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Der undankbare Peter
Der undankbare Peter
In einer Kleinstadt hat der Vater von ein Haushaltswarengeschäft. Peter hat ihm versprochen, nach Schulschluss und nachdem alle Hausaufgaben erledigt sind, hin und wieder am Nachmittag ein paar Stunden dort zu helfen. Jedes Mal wenn die beiden im Laden arbeiten, ermahnt ihn der Vater, immer sehr höflich und nett zu den Käufern zu sein und ihnen besser nicht zu widersprechen, denn der Kunde ist ja bekanntlich König.
An einem Freitag Nachmittag, als der Laden ständig voller Kundschaft ist, bittet der Vater seinen Sohn, doch schnell mit dem Fahrrad in das Nachbardorf zu fahren. Er soll von der dortigen kleinen Glasfabrik die bestellten Glasvasen abholen, auf die eine Kundin so dringend wartet. Da es ein wunderschöner warmer Sommertag ist, entscheidet sich Peter jedoch, das Fahrrad stehen zu lassen und zu Fuß den knapp zwei Kilometer langen Weg durch die blühenden und süßlich duftenden Wiesen zu nehmen. Peter möchte diese Gelegenheit nutzen, länger vom Laden abwesend zu sein, denn die Arbeit dort macht ihm nicht wirklich Spaß. Er genießt seinen Spaziergang vorbei an Weiden mit schwarzweiß gefleckten Kühen und einer riesigen Pferdekoppel und hat es überhaupt nicht eilig.
In der Glasfabrik angekommen, überreicht man Peter nicht nur einen großen, sondern auch einen wirklich schweren Karton. Mit so einem gewichtigen Paket hatte Peter allerdings nicht gerechnet. Jetzt bereut er, dem Ratschlag seines Vaters nicht gefolgt zu sein. Das Fahrrad hat einen Gepäckträger, doch das steht zu Hause.
Mit einem kräftigen Ruck hebt Peter die Vasen auf seine linke Schulter und tritt den Heimweg an. Bereits wenige Meter hinter dem Fabriktor stehen ihm die Schweißperlen im Gesicht, und Peter stellt fest, dass der Karton viel zu schwer für ihn ist, und er ihn unmöglich alleine nach Hause tragen kann. Peter seufzt halblaut vor sich hin: „So ein Mist. Es wäre jetzt ganz einfach gewesen, ihn auf dem Gepäckträger des Fahrrades zu transportieren."
Unschlüssig und auch wütend über sich selbst bleibt Peter stehen, schaut sich um und überlegt, wie er nun am Besten sein Problem lösen kann. Dabei fällt sein Blick auf einen alten, ärmlich gekleideten Mann mit einer schmuddeligen grauen Kappe auf dem Kopf, der sich auf einer nahegelegenen Bank am Wegesrand in der Sonne ausruht.
Peter geht zu ihm hinüber und fragt: „Hast du vielleicht Zeit?“ Der Alte schaut verdutzt auf und antwortet etwas zögerlich: „Nun, wie meinst du das?“ Peter stellt sein schweres Gepäckstück auf den freien Platz neben den Mann und reibt sich ausgiebig die schmerzende Schulter. „Weißt du," sagt Peter mit einem leichten Stöhnen in der Stimme, „ich muß dieses Paket zum Laden meines Vaters in die Stadt bringen, aber das Biest," und dabei weist er mit dem Kopf auf den Karton, "ist viel zu schwer für mich. Ich kann ihn nicht die ganze Strecke alleine tragen. Könntest du mir vielleicht dabei helfen?" Und schnell fügt er noch hinzu: „Das musst du auch nicht umsonst machen. Es ist doch logisch, dass du dafür bezahlt wirst.“
Der alte Mann lächelt nun Peter an, denn er freut sich sehr über die Gelegenheit, etwas zusätzliches Geld verdienen zu können. Ohne lange zu zögern steht er auf, nimmt seine Kappe vom Kopf und steckt sie in den lockeren Hosenbund. „Schon gebucht, meine Junge," sagt er, holt tief Luft und stemmt sich das schwere Paket mit einem Stoehnen auf den Kopf. Mit beiden Händen den Karton festhaltend setzt er sich sofort in Bewegung. Peter folgt ihm und sagt: „Übrigens, ich heiße Peter. Du bist sehr nett.“
Nachdem sie eine ziemliche Strecke hinter sich gebracht haben, bleibt der Mann stehen und fragt: „Peter, können wir vielleicht etwas langsamer gehen, ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Dieses Ding da oben hat es wirklich in sich. Ich werde müde.“ Verständnislos schaut Peter zu dem Alten hoch und antwortet schnippisch: “Ob du müde bist oder nicht, das ist doch nicht mein Problem.” Rücksichtslos beschleunigt er nun sogar noch seine Schritte.
Der alte Mann ist über die Reaktion des Burschen erschrocken, versucht aber, ihm auf den Fersen zu bleiben. Ihn beschleicht dabei ein sonderbares Gefühl, das ihm sagt, dass er Peter nicht vertrauen sollte. Nach einer Weile sagt er daher in einem ganz ruhigen Ton in Richtung Peter, um ihm eine Botschaft zu geben: “Mein Junge, es gibt drei Ratschläge, die sehr wichtig sind für dein Leben. Ich möchte sie dir gerne nennen, wenn du willst."
