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Der (un)sterbliche Sokrates
Die Wellensittiche lagen auf dem Boden des Käfigs. Janus beobachtete sie bei ihren letzten Zuckungen, in seinen Ohren das Rauschen von tausend aufsteigenden Vögeln.
„Du weißt, dass du verrückt bist, oder, Janus?“
„Wenn ich wüsste, dass ich verrückt bin, wäre ich dann wirklich noch verrückt? Die wahrhaft Verrückten verschwenden keinen Gedanken daran, dass ihre Wahnvorstellungen nicht real sein könnten.“
„Tust du es?“
Janus senkte seinen Blick hinab zu der blutüberströmten Frau in der offenen Raumkapsel. „Ich hätte sie gerne gerettet. Sie hat nicht verdient, was du ihr angetan hast.“
„Nein, falsch“, entgegnete Mors, „sie hat nicht verdient, was du ihr antun wolltest. Ich habe sie vor dir gerettet.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du so weit gehen würdest. Du hättest sie aufwecken können ...“
Mors schnaufte verächtlich. „Damit sie an unserem schönen Leben teilhaben kann? Ich glaube kaum.“
„Trotzdem macht es keinen Sinn, Testsubjekte zu erschießen“, sagte Janus. „Das Experiment ist die einzige Möglichkeit, uns von dieser bitteren Realität zu befreien. Das musst du einsehen.“
„So ein Schwachsinn. ‚Gott verabscheut eine nackte Singularität‘, schon vergessen? Es kann nicht funktionieren. Bevor ich diese Menschen losschicke, damit sie in Stücke gerissen werden, gebe ich ihnen lieber die Kugel. Siehst du, ich bin nicht so kalt wie du.“
„Du bist das kälteste Wesen, das ich kenne ...“
Mors lachte. „Es ist ja auch niemand hier außer uns.“
„Wie viele hast du noch umgebracht?“
„Alle. Alle, an die ich die Finger kriegen konnte. Da wir uns jeden Tag abwechseln, musste ich dir natürlich einige überlassen.“
Janus warf seinem Gegenüber einen geringschätzigen Blick zu. „Warum hast du mich nicht auch einfach umgebracht? Dann hättest du freie Bahn gehabt.“
„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte noch nie daran gedacht. Aber was hätte das für mich bedeutet? Ein einsames Leben wäre noch einsamer geworden. Dazu konnte ich mich nicht durchringen, egal wie sehr ich dich verachte.“
„Das spricht Bände ...“
„Ich weiß, ich bin ein egoistisches Schwein“, sagte Mors unwirsch. „Ich verachte dich, und du verachtest mich. Aber am Ende haben wir beide sehr ähnliche Ziele. Wir wollen beide den letzten Rest der Menschheit retten, nur dass du ihn vor sich selbst retten willst, während ich ihn vor dir retten will. Und warum das Ganze? Weil du den Erschaffern diesen sinnlosen Scheiß von Erlösung und weiß-nicht-was abkaufst. Wahnvorstellungen, Janus, Wahnvorstellungen ...“
„Ich glaube nicht, dass es Wahnvorstellungen sind. Ich denke, es ist eine gerechtfertigte Hoffnung.“
„Natürlich ...“ Mors wirkte sowohl amüsiert, als auch ratlos. „Sagst du mir auch, warum du das glaubst? Warum du das glauben willst? Ich meine, es ist ja nicht nur so, dass du diesen Unsinn glaubst, er ist dir auch noch wichtig. Warum ist das so?“
„Die Sünden der Vergangenheit ...“ Janus hatte nicht vor, sich diesem Wicht zu erklären, der unfähig war, die Bedeutung des Experiments zu erkennen. Viele Diskussionen hatte es zwischen ihnen schon gegeben, aber Mors hatte sich stets geweigert zu sehen, was für Janus offensichtlich war. Dieser hatte sich oft gewundert, weshalb Mors überhaupt eingewilligt hatte, das Experiment fortzuführen. Nun wusste er es. „Mir ist egal, was du denkst, Mors. Mir ist egal, dass du mich für verrückt hältst. Ich kann nicht erlauben, dass du weiterhin Testsubjekte ermordest. Und dir sollte klar sein, dass ich nicht so egoistisch bin wie du.“ Er zückte seine Waffe und zielte damit auf sein Gegenüber.
