Der Unfall vor zehn Jahren
Grau karierte Elefantenbeine in übereinandergeschlagener Position. Sie wirkten fast schon provozierend auf ihn. Das Fett in ihren Beinen quoll über den Rand des Plastikstuhles, auf den sie sich gesetzt hatte. 'Wenn man solche Beine hat, sollte man sich nicht an die Öffentlichkeit wagen', dachte er. Doch die Frau schien anderer Meinung. Die Beine führten zu Plattfüßen, die selbstbewusst wirkten in den Sandalen, in denen sie hausten. Ihre Zehennägel waren rot lackiert. Sie schienen fast nach Aufmerksamkeit zu schreien. Er fand das ganze sehr armselig. Angeekelt wendete er den Blick ab, doch zwei Tische weiter sah er drei aufeinandergestapelte Ringe bezogen mit einem eng anliegendem, blauem T-Shirt. Diese Tatsache verärgerte ihn. 'Er hätte sie wenigstens unter einem weiten Hemd verdecken können. Einfach nur peinlich sowas!' Im Alltagsrausch stachen diese Dinge ihm nicht zu sehr ins Auge. Wieder wendete er den Blick ab. Diesmal sah er einen Giraffenhals. Die Frau massierte ihren Nacken mit der rechten Handfläche und streckte dabei unwillkürlich ihren ohnehin schon langen Hals. Er strich die Falte am linken Ärmel glatt, nach so vielen Schönheitsmangeln. Es half auch nicht, dass das Gesicht des Kellners, der seine Bestellung entgegennahm, zu mindestens 50% aus Ohren bestand.
"Was darf es denn sein?", fragte er zu fröhlich.
Bei dieser Frage zögerte er ein wenig, betastete flüchtig sein rechtes Ohr und vermied den Blick auf die Elefantenbeine. Der Giraffenhals war ein durchaus milderer Anblick. Wie wäre es mit Kaffee? Nein, das käme nicht in Frage, denn er musste einen guten Eindruck machen. Sein Atem durfte nicht bitter riechen. Etwas geruchsloses. Mineralwasser!
Er bestellte ein Glas Mineralwasser, musste jedoch mehrmals feststellen, dass Segelohr ihm nicht in die Augen sondern auf einen bestimmten Punkt auf seinem Gesicht blickte. War es die Narbe gewesen, die von seinem Haaransatz nach unten verlief? Es war doch nur eine ganz kleine Narbe. Schon über zehn Jahre alt. Oder- und daran dachte er nicht gerne...Deswegen brachte er auch diesen Gedanken nicht zu Ende.
Er blickte zurück zu Giraffenhals. Sie biss genüßlich in ihr Schinkenbrot rein. Dabei fiel ihm etwas auf, was offensichtlicherweise ihr nicht aufgefallen war. Brotkrümeln hatten sich in den Spitzen von dem braunem Haargestürpp verheddert und sich dort abgesetzt. Sein Blick wanderte zu dem Ring an ihrem Finger. Es war weder zu prachtvoll noch zu schlicht. Also ein Verlobungsring. Würde ihre Verlobte sie auch mögen wenn er die Brotkrümeln in ihren Haaren gesehen hätte? Da, ein junger Mann setzte sich zu ihr an den Tisch. In der Zwischenzeit hatte ihm schon der Kellner sein geruchloses Wasser neben den Pfefferminzbonbons auf den Tisch gelegt. Es fiel ihm nicht auf. So vertieft war er.
Giraffenhals umarmte ihn und auch er schien glücklich darber. Die hellen Augen des jungen Mannes blitzten vor Freude.Dann verzog sich das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht zu einem amüsiertem Grinsen. Er streckte die Hand aus und entfernte die Brotkrümeln aus ihren Haaren. Ein leicht verschämtes Lächeln umspielte daraufhin ihre Lippen aber für den jungen Mann schien das ganze....liebenswert zu sein. Denn jetzt guckte er sie verliebt an. Auch der Giraffenhals schien ihn nicht zu stören. 'War er blind?'