Peter verlangsamt etwas seine Schritte und schaut den alten Mann neugierig von der Seite an. „Schieß los," kommt es vorlaut aus seinem Mund.
Mit müder Stimme fährt der alte Mann fort: „Okay, Ratschlag Nummer eins lautet: Sollte jemand behaupten, dass faulenzen besser ist als arbeiten, dann glaube ihm nicht.”
Lachend entgegnet Peter: „Das ist mir nicht neu," und sofort fallen ihm ähnliche Worte seines Vaters ein. „Und wie lautet Ratschlag Nummer zwei," fragt Peter neugierig zurück.
Der alte Mann entgegnet: “Ratschlag Nummer zwei ist: Wenn dir jemand einreden will, dass hungrig sein besser ist als satt sein, dann glaube ihm nicht.” Peter denkt an seinen knurrenden Magen und nickt zustimmend, ohne jeden Kommentar.
Nun kann der alte Mann vor Erschöpfung fast kaum mehr sprechen und bittet: "Lass uns eine kurze Rast machen." Aber Peter tut so, als ob er nichts gehört habe und geht mit schnellen Schritten weiter.
Der Mann nimmt nun alle seine Geduld zusammen und fragt mit müder Stimme: „Peter, hat dir noch niemand erklärt, dass derjenige, der eine alte oder schwache Person begleitet, sich immer nach den Fähigkeiten dieser Person richten sollte? Ich will - " Doch Peter hat immer noch beide Ohren auf Durchzug gestellt und ignoriert auch diesen Hinweis. Patzig unterbricht er den alten Mann sogar und fordert: „Nun rueck' schon endlich mit dem dritten Ratschlag aus."
Obwohl der Alte nun sehr müde und schwach geworden ist, antwortet er ihm: “Ratschlag Nummer drei lautet: Und wer dir sagt, dass es besser ist, eine lange Strecke zu Fuß zu gehen, als sie mit dem Auto zu fahren, dem glaube nicht.” Peter verzieht sein Gesicht zu einem Grinsen und den Kopf nach links und rechts schüttelnd sagt er: „Logisch! So blöd kann doch wohl keiner sein, dies zu glauben.“
Endlich, nach einer knappen Stunde, erreichen sie die Stadt. Immer noch den schweren Karton mit beiden Händen auf dem Kopf festhaltend, betritt der alte Mann zusammen mit Peter den Laden. Der Alte bleibt mitten im Geschäft stehen und schaut sich nach einem freien Platz zwischen den engen Regalen um, wo er den Karton endlich absetzen kann. Da stellt sich Peter vor den Mann und sagt in einem frechen überheblichen Ton: “Und Ratschlag Nummer vier lautet: Wer dir sagt, dass ich dir Geld für das Tragen des Kartons geben werde, dem glaube nicht.”
Peter will sich nun rasch zwischen dem alten Mann und einer Regalwand vorbeizwängen und den Laden verlassen. Doch jetzt reißt dem alten Mann der Geduldsfaden. Mit einem blitzschnellen kräftigen Griff hält er Peter am Arm fest, und ein wütender Blick aus seinen glasklaren graugrünen Augen trifft Peter wie ein Messer. Obwohl dieser durchdringende Blick nicht länger als zwei Sekunden dauert, kommt es Peter wie zwei lange Minuten vor. Dann nimmt der alte Mann langsam auch seine andere Hand herunter vom Karton. Er beugt seinen Kopf leicht nach vorne und läßt die Vasen einfach hinunterfallen. Peter ist entsetzt. Nur ein lautes langgedehntes "nein" kommt aus seinem Mund. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgt er den fallenden Karton. Es kommt ihm vor, als ob er im Zeitlupentempo vom Kopf des alten Mannes fällt. Der Aufprall auf den Steinfußboden ist schrecklich laut und einem Donnerschlag gleich, der zwischen den engen Regalen ein Echo auslöst. Das Klirren der zerbrechenden Vasen schmerzt in Peter’s Ohren. Es hört sich an, als ob alle Regale im Laden, in denen Gläser stehen, zusammenbrechen würden.
Dies alles beeindruckt den alten Mann überhaupt nicht. Er steht ruhig da und wirft nicht einmal einen Blick auf den zerbeulten und teilweise aufgerissenen Pappkarton, aus dem scharfkantige bunte Glassplitter herausragen. Der alte Mann wendet sich zu Peter und sagt gelassen: “Du, hör' mir jetzt einmal ganz genau zu: Und wer dir sagt, dass alle Glasvasen unbeschadet im Geschäft deines Vaters ankommen werden, dem glaube nicht."
Erst jetzt läßt der Alte Peter los, nimmt seine verbeulte Kappe aus dem Hosenbund und setzt sie in aller Ruhe auf den Kopf. Peter kann nur ohnmächtig zusehen, wie er wortlos das Geschäft verläßt, ohne sich noch einmal umzudrehen. In diesem Moment vernimmt Peter Schritte hinter sich. Eine Hand legt sich auf seine Schulter. Er hört seinen Vater sagen: "Ich glaube, wir beide müssen einmal in aller Ruhe miteinander reden. Hast du schon eine Vorstellung, in welcher Form du für den Schaden aufkommen wirst?" Peter schaut beschämt auf den Boden.