Mors wirkte nicht einmal überrascht. Selbst nachdem sich die Kugel in seinen Kopf gebohrt hatte, zeugte seine Miene von großer Gelassenheit, als wollte er Janus noch im Tod verhöhnen.
Janus seinerseits hievte den Leichnam in die Raumkapsel, in der es nun eng wurde. Nachdem er sie geschlossen hatte, programmierte er ihre Koordinaten. Im Boden öffnete sich eine Luke, die durch ein Kraftfeld geschützt wurde. Das verhinderte den Druckausgleich. Die Raumkapsel jedoch konnte von dieser Seite aus einfach hindurchgleiten und im All verschwinden. Eine Blutlache war Mors‘ einzige Hinterlassenschaft.
Während Janus davon ging, breitete sich in seinem Inneren ein Gefühl der Erleichterung aus.
Seit die Apokalypse vor vielen Jahren in eine stabile Umlaufbahn um das Schwarze Loch gebracht worden war, hatte niemand mehr sie manövriert. Obwohl Janus nicht dafür ausgebildet war, versuchte er nun, genau das zu tun. Auf der Brücke arbeitete er sich durch allerlei holografische Darstellungen, drückte Knöpfe, deren Funktion er nicht kannte, hoffte darauf, dass es ihm irgendwie gelingen würde, dem Raumschiff zumindest einen kleinen Stups zu geben.
„Versuch den hier.“
Janus sah von der Konsole auf, an der er gerade werkelte. Nur ein kurzes Stück entfernt stand Sokrates und zeigte auf einen einzelnen Knopf. Sofort ging Janus hinüber und betätigte diesen. Ein spürbarer Ruck ging durch das ganze Raumschiff.
„Das reicht hoffentlich ...“, murmelte Janus.
„Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagte Sokrates und deutete aus dem Fenster.
„Wirklich? Ich kann nichts erkennen. Da draußen dreht sich alles.“
„Keine Sorge, die Gravitation erledigt das. Ich kann es sehen.“
Janus nickte zufrieden. „Endlich ...“
„Ich nehme an, das Treffen mit Mors lief erfolgreich?“
„Ich habe ihn getötet, ja. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass er Testsubjekte erschießt, hätte ich es schon viel früher getan.“
„Es tut mir Leid um deinen Freund.“
„Er war nicht mein Freund. Er war ein ...“ Janus suchte nach dem passenden Wort. „... ein Fremdling.“ Er seufzte. „Wie lange dauert das hier?“
Sokrates zuckte mit den Schultern. „Für die Außenwelt? Unendlich lange. Für dich und deine Testsubjekte? Eine Weile. Aber keine Sorge. Du bist deinem Ziel jetzt so nah wie niemals zuvor.“
Beide sahen aus dem Fenster, wo das Leuchtfeuer der Sterne Schlieren in ihre Augen brannte. In regelmäßigen Abständen jedoch drängte sich eine klaffende Leere ins Bild, die alles Licht verschluckte.
„War es schwierig?“, fragte Sokrates unvermittelt.
„Mhm?“
„Deinen Freund ... ich meine, deinen ... Fremdling ... zu erschießen. Ist es dir schwer gefallen?“
Einen Moment überlegte Janus, dann antwortete er: „Nein.“
„Wirklich nicht?“
Janus schüttelte den Kopf.
