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Der ungebetene Gast
Der ungebetene Gast
Schemenhaft hing das Landhaus im dunkelweißen Äther. Kein Horizont. Rupert Ogleby schluckte. Er sollte das Pedal durchtreten und verschwinden, ehe das Schneetreiben noch dichter würde. Doch bevor dieser Gedanke vollständig formuliert war, hatte Mr. Ogleby seinen Motor bereits abgestellt und den rostigen Dodge kurz hinter der Toreinfahrt mit einem letzten asthmatischen Husten ausrollen lassen. Sollte er es wirklich tun?
Das spröde alte Kabel ließ sich leicht brechen. Dicht über der Verteilerkappe. Rupert knickte es nur so weit, dass ein Teil der Isolierung es zusammenhielt, die er ein wenig dehnte, damit der Kontakt auch sicher unterbrochen war. Die Bruchstelle beschmierte er mit etwas öligem Ruß, der den Motorraum des Dodge zierte wie Pulverschnee die ihn umgebene Landschaft. Dieser Hobel würde es nicht mehr all zu lange machen. Egal. Mit blechernem Getöse knallte er die Motorhaube zu, öffnete die Fahrertür und drehte den Zündschlüssel.
Nichts.
Rupert Ogleby fühlte Zufriedenheit. Entschlossenheit. Heute war Heiligabend. Er würde es tun. Endlich.
Martha Stainsworth ließ den hölzernen Rührlöffel auf die vorwitzigen Finger ihres Sohnes niedersausen: „Billy, nimm deine Pfoten aus dem Teig!“
„Aber Mom!“
„Du darfst die Schüssel auskratzen. Jetzt geh und hol deinen Dad! Wir brauchen noch Feuerholz.“
Billy trollte sich. Liebevoll sah Martha ihm nach: „Und bringt mir gleich Kartoffeln mit hoch!“
Kurz darauf kamen Henry Stainsworth und sein Filius keuchend die Kellertreppe hinaufgestapft, bis zum Kinn beladen mit Brennholz, das sie sorgfältig vor dem Kamin aufstapelten. Henry schlich sich an Martha heran und umarmte sie von hinten, wobei er darauf achtete, das seine flinken Hände, die Marthas Brüsten ihre Referenz erwiesen, außerhalb von Billys Blickfeld blieben, als sie ihren ehelichen Pflichten nachkamen.
„Nicht doch!“, protestierte sein Weib halbherzig entrüstet, „Ich koche.“
„Ich auch.“, gurrte er und knabberte an ihrem Ohrläppchen.
„Wo habt ihr die Kartoffeln?“, lächelte sie.
Henry kramte vier Erdäpfel aus der Brusttasche seines Overalls, drei aus der rechten Hosentasche und zwei weitere aus der linken. Auch Billys Jeans brachten einige Kartoffeln zum Vorschein. Er grinste spitzbübisch: „So mussten wir nur einmal lau...“
Es klingelte an der Tür.
Ein etwas durchgefroren wirkender Mann, dessen wirrer Haarkranz zu seiner Dreiviertelglatze passte wie der zerknautschte billige Anzug zu den graubraunen kunstledernen Slippern, hatte seine Arme wärmend um den Körper geschlungen und blickte Henry Hilfe suchend von unten an: „Verzeihen Sie bitte die Störung! Mein Auto ist verreckt. Ich sah hier Licht. Könnten Sie mir vielleicht kurz eine Taschenlampe leihen?“
„Aber natürlich, kommen Sie erst mal rein! Billy, bitte flitz schnell noch mal in den Keller und bring mir die große Halogenleuchte!“
Dankbar stellte sich der Fremde als Rufus Ogden vor. Martha bot ihm einen Kaffee an. Er verneinte höflich. Keine Zeit. Er müsse so schnell wie möglich nach Boulder. Billy brachte die Lampe. Henry nickte nur: „Ich komme mit Ihnen. Ich habe Überbrückungskabel, falls Sie Starthilfe brauchen.“
Der Dodge gab keinen Mucks von sich. Die Batterie hatte Saft. Henry checkte die Zündkerzen. Etwas verrußt, aber nicht der Grund allen Übels: „Entweder Ihr Anlasser ist tot oder es liegt am Verteiler. Sieht aber alles in Ordnung aus. Ich schiebe Sie mal an.“
200 keuchende Meter später kam man überein, dass es unmöglich am Anlasser liegen könne. „Ist einfach ausgegangen. Kann sonst was sein.“, konstatierte Mr. Ogden, „Dürfte ich von Ihnen aus mal telefonieren, Henry?“
Überall nur Anrufbeantworter. Kein Wunder an Heiligabend.
