. Den hat Timo, weil ich keine Tasche hatte um ihn einzustecken. Erinnerst du dich an das schwarze Kleid mit den Rüschen das wir bei unserem letzten gemeinsamen Stadtbummel gekauft haben? Das habe ich heute an. Du hast gesagt, ich sehe darin aus wie eine Prinzessin aus der Gruft.
Weißt du was ich denen erzählt habe? Ich sagte, ich sei von Außerirdischen entführt worden und mein Name sei Ingo Berger.
Als sie Fingerabdrücke von mir nahmen gab ich an, dass es nicht meine eigenen Hände sind. Die Aliens, sie wissen schon, sagte ich zu ihnen.
Meine Mutter und ihr Typ sind gekommen um mich abzuholen. Die ganze Fahrt lang überschüttet sie mich mit Vorwürfen. Er versucht sie zu beruhigen und mich zu verteidigen. Der will sich doch nur bei mir einschleimen.
Ich bin nicht deine Tochter, unterbreche ich ihre Standpauke. Ich bin Ingo.
Es muss sehr überzeugend geklungen haben, denn mit einem mal ist sie still.
Was hast du gesagt, fragt sie nach einer unendlich langen Schweigepause.
Du hast mir nichts zu sage, antworte ich. Ich bin nicht deine Tochter.
Ich wusste das du mich nicht alleine lässt.
Seit ich in therapeutischer Behandlung bin geht es mir besser. Endlich darf ich dich wieder jeden Tag sehen.
Ich amüsiere mich noch immer köstlich über das was du getan hast.
Dich sturzbesoffen aufs Fahrrad zu schwingen und Leute anzupöbeln bis dich die Polizei aus dem Verkehr zieht, und ihnen dann die selbe Geschichte von der UFO Entführung zu erzählen wie ich es getan habe, hätte ich dir nie zugetraut.
Von nun an bist du Ricarda und ich Ingo. Wir werden sie alle weiterhin zum Narren halten. Hauptsache wir bleiben zusammen.
Es hat ja auch fabelhaft funktioniert denen klar zu machen, dass wir nur gemeinsam diesen Schock der Entführung und ihre Folgen verarbeiten können.
Nur noch ein Monat. Dann bin ich volljährig.
Wir werden uns eine gemeinsame Wohnung suchen und meine Mutter und ihr Lover können mir nicht mehr dazwischen reden.
Bis dahin genieße ich die Zeit weit weg von ihnen. Es hat schließlich auch lange genug gedauert bis ich sie alle überzeugt hatte, dass ich mich schneller erhole wenn ich in deiner Nähe bin.
Dir haben sie nicht geglaubt das du verrückt bist. Aber das spielt keine Rolle und ist eigentlich auch besser so. Hauptsache du unterstützt mich und hältst weiterhin zu mir.
Dann werden wir wieder gemeinsam die Nächte durchmachen, begleitet von melancholischer Musik und umgeben von Menschen die genau so nachdenklich sind wie wir. Unter sterneklarem Himmel werden wir liegen und uns das beleuchtete Schloss ansehen.
Irgendwann werden wir Kinder haben die uns die Farben zurück bringen, die wir solange von uns gewiesen haben. Ihre Kleidung wird bunt sein, ihr Lachen von Herzen kommen und wir werden damit leben müssen wenn sie uns mit ihrem eigenen Musikgeschmack den letzten Nerv rauben.
Doch wir werden, wie bisher auch, alles ertragen, nur um unseren Kindern beizubringen, dass die Welt nicht nur aus Schwarz und Weiß besteht.
[ 01.05.2002, 16:56: Beitrag editiert von: Lady of Camster ]