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Der unantastbare Toni
Der unantastbare Toni
Toni schlenderte durch die Fußgängerzone in Richtung des örtlichen Kaufhauses, um sich in dem dreistöckigen Betonklotz ein Computerspiel zu kaufen. Seine Erscheinung war wie immer makellos und von höchster Anmut und Grazie, bisher hatte er keine peinlichen Leute getroffen und er spürte, dass seine Hose perfekt saß. Sein Ego war genau so riesig, wie seine Jacke und er fühlte sich bestens.
Doch seine Stimmung trübte sich wieder, als der Neuntklässler um die letzte Ecke vor dem Einkauszentrum bog. Vieles schien plötzlich verloren, als er einen Mann in wulstigem Schneemannkostüm vor dem Eingang stehen sah. Was sollte er nur tun? Diese Witzfigur war sein Onkel Bert! Eigentlich mochte er seinen Onkel, doch in dieser armseligen Verkleidung sah der einfach so blöd aus, dass Toni es unmöglich riskieren konnte, mit ihm gesehen zu werden. Bedachte man doch, dass er unantastbar aussehen wollte. Und überhaupt. Was wäre er denn für ein Gangster, wenn er mit seinen Verwandten spräche. Ein Gespräch mit dem Schneemann würde sein Ansehen an der Schule und unter seinen Freunden doch ganz erheblich sinken lassen. Wahrscheinlich war gerade keiner in der Nähe, der ihn kannte, aber wenn ihn doch jemand sah, wäre wohl sein Lebenswerk zerstört.
Also zerrte er seine sackähnlichen Hosen noch einmal einige Zentimeter tiefer und steuerte auf eine Parkbank zu, von der er die Situation aus sicherer Entfernung überschauen konnte. Dort angekommen zog er seine Baggys unauffällig wieder höher, damit man seine Shorts nicht mehr sehen konnte und setzte sich dann auf die Lehne der kleinen Bank. Höchst konzentriert hielt Toni den Bereich vor dem Eingang des Kaufhauses im Auge. Er wartete erst einmal ab, was passierte. Vielleicht würde der Schneemann ja gleich verschwinden. Als er jedoch eine Weile darüber nachdachte, stellte er fest, dass sein Onkelchen wohl noch länger Leute in das Kaufhaus locken musste, weil ja Weihnachten vor der Tür stand. Toni beschloss, ersteinmal eine Zigarette zu rauchen um ein wenig Zeit zu überbrücken. Mit Zigarette im Mund sah er immer spitze aus, dachte er. Er zog das kleine, rote Päckchen aus seiner überdimensional riesigen, blauen Daunenjacke und steckte sich eine Kippe an.
Toni sah ungeheuerlich finster aus und fühlte sich mindestens genauso unberechenbar, wie Robert de Niro in seinem Lieblingsfilm.
So saß er nun eine Weile da und guckte den Leuten böse hinterher, als ihm plötzlich etwas auf die Schulter klopfte. Er erschrak fürchterlich, doch nach jahrelangem Training gelang es ihm, sich trotzdem gefasst umzudrehen. Es war sein Kumpel Frank, doch alle nannten ihn nur "Dirty Frank". Und Frank war in der Tat richtig schmutzig. Dabei auch noch arrogant und außerdem war er schon 18 Jahre alt und immer noch in der neunten Klasse. Franky war also der leuchtende Punkt in der grauen Masse der Durchschnittsschüler. Toni war so stolz, dass er sein Freund sein durfte.
Schließlich erwiderte er den Gruß seines Idols mit einem kräftigen Handschlag. "Hey, Franky. Was geht!" sagte er und schob seine Hose mit einer geschickten, unauffälligen Bewegung wieder weiter nach unten. "Ja, Mann. Passt schon. Gib mal ne Kippe, Alter!" nuschelte der schmutzige Frank schließlich zurück. Toni gab ihm natürlich eine, obwohl es seine Letzte war. Bevor Franky sie anzündete, zog er den Rotz in seiner Nase hoch und gab ihn in geradezu majestätischer Dynamik durch den Mund wieder von sich. Toni zeigte ihm seine Anerkennung, indem er gleich darauf das selbe tat.