„Bemerkenswert.“
„Wieso? Ist das merkwürdig?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin kein Experte für menschliches Verhalten. Aber dass du einerseits deinen Freund so kaltblütig umbringen kannst, während du andererseits vorgibst, die letzten Reste deines Volkes zu retten, finde ich ... bemerkenswert.“
„Ich habe nicht darüber nachgedacht“, sagte Janus. „Ich habe einfach getan, was notwendig war.“
„Weil ich dir gesagt habe, dass du es tun solltest, oder weil du es wolltest, nachdem du erfahren hast, was er getan hat?“
Janus kam sich plötzlich vor wie in einem Verhör. „Ist das wichtig?“
„Ich glaube nicht.“ Sokrates lächelte. „Ich frage mich ... weshalb bedeutet dir dieses Experiment so viel? Welche Hoffnungen verbindest du damit?“
Janus sah ihn schräg an. „Das hat mich Mors auch gefragt.“
„Was hast du geantwortet?“
„Nichts. Nichts von Bedeutung jedenfalls.“
„Ich verstehe.“ Sokrates sah ihn neugierig an. „Sprechen wir noch einmal den Versuch durch. Damit wir sicher gehen können, dass wir auf dem selben Stand sind. Was genau wollen wir erreichen?“
Janus war die Sache gefühlte tausend Mal in seinem Kopf durchgegangen. „Wir fliegen in das Schwarze Loch, wir trotzen der Gravitation, die uns normalerweise in Stücke reißen würde, wir erreichen die Singularität, wir brechen die Gesetze des Universums. Wenn wir das geschafft haben, können wir auch alles Andere brechen.“
„Und du hast aufgegeben, einzelne Testsubjekte loszuschicken, weil ...“
„... weil du gesagt hast, dass wir es zusammen machen müssen. Wenn wir alle etwas davon haben wollen, dann muss jeder mitkommen.“
„Genau“, sagte Sokrates, „genau ...“ Er zögerte sichtlich. „So wird es nicht funktionieren. Du vergisst Mors. Zugegeben, ich habe dir gesagt, dass du ihn töten solltest, weil er es nicht verdient habe mitzukommen. Inzwischen weißt du, was ich damit gemeint habe. Die Wahrheit sieht allerdings etwas anders aus. Sag, kennst du dich mit Quantenphysik aus?“
Janus runzelte die Stirn. „Nein.“
„Dann lass mich erklären: In der Quantenphysik ist der Beobachter von entscheidender Bedeutung. In einem unbeobachteten Moment hat ein Teilchen sämtliche Zustände inne, die es potentiell haben kann. Tritt es aber in Interaktion mit einem Beobachter, so nimmt es willkürlich einen einzelnen der zahlreichen Zustände an. Deswegen erfährst du die Welt so, wie du sie erfährst, und so wie du sie erfährst, ergibt sie Sinn für dich. Jetzt bedenke, was passiert, wenn niemand mehr existiert, der beobachten kann. Nachdem Mors tot ist, bist du der Letzte deiner Spezies, der noch bei Bewusstsein ist. Wenn auch du nicht mehr bist, werden die Testsubjekte neben dem aktuellen noch zahlreiche weitere Zustände annehmen. Einer davon sollte es ihnen ermöglichen, der zerstörerischen Kraft der Gravitation zu entgehen und die Singularität zu erreichen.“
„Also soll das heißen, dass ...“
„Das soll heißen, dass du das Experiment die ganze Zeit über falsch interpretiert hast“, sagte Sokrates. „Es geht nicht darum, das Universum zu brechen, es geht darum, sich ihm anzupassen.“
„Schön“, sagte Janus, „aber das habe ich nicht gemeint. Wenn es funktionieren soll, muss ich mich umbringen. Für mich wird es keine Rettung geben ...“
„Oh. Nun, ja. Da hast du Recht. Die Frage ist, ob es dir das wert ist. Wobei ich sagen würde, dass es für dich in etwa auf das Selbe hinausläuft. Du erschießt dich, du bist tot, das Experiment gelingt. Du erschießt dich nicht, du wirst in Stücke gerissen, du bist tot, das Experiment scheitert. Endgültig. Fairerweise erwähne ich noch die dritte Möglichkeit. Du erschießt dich nicht, du wirst nicht in Stücke gerissen, du lebst, das Experiment gelingt. Dafür ist es natürlich unbedingt notwendig, dass alles, was ich dir bis hierhin erzählt habe, völliger Blödsinn ist.“
„Aber das ist es nicht ...“, sagte Janus.