„Sie bleiben heute Nacht hier!“, entschied Martha rigoros, „Das wird heute eh nichts mehr. Sie essen doch Truthahn, Mister Ogden?“
„Aber ich kann Ihnen unmöglich zur Last fallen.“, wehrte der Mann dankend ab.
Martha stemmte die Hände in die Hüften: „Ich muss doch jetzt nicht etwa einen Vortrag über den Sinn und die Aussage des Weihnachtsfestes vom Stapel lassen, Mister Ogden?! Es hat dem Herrgott gefallen – oder dem Schicksal, falls Sie Atheist sind, Mister Ogden – Sie heute am Heiligabend an unsere Türschwelle zu spülen. Selbstverständlich werden Sie mit uns speisen. Unsere Couch ist auch sehr bequem, und jetzt keine Widerrede mehr!“
Der ominöse Mr. Ogden gab sich geschlagen.
Nach endlosem Schlemmen gab ihm hausgemachter Apfelstrudel mit Vanilleeis den kulinarischen Rest. Verträumt suchte er in verschütteten Kindheitserinnerungen nach einem Moment vergleichbarer Harmonie und körperlicher Befriedigung. Er fand ihn nicht. Was hätte er nicht für ein solches Familienglück gegeben...
Billy rezitierte weihnachtliche Gedichte, Martha setzte sich ans Klavier, und sie sangen Gospels bis kurz vor Mitternacht. Dann musste William, wie er in Augenblicken akuter Strenge plötzlich hieß, ins Bett. Nach kurzem erfolglosem Maulen verabschiedete er sich höflich.
Der Fremde hielt seine Hand länger als nötig. So eine wundervolle Familie. Sollte er es wirklich tun?
Sie sprachen über die Kosten einer guten High School, den Winter, die nächsten Wahlen, den Ölpreis, Mrs. Ogdens frühen Tod, Vorzüge des Vierradantriebs, die Denver Broncos, Marthas Unfruchtbarkeit und die Adoption. Es muss kurz vor Zwei gewesen sein, als Martha ihm das Dauenkissen mit den Sonnenblumen und die dicke Wolldecke in die Hand drückte – nebst einem freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Er wisse ja, wo Bad und Kühlschrank sich befänden.
Der ungebetene Gast lag lange wach.
Das Kabel war schnell geflickt. Rupert öffnete den Kofferraum, entnahm ihm eine große Zelttuchtasche und kehrte ins Haus der Stainsworth‘ zurück. Still. Ganz still.
Der Reißverschluss schien unerträglich laut. Das Paket zu sperrig. Unbewusst den Atem anhaltend, befreite er es aus der Tasche und schob es zu den anderen Geschenken unter den Weihnachtsbaum. Schlechtes Gewissen. Er starrte lange auf die Widmung der Grußkarte.
Nein, er konnte es nicht tun.
Rupert Ogleby nahm Abschied von seinem Sohn, warf die tränenbenetzte Karte in den offenen Kamin und fuhr zurück nach Boulder, Colorado, seinem trostlosen Ein-Zimmer-Appartment entgegen.
Die Gewissheit, das Richtige getan zu haben, wuchs mit jeder Meile. Der Himmel klarte langsam auf