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Der Umschlag

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30.10.2002
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Der Umschlag

Nur ein Umschlag. Weiß. Gefüttert. Mit meinem Namen darauf. Vor- und Zuname. Keine Adresse. Keine Briefmarke. Jemand muß ihn eingeworfen haben. Meine Hand ist schneller als mein Wille. Versicherung, Rechnung, Rechnung, Postkarte, Werbung und wieder der Umschlag.

Noch eine blöde Urlaubskarte. Das Bild zeigt eine sonnige Landschaft irgendwo im Süden. Keine Ahnung, wo. Auf der Rückseite eine Mädchenschrift. Gegen die Leserichtung, sauber aber verschnörkelt, viel zuviel Text. Nur Weiber schreiben so.

Conni schreibt auch so. Die Karte ist an sie. An den Rand gequetscht heißt es noch: „und auch an ...“. Blöde Kuh. Das hätte sie sich auch sparen können. Sie weiß genau, was ich von ihr halte.

Ich betrachte den Umschlag. Er ist breiter als die anderen. Connis Schrift ist das nicht. Ähnlich. Aber nicht ihre. Er ist nicht zugeklebt. Die Lasche wurde nun in den Ausschnitt gesteckt.

Erst ´mal sehen, was die Versicherung will. Mein Zeigefinger bohrt sich in die Falzlücke, und nach mehrmaligem Reißen ist der Umschlag der Länge nach auf. Conni haßt es, wenn ich die Umschläge so zerfetze. Eine dieser „vielen Kleinigkeiten“, die ich wohl nie verstehe. Ist mir einfach zu blöd.

Nur die Quartalsrechnung. Wenn an der Karre auch nur eine Schramme ist! drohe ich im Geiste. Die kann ´was erleben! Früher oder später kommt sie schon zurück. Und dann geht´s aber rund im Karton! Schnappt sich einfach die Maschine! Die hat sie wohl nicht alle! Führerschein hin oder her. Ich will´s eben nicht. Das weiß sie verdammt genau. Und da kann sie drei Mal auf sie zugelassen sein. Es ist und bleibt meine!

Die Post landet auf dem Tisch. Nur den Umschlag behalte ich in der Hand. Das ist auf keinen Fall Connis Schrift. Ihr großes „A“ sieht ganz anders aus. Glaube ich. Sie ist doch bestimmt zu ihrer Mutter gefahren. Tut sie doch sonst auch immer. Dann ist das wohl deren Schrift.

Warum sollte die mir schreiben? Hab´ ich etwa kein Telefon? Und warum schellt sie nicht, wenn sie schon da ist? Traut sich wohl nicht.

Was also mag das sein? Eine Einladung zum Grillen auf Schwiegermamas Terrasse? Zum Glück immer noch Schwiegermama in spe. Die hat immer so tolle Einfälle. Wahrscheinlich hält sie das für eine prima Gelegenheit, um ´mal wieder alles in Ruhe zu belabern. Günther, diese Witzfigur, der sich von seiner Frau auf der Nase ´rumtanzen läßt, steht am Grill, während Madame mir die Ohren vollsülzt. Nee, schönen Dank auch. Außerdem kann ich gar nicht. Am Wochenende machen wir nämlich schon eine Tour durch die Eifel. Ist schon lange geplant. Tut mir leid.

Scheiße! Wie konnte ich auch die Ersatzschlüssel vergessen! An die Wagenschlüssel hab´ ich doch gedacht. Hab´ wohl einfach nicht damit gerechnet, daß sie so dreist ist. Klettert aus dem verdammten Fenster, und wusch, weg ist sie. Mit meiner Maschine!

Vielleicht ist sie auch gar nicht nach Hause zu Mama. Sie könnte zu Sylvi sein. Die wohnt viel näher. Und hat keine Garage. Wäre nicht schlecht, wenn sie da hin wär´. Ich könnte Tom anrufen, wir fahren schnell vorbei, und ich hab´ meine Maschine wieder.

Besser nicht. Der würde natürlich wissen wollen, was die Aktion soll. Und was sag´ ich dann? Er weiß auch, daß ich nicht will, daß sie Motorrad fährt. Paßt doch gar nicht zu ´ner Frau! Die gehört hinten ´drauf. Jannette hat nicht ´mal ´nen Führerschein. Wozu auch?

Na ja. Morgen reicht auch noch. Wir fahren erst Samstag.

Ich könnte ja ´mal anrufen und hören, ob sie da ist. Dann weiß ich wenigstens, wo