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Der Unbekannte, oder das Briefkastendrama.
Die Frau lächelte. Eine kleine, schwache Lampe warf ihr Licht auf den Briefkasten, auf dem ein gerader, geschnittener Papierfetzen klebte. Sie strich vorsichtig über die Worte, die mit einem Bleistift geschrieben waren, als seien sie fragil und könnten bei der ersten Berührung zerbrechen, dann löste sie den Fetzen ab und steckte ihn in ihre Jackentasche. Gegen Mitternacht würde sie selbst ein Papier an den Briefkasten kleben, so war es ihr Ritual. Sie würde wissen, dass es gelesen wird und dass sie am nächsten Morgen eine Antwort erhalten würde. Es war ein Spiel, dass unerwartet vor einem halben Jahr begonnen hat. Ein Spiel, dass sie bereit war mitzuspielen, denn es langweilte sie alles, ihr Leben, der Gleichschritt, ihr Mann. Mit diesen Nachrichten, die sie morgens heimlich, wenn er noch schlief in Empfang nahm und denen sie, wenn er schon zu Bett war, ebenso heimlich antwortete, war ein altes, vergessenes Gefühl in ihr Leben zurückgekommen. Ein Nervenkitzel und ein Gefühl von Gefahr, dass sich aus dem Gedanken ergab, er könnte ihr kleines, unanständiges Geheimnis entdecken. Aber bald würde er das …
Seit siebzehn Jahren waren sie nun verheiratet. Er war Jurist und die meiste Zeit damit beschäftigt, Paragraphen zu wälzen und Rechtsfragen zu klären, dabei schien ihr, war er unversehens selbst zu einem Paragraphen geworden. Wenn er morgens müde aus dem Bett stieg und in die Küche kam, um sich einen Kaffee zu kochen, hörte sie beinahe den Staub aus seinen Falten rieseln, die er in den letzend Jahren angesammelt hatte. Sie schwiegen viel, zu viel, viel zu viel. Und wenn es dazu kam, dass sie redeten, behandelte er sie wie eine Frage, die für einen Juristen gedacht war, wie eine Art Problem, das einer Lösung bedarf. Seine einstige Vitalität und mehr noch sein Unternehmensgeist schienen völlig verschwunden. Er erweckte täglich ein Stückchen mehr den Eindruck, als versuche er, wie ein armseliges Häufchen Elend, durch eine graue, feste Masse in den Tag zu schwimmen, langsam, träge und traurig.
Sie stieg die Treppen hinauf. Aber wer war er, wer war der Unbekannte? Wollte er sie wirklich? Oder war es ein Verrückter? Unergründlich! Aber unzweifelhaft, dass er existierte. Unergründlich, aber unzweifelhaft, dass er etwas, irgendetwas, von ihr wollte. Eine Art geheime, verborgene Existenz, die ein Zettelspiel mehrt. Aber nicht mehr lange, denn Morgen würde sie es darauf ankommen lassen und ihn um einen Besuch bitten. Warum auch nicht? Ein fremder Mann in der Wohnung war sicher mehr als eine Rechtsfrage, mehr als ein Paragraph. Vielleicht würde ihr Mann ja einen Tobsuchtanfall kriegen und vielleicht lockte sie etwas aus ihm hervor, diese alte, verschüttete Begierde, die früher so dominant war und das Feuer in seinen Augen, die rasche Beweglichkeit. Sie würde es jedenfalls darauf ankommen lassen, den nächsten Schritt machen, sie würde mit der Gefahr spielen. Heute Nacht noch, würde sie den Unbekannten vorbei bitten und ihm Versprechen machen, ihn herlocken und dann zusehen, wie sich die Dinge entwickeln, sehen, ob es einen Ausweg, eine Veränderung gibt, die ihr Leben, ihre Lebendigkeit, wieder entfacht.
Als sie um Mitternacht vor dem Briefkasten stand, beschlichen sie Zweifel. Würde er wirklich kommen? Und selbst wenn, sie kannte ihren Mann ja … nie tat er ihr den Gefallen sie zu schlagen, enttäuscht zu sein, oder wenigstens zu schreien. Das wäre auch etwas, lebendig wäre es und echt, ein Ersatz für seine vergangenen Avancen. Aber wie ein kalte Masse saß er immer nur da und wog ab. Das er nicht seine Bücher aufschlug, wenn sie „stritten“ kam einem Wunder gleich. Aber was war zu verlieren? Ihre Hände zitterten. Alte Gans, dachte sie. Ja, was war zu verlieren? Plötzlich ruhiger brachte sie den Zettel, den sie in den Händen trug an, betrachtet den Briefkasten, seufzte, drehte sich um und ging unendlich müde und dennoch irgendwie erregt zurück in die Wohnung. - Ein Ausgang, ein Exit.
„Schmeckt der Kaffee nicht?“, fragte sie ihr Mann. Sie rührte lustlos in ihrer Tasse. „Es ist doch derselbe wie immer“ Er sah sie an. Das war es ja, der Idiot. Es ist alles wie immer. Als sie heute morgen mit klopfendem Herzen nach einer Nachricht sehen wollte, starrte sie nur die blanke und eiserne Wand des Briefkastens an. Sie war naiv und hätte es wissen müssen. Sie sammelte sich, schwieg zuerst. Ja, sie hätte es wissen müssen. Es gibt keinen Ausweg, kein Exit. Der Unbekannte war ein Verrückter und sie hatte ihn verschreckt. „Nein, ich bin nur etwas müde“, antwortete sie. „Aha". Ihr Mann goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und schüttete Zucker nach. Sie schwiegen. „Wo sind eigentlich die Bleistifte?“ fragte er. „Ich habe sie heute gesucht.“ „In meinen Zimmer“, murmelte sie. „Ich bring sie dir später." Natürlich würde sie ihm seine blöden Stifte bringen, damit er seine Paragraphen kritzeln konnte, was auch sonst. Wie immer würde sie machen, was er sagt. Als ob das jetzt noch zählen würde ...