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Der unbedingt nötige Beweis

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13.03.2002
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Der unbedingt nötige Beweis

Es gibt Dinge, auf die man stolz sein kann. Manche sind stolz, ein Deutscher zu sein. Andere sind stolz darauf, nicht stolz zu sein, ein Deutscher zu sein. Noch andere wiederum sind stolz darauf, sich um so etwas gar keine Gedanken zu machen, was die ersten beiden als total opportunistisch und völlig verabscheuungswürdig betrachten, und zwar so verabscheuungswürdig, daß sie stolz sind, mit solchen Menschen überhaupt nichts zu tun zu haben.
Stolz ist etwas sehr wichtiges. Wer den Stolz eines Menschen bricht, der bricht den gesamten Menschen. Darauf könnte man dann gar nicht stolz sein. Also muß man stets darauf bedacht sein, den Stolz anderer Leute nicht zu verletzen. Das ist im allgemeinen ziemlich einfach.
Neulich wurde gemeldet, daß sich kurz vor dem Ende der Welt, in einer Kaserne der Bundeswehr, ein Bereich befindet, der einen außergewöhnlich hohen Stolzdefizit vorweisen kann. Nun wäre das nicht sonderlich tragisch, da sich normalerweise niemand dafür interessiert, was so kurz vor dem Ende der Welt vor sich geht. Die Situation dramatisiert sich allerdings mit jedem Wochenende, das ins Land geht, denn dann ist eine Auswirkung des Stolzdefizits auf das gesamte Stolzgleichgewicht festzustellen. Man hat schon Studien durchgeführt, die die Ansteckungsgefahr mittels eines Katastrophenszenarios untersucht haben, wobei die Ergebnisse nicht ganz eindeutig sind. Sie reichen vom kollektiven Selbstmord der ganzen Menschhheit bis zu kleinen Störungen, die die gesellschaftlichen Umstände dieses Planeten in solch paradiesische Umgangsformen des Miteinander verwandeln würde, daß ein stolzer Außerirdischer, der zufällig hier landen würde, aufgrund des nicht vorhandenen Stolzes so schnell wieder verschwinden würde, daß mit einem Mal der Traum der Menschheit vom überlebenswichtigen Kontakt zu Außerirdischen ausgeträumt wäre, und das wäre doch sehr schade. Allerdings ist das mit Studien so eine Sache. Wer erinnert sich nicht an die legendäre "Staubsaugervertreterverhaltensstudie", die uns allen klar machte, wie nett, freundlich und fair Staubsaugervertreter doch sind? Als nachher bekannt wurde, daß der Umsatz der Staubsaugerfirmen um satte tausend Prozent gestiegen war, erfuhr man freilich auch, daß in jedem Preis für einen Staubsauger eine ganze Menge an Kosten einer nicht näher genannten Studie enthalten war.
Jedenfalls wurde, um auf die Studie über das Stolzdefizit zurückzukommen, darüber diskutiert, was man unternehmen sollte. Es wurde so lange in Foren aufgeregt diskutiert, auf Kongressen ernsthaft beraten, bei Sitzungen tiefgründig analysiert, bei Workshops realistisch argumentiert und bei Besprechungen betroffen nachgedacht, bis sich das Problem auf einmal wie in Luft auflöste. Fast wären die mit diesem Problem sehr beschäftigten Leute sehr ärgerlich geworden, weil sie meinten, daß es ihren Stolz verletze, wenn sie ein Problem nicht lösen könnten. Doch dann setzte sich die Ansicht durch, daß sich das Problem aufgrund der vielen Aktivitäten einfach davongelaufen sei, was die sehr beschäftigten Leute mit sehr großem, nahezu unaussprechlichem Stolz erfüllte, zumal sich nun die Gelegeneheit ergab, in noch größerem Umfang zu forschen, wohin sich das Problem verflüchtigt hatte. Damit war der Ausgangszustand der Menschheit wieder hergestellt: Unheimlich stolze Leute waren mit unheimlich wichtigen Dingen beschäftigt, worauf sie mit Fug und Recht stolz sein konnten.
Aufmerksame Leser werden bemerken, daß die Geschichte eine gewisse Lücke hinterließe, wenn sie hier enden würde. Dies hier ist nun die Geschichte, wie das Problem des Stolzdefizits sich so unbemerkt und doch spektakulär löste.