"Hey jo, ich muss weiter. Machs gut, Tonboy!" verabschiedete sich der schmutzige Frank und streckte ihm die Hand entgegen, natürlich ohne ihn dabei anzusehen, sondern quasi im Davonlaufen, wie es sich gehörte.
"Ja, klar. Und halt die Ohren steif, Nigger." antwortete der Kleinere. Zufrieden, dass er gerade mit dem beeindruckendsten Menschen seiner kleinen Welt geredet hatte, rauchte er seine Zigarette fertig.
Doch als er zum Eingang des Kaufhauses hinüberblickte, trübte sich seine Stimmung wieder etwas. Der verdammte Schneemann stand immer noch da. Er musste sich jetzt überlegen, wie er unauffällig an der so peinlichen Person vorbeischleichen konnte. Schließlich hatte er sich einen guten Plan ausgedacht. Wenn er losrannte, sobald sein Onkel irgendeinem Passanten seinen Werbetext erzählte, würde er wohl unauffällig an ihm vorbeischlüpfen können. Die erste Gelegenheit bot sich schnell und Toni setzte zum Sprint an. Beim Rennen hielt er sein voluminöses Beinkleid fest, denn sonst hätte er es wohl verloren. Geschafft. Er war drinnen. Jetzt noch schnell auf die Toilette, seinen Style checken und dann schnell hoch in die Spielwarenabteilung. Denn dort musste es irgendwo herumliegen, das Spiel. Auf der Rolltreppe betrachtete er sich noch einmal ausgiebig in den Spiegeln, die überall angebracht waren und er fand sich gut. Seine Haare hatte er mit ungefähr einer halben Tube Gel zu einem schwarz glänzenden Borstenfell nach hinten gekämmt. Man stelle sich die nassen Borsten eines schwarzen Seehundes vor.
Oben angekommen hatte er noch ein letztes aber nicht unbedeutendes Problem zu bewältigen. Wie schaffte er es, unbemerkt dieses peinliche Kinderrollenspiel zu kaufen. Toni dachte schon an Diebstahl, doch natürlich traute er sich nicht. Er war ja nicht wirklich kriminell, sondern sah nur so aus.
Ja, da war er nun. Vor dem Computerspielregal stand er, breitbeinig und ungeheuerlich mächtig, furchterregend und böse.
Und er wollte ein Spiel mit Freigabe ohne Altersbeschränkung. Dies war ein Verstoß gegen seinen persönlichen Ehrenkodex. Aber der Gute liebte nun mal sentimentale Mangarollenspiele, auch wenn er es bisher immer verdrängte. Er schämte sich für seine Schwäche, doch er kam nicht dagegen an. Unauffällig nahm der kluge Toni verschiedene Games aus dem Regal und tat so, als ob er die Beschreibung hinten drauf lesen würde. Natürlich wählte er nur die brutalsten Spiele, denn wenn ihn so jemand unbemerkt beobachtete, würde das ja sogar noch sein Image anheben. In Wirklichkeit überschaute er die Umgebung. Keine Person war zu sehen. Schnell griff er nach dem gewünschten Spiel und machte sich auf den Weg zur Kasse. Niemand stand an. Ein Glück, denn das erhöhte seine Chancen auf ein unbemerktes Entkommen doch ganz erheblich. Ihm fielen tausend Steine vom Herzen, als er das Spiel in seiner geräumigen Jacke verstaut hatte. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Zufrieden schlenderte er aus dem Kaufhaus heraus. Sein Onkelchen war auch nicht mehr zu sehen und so machte sich Toni gemütlich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, schaltete er gleich den Computer ein und startete das Spiel. "Der Bär und die Kristallprinzessin", blinkte im rosafarbenen Titelbildschirm auf. Toni blickte mit großen Augen auf den Monitor und konnte es kaum erwarten.