Erst jetzt bemerkte er das schon abgestellte Glas Mineralwasser und nahm einen Schluck. Es prickelte zuerst auf seiner Zunge, brannte kurz an seinem Rachen und hinterließ schließlich einen salzig-bitteren Nachgeschmack zurück. So schmeckte die Wahrheit für ihn und er glaubte sich mit ihr angefreundet zu haben, denn der Nachgeschmack störte ihn nicht sonderlich.
Falls die Zeit wirklich ausschlielich in einer Sanduhr verlaufen wrde, so musste diese eine ziemlich schmale Öffnung haben. Jedenfalls für den Moment, an dem er auf seinen Interviewpartner wartete.
Der Mann mit dem drei-Ringe-Bauch stand auf und siehe da : jetzt waren es nur noch zwei Ringe. Bevor er wegging, legte er einen grünen hundert Euro-Schein auf den Tisch, obwohl er nichts bestellt hatte.
'Äußerst großzügig für einem Mann aus der Mittelschicht.' Ein anderer Kellner als Segelohr kam vorbei um den Tisch aufzuräumen und als er das Trinkgeld entdeckte, unterdrückte er einen Freudensschrei. Stattdessen grinste er so breit, dass der Mann Angst hatte, seine Lippen könnten platzen.
"Adlernase! Mama, ist das eine Adlernase?"
Die Frau mit den Elefantenbeinen versuchte ihren Sohn, der wohl gerade eben gekommen war, zum Schweigen zu bringen. Doch der Junge richtete weiterhin mit einer bemerkenswerten Hartnäckigkeit seinen Finger auf den Mann. Er starrte den kleinen Jungen ungläubig an. Noch ungläubiger war für ihn der Gegensatz auf dem Gesicht der Frau. Die strenge Stirnfalte passten nicht zu ihren Mundwinkeln, die nach oben zuckten. Immernoch zeigte der Junge auf ihn und rief mit einer Begeisterung, die dem Mann sadistisch erschien :
"Adlernase! Ich hab' gehört Adler haben scharfe Augen. Stimmt das, Mama?"
Jetzt konnte die Frau sich nicht mehr beherrschen. Mit vorgehaltener Hand entschuldigte sie sich bei dem Mann und verließ das Restaurant mit ihrem Sohn im Schlepptau. Längst hatte die schrille Stimme Jungen die Aufmerksamkeit aller Außenstehenden auf ihn gezogen. Er hätte schwören können, dass der Junge nicht so unwissend war, wie er tat. Aber die Unschuld in seinen Augen war zu groß.
Er starrte ausschließlich das halbvolle Glas vor sich an unter flatternden Augenlidern. Auf einmal sackten seine Schultern ein und er hielt das Glas fest umklammert. Eine sanfte Berührung auf seiner Schulter ließ ihn zusammenzucken.
"Entschuldigung, sind Sie Herr Steineck?"
Herr Steineck blickte auf. Vor ihm stand der Mann, der kürzlich das Restaurant verlassen hatte.
Er nickte wage. Mehr brachte er nicht zustande.
"Ich dachte der Termin für das Interview wäre um 13:30 gewesen, aber eben hat mich mein Sekretär darauf hingewiesen, dass er eine halbe Stunde später stattgefunden hätte. Falls Sie noch Zeit haben, könnten wir ja trotzdem mit dem Interview anfangen."
Er zwang sich zu einem Lächeln,was jedoch zerbrach. Dazu war er zu baff und schockiert. Vor ihm stand der Finanzminister mit T-Shirt und Hose in seiner ganzen Bescheidenheit und plötzlich kam er sich zu albern und spießig vor in seinem Anzug.
Das Interview verging so : Er ließ den Audiorekorder laufen, stellte ihm mit geheucheltem Interesse die Fragen auf seinem Blatt und blickte in seine Augen, allerdings nicht tief genug. Darüber, dass der Rekorder lief, war er froh, denn immernoch echote die Stimme des Jungen in seinem Kopf.