J.A. hatte gerade entschieden, daß er für heute nichts mehr tun würde. Für diese Entscheidung hatte er seine letzten Stolzreserven aufgebraucht.
"So kann das nicht weiter gehen!" ließ sich T.G. mit schwacher Stimme vernehmen.
"Na gut." J.A. wollte schon wieder weiterarbeiten.
"Nein, nein, ich meine mit diesem Zustand des immer extremer werdenden Stolzdefizits."
"Ja."
"Man müßte diesem Zustand entfliehen."
"Meine Flucht ins Ausland wurde leider gestrichen."
"Ich weiß, ich weiß, deshalb brauchen wir was neues."
"Etwas, wozu man nicht stolz sein muß."
"Etwas ganz einfaches."
"Das müßte, glaube ich, was sehr kreatives sein."
"Wieso?"
"Sonst wäre schon jemand anders drauf gekommen."
"Ach, und wer?"
"Weiß ich nicht."
"Siehst du?!"
Pause.
"Ich hab's!" riefen J.A. und T.G. gleichzeitig.
"Was?", nochmals gleichzeitig.
"Ich werde es dir erklären."
"Und ich dir."
"Hm, besser wir verlieren keine Zeit."
"Du hast recht."
"Gut, wo treffen wir uns nachher?"
"Gar nicht. Schönes Leben noch!"
"Richtig, und ich wünsch dir viel Spaß im letzten Jahr!"
Beide hatten die gleiche, hoppla, ähnliche Idee. Gleich war, daß es darum ging, die Ursache des Stolzdefizits direkt zu beseitigen. Eine radikale Maßnahme, die ihnen aber in Anbetracht der Situation völlig angemessen erschien. Sie mußten das beseitigen, was sie daran gehindert hatte, im letzten Jahr stolz auf ihr Leben zu sein. Dies war zwar eine räumlich begrenzte, zeitlich jedoch sehr übergreifende Aktion. Sie beginnt in der Zukunft.
J.A. begab sich auf direktem Weg (ohne über LOS zu gehen) sofort in das Geschäftszimmer des Vorführzentrums, denn um diese ominöse Örtlichkeit handelte es sich hier. Dort nahm er ohne Umschweife einen Antrag auf Dienstreise an sich, um ihn umgehend ordnungsgemäß auszufüllen. Er sagte sich, daß, wenn die Übung in Griechenland nur ein paar Jahre eher stattgefunden hätte, sie nicht aus Kostengründen abgesagt würde (um mal aus noch einzusehendem Anlaß von der Vergangenheit so zu reden, als wäre sie die Zukunft), weil wegen der (aus der Sicht in die Vergangenheit) kräftigen Deflation, über die so viele schimpfen, weil es aus ihrer absolut unverständlichen Sicht eine kräftige Inflation ist, die Übung viel billiger geworden wäre. Er beantragte also die Teilnahme an dieser Übung, die in der Vergangenheit stattfinden wird. So weit, so gut. Zur Genehmigung mußte er noch argumentieren, daß das Vorführzentrum heute viel besser dastehen würde, wenn sich jemand in der Vergengenheit um dessen Image kümmern wird. Das leuchtete ein und so wurde alles in die Wege geleitet.
Vier Wochen später, nachdem J.A. seinen Resturlaub hinter sich hatte, war der Antrag tatsächlich bearbeitet und es ging auf die große Reise.
Natürlich hatte J.A. etwas besseres zu tun, als bei seiner spektakulären Reise in die Vergangenheit an einer Übung teilzunehmen. Das wäre ungefähr so, als ob jemand, der das erste Mal in die Sahara fährt, versucht, aus einem Wörterbuch die Eskimosprache zu lernen.
Was er im Kopf hatte, war folgendes: er würde nach Hause fahren, ein paar Jahre Urlaub machen (ganz billig, durch die Deflation, richtig!), sich während dieses Urlaubs so kalorienreich ernähren, daß er gar keine Chance haben würde, die Musterung mit der Folge einer Einberufung, welche letztendlich dazu führen würde, daß er im Vorführzentrum landen würde, abzuschließen. Genau so geschah es.
Von seiner Genialität begeistert, lebte er ein Leben voller Freude, Zufriedenheit und Stolz. Daß er auch noch zum Retter der Menschheit geworden war, machte ihn noch stolzer. Das einzige, was ihn etwas verstimmte, war die Tatsache, daß niemand wußte, was für großartige Dinge er getan hatte.