„Natürlich nicht“, stimmte Sokrates zu, „aber da es für dich keine Möglichkeit gibt, das zu überprüfen, seien dir ein paar Zweifel gegönnt.“
„Wieso hast du mir nicht sofort gesagt, dass es nur so funktionieren kann?“ Janus war ratlos, wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. „Wieso hast du mich glauben lassen, ich könne gerettet werden? Ich habe Mors getötet, in dem Glauben, dass es für mich Rettung gibt und für ihn nicht.“
„Ja. Wie ich schon sagte: bemerkenswert. Ich wollte sehen, was du bereit bist zu tun, um dich selbst zu retten. Dabei hast du nicht einmal einen Moment innegehalten und dich gefragt, ob auf dich vielleicht das Gleiche zutrifft wie auf Mors. Du hast dir nicht die Frage gestellt, ob du es überhaupt wert bist, gerettet zu werden. Vielleicht sieht die Wahrheit ja so aus, dass das nur die diejenigen verdient haben, die nie gelebt haben.“
„Du meinst die Testsubjekte ...“, erkannte Janus. „Ihre Herzen schlagen zwar, aber sie haben nie wirklich gelebt. Sie waren nie bei Bewusstsein.“
„Korrekt. Ohne Bewusstsein, keine Gelegenheit zu Taten, die sie später bereuen könnten. Nicht einmal einen einzigen dunklen Gedanken konnten sie formen. Sie sind so unschuldig, wie ein Mensch potentiell sein kann. Dieses Ideal würde ich gerne retten. Meinst du nicht, dass es das wert ist?“
Janus sah ihn mit großen Augen an. „Doch, aber ...“
„Bedenke“, sagte Sokrates, „das ist deine Gelegenheit, dich zu rehabilitieren. Du hast mir gezeigt, was du bereit bist zu tun, um dich selbst zu retten. Jetzt kannst du mir beweisen, was du für Andere bereit bist zu tun.“
„Moment“, sagte Janus, dem plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss, „du hast gesagt, damit es funktionieren kann, darf es keine Beobachter geben. Aber was ist mit dir? Du beobachtest uns doch die ganze Zeit.“
„Das stimmt“, gab Sokrates zu, „aber für mich gelten andere Regeln. Mir kommt nicht die gleiche schicksalhafte Bedeutung zu wie dir. Ich bin nur ein Schwarzes Loch. Wenn es dich beruhigt, erkläre ich mich allerdings gerne dazu bereit, im entscheidenden Moment wegzusehen.“
Janus starrte sein Gegenüber an. Seine Gedanken rotierten wie das trudelnde Raumschiff.
Die ganze Zeit über hatte er unter der Annahme operiert, dass er sein Ziel gemeinsam mit den Testsubjekten erreichen würde. Genau genommen sah er sich inzwischen selbst als Testsubjekt. Aber die Enthüllungen der letzten Minuten brachten seine Welt ins Wanken. Was sollte er tun?
Janus saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm lagen seine Waffe und eine Notiz. Diese lautete:
Eine einfache Deduktion. Janus hatte Monate seines Lebens mit dem Versuch verschwendet, sie zu brechen. Aber, so hatte er irgendwann einsehen müssen, eine Deduktion ließ sich nicht brechen. So lange die Prämissen gleich blieben, konnte Sokrates nicht unsterblich werden. „Nicht einmal Gott kann daran etwas ändern.“ So hatte Mors es einst ausgedrückt, als er voller Häme Janus‘ Versuche, die Gesetze der Logik zu brechen, kommentiert hatte.
Janus seufzte. Seine Gedanken kreisten um die Frage, weshalb er sich damit beschäftigt hatte. Im Grunde war es die selbe Frage, die ihm Mors und Sokrates gestellt hatten. Wieso war ihm das Experiment so wichtig?
Die Antwort waren zwei Wellensittiche. Er hatte sie getötet, weil sie ihm Leid taten. Vögel gehörten nicht in einen Käfig. Er war nur ein kleiner Junge gewesen, aber so hatte er gedacht. Da er gewusst hatte, dass sie in der Freiheit nur einen langsamen, qualvollen Tod sterben würden, hatte er die einzige Option gewählt, die ihm noch geblieben war. Aber so überzeugt er auch davon gewesen war, richtig gehandelt zu haben, so sehr hatte er sich auch stets gewünscht, er hätte mehr für sie tun können. Daran hatte sich bis heute nichts geändert, und das trieb ihn an.
Den Wellensittichen konnte er nicht mehr helfen, aber für die Menschen an Bord dieses Raumschiffs gab es noch eine Chance. Für sie war der Tod nicht der einzige Ausweg aus ihrem Käfig, für sie konnte er mehr tun. Und wenn Sokrates dafür nicht einmal unsterblich werden musste, vereinfachte das die Sache erheblich.
Er griff nach seiner Waffe und hielt sie sich an die Schläfe. Das Rauschen wurde lauter.