Später stellte es sich allerdings heraus, daß seine Verstimmung noch zunahm, und zwar genau dann, als er es sich in den Kopf setzte, herauszufinden, was ohne ihn denn aus dem Vorführzentrum geworden war. Als er erfuhr, daß es nicht existierte beziehungsweise nicht erfuhr, daß es existierte, dachte er zuerst, was seinen Stolz für einen Moment vergrößerte, daß es ohne ihn nicht mehr weitergegangen war. Wie groß aber war seine Enttäuschung, als ihm erst der Verdacht kam, daß es vielleicht nie ein Vorführzentrum gegeben hatte, was sich auf den ersten Blick total unlogisch anhörte, nein, unlogisch aussah, und sich dieser Verdacht in völlige Sicherheit verwandelte.
Dem mitdenkenden Leser ist natürlich absolut klar, daß nur T.G. hinter diesem alle Zeitgrenzen überschreitenden Phänomen stecken kann, konnte und können wird. Seine Vorgehensweise gegen das Stolzdefizit war nur von der Zielsetzung gleich.
T.G. dachte sich, daß, wenn er beweisen würde, daß das Vorführzentrum gar nicht existieren könne, jedermann und jede Außenstelle der LOGIK GmbH einsehen würde, daß man das Vorführzentrum aus der Realität streichen könnte, zumal man einen Antrag bei der Behörde für Realitätsbewältigung (nicht zu verwechseln mit dem armseligen Amt für Vergangenheitsbewältigung oder dem immer wieder in die Zukunft verschobenen Projekt des Ministeriums für zukünftige Angelegenheiten) relativ leicht zur Zufriedenheit der dortigen Beamten ausfüllen konnte, was sicher auch daran lag, daß die Realität im Gegensatz zur Vergangenheit keine mächtige Lobby zum Schutz ihrer Unverletzbarkeit hatte.
Der Beweis war ausgesprochen hinterhältig, da das Objekt, auf das sich der Beweis bezog, sich nicht wehren konnte, beziehungsweise, da es nach dem durchschlagenden Erfolg des Beweises keinen Einspruch dagegen geltend machen konnte, ja noch schlimmer: der Antragsteller würde seinen Beweis gegen die Existenz des Vorführzentrums wieder zurückziehen, sobald dessen Existenz ausgelöscht oder vielmehr nicht mehr oder noch nie vorhanden sein würde, oder so.
Zum Beweis: man kann sich leicht überlegen, daß ein Vorführzentrum etwas zum vorführen haben muß, was, wenn es nicht mehr existieren wird, schwerlich möglich ist. Außerdem brächte es eine ungeheure Einsparung mit sich, wenn man der Regierung in der Vergangenheit vermittelte, daß sie in einem Nachtragshaushalt (gewissermaßen in der Zukunft erarbeitet) einen zusätzlichen Beitrag zum Sparpaket finden würde, wenn man einem nun nicht mehr vorhandenem Teil der Verwaltungsmaschinerie kein Geld mehr zugestehen müßte. Entfallen würden aber vor allem (und dieses Argument zählt besonders in dem in der Vergangenheit immer noch stattfindendem Kalten Krieg - man stelle dies sich vor!), die möglichen Spionagetätigkeiten innerhalb des Vorführzentrums durch kommunistisch angehauchte Elemente, die die Zukunft, aus der der Sparvorschlag für den Haushalt kam, gefährdeten.
Als T.G. zur Behörde für Realitätsbewältigung kam, war strahlend blauer Himmel.
"Bitte vergessen sie nicht, einen Regenschirm zu kaufen!" sprach ihn freundlich eine junge Regenschirmverkäuferin an.
"Wie, bei dem Wetter?"
"Ja, wir haben hier unseren besten Umsatz. Vor allem, weil sie vor der Tür den angenehmsten Regen ihres ganzen Lebens haben werden."
T.G. schüttelte den Kopf, trat auf die Straße und befand sich mitten in einem Wolkenbruch. Er war schon völlig durchnäßt, als ihm durch den Kopf fuhr, daß sich über ihm gerade das Logikwölkchen befand, in welchem sich das Vorführzentrum aufgelöst hatte.
Bekanntlich ist jemand, der in einen Wolkenbruch gerät, und sei dessen Ursache auch noch so angenehm, nicht gerade für Stolz empfänglich. Durch diese kleine Unachtsamkeit entstand auf der Stelle ein neues Stolzdefizit. Das aber ist schon wieder eine andere Geschichte...

 

ist die geschichte Eurer meinung nach zu lang für eine kurzgeschichte?
dabei war ich so stolz auf die geschichte, als ich sie schrieb.
vielleicht ist ja auch für meine art von humor die nachfrage gestillt, könnte ja sein.

 

Hi..

Ich habe schon wesentlich längere Texte gelesen, die sich Kurzgeschichte nennen. Nur habe ich beim Lesen immer erwartet, daß J.A. nochmal auf T.G. trifft. Durch die Nichtexistenz des Vorführzentrums ist ihm ja wieder ein Stolzdefizit entstanden, daß er so vielleicht ausgleichen möchte (was ihm natürlich nicht gelingt).

Aber vielleicht ist auch das eine andere Geschichte.

Spricht Genumi

 

Hi toni!

Gelesen hatte ich deine Geschichte schon, aber zu kommentieren fiel mir nix dazu ein.
Die Länge selbst fand ich gar nicht so abschreckend, aber der Inhalt hat mich nicht angesprochen.
Witzig fand ich sie auch nicht. Wömglich habe ich auch nur eine andere Art von Humor.

Gestört hat mich die ständige Wiederholung des Wortes "stolz". Mag sein, daß es von dir genau so beabsichtigt ist, nur wurde ich regelrecht davon erschlagen.

Da ich die Geschichte nach der ersten halben Seite nur noch überflogen habe brauche ich mich jetzt nicht beklagen, daß ich den Zusammenhang von Titel und Text nicht kapiert habe. :)
Eigentlich sagt ja nur der Schluß etwas darüber aus.

Bei einigen deiner "Wortspielereien" konnte ich aber dennoch schmunzeln.
Z.B. hier:

"Gut, wo treffen wir uns nachher?"
"Gar nicht. Schönes Leben noch!"
"Richtig, und ich wünsch dir viel Spaß im letzten Jahr!"
Es ist nun mal so das nicht jede Geschichte kommentiert wird, selbst wenn sie gelesen wurde.
Manchmal fällt einem einfach nix dazu ein. ;)
Also, nicht jammern, sondern brav weiter schreiben.
Ich wünsch dir gute Einfälle für deine nächste Geschichte.

Gruß
L.o.C.

 

Danke für Eure Kommentare.

@genumi:
Ja, ich hätte die Geschichte noch ausweiten können; das geht mir besonders dann so, wenn ich beim Schreiben in Fahrt komme, aber es wäre ja noch länger geworden, und für eine Serie ist der Inhalt dann doch zu wenig.

@LoC:
Ja, "Stolz" war das Epizentrum der Geschichte, wenn ich das mal so formulieren will. Übertreiben wollte ich in einer solchen Geschichte, sonst hätte sie mancher vielleicht zu ernst genommen, noch dazu, wenn man weiß, daß es um meine Zeit bei der Bundeswehr geht.
Tut mir leid, wenn mein "Hilferuf" wie Jammern klang. Ich wollte nur wissen, ob die Geschichte zu lang war, und ich danke Dir, daß Du geantwortet hast.
Ach ja, der Titel hat insofern etwas mit dem Inhalt zu tun, als es um den Beweis der Nichtexistenz des Vorführzentrums (hieß in Wirklichkeit Programmierzentrum) ging.

Aber wenn jemand einen passenderen Titel hat, bin ich gern bereit, ihn zu ändern.

[ 15.05.2002, 09:40: Beitrag editiert von: toniglaeser ]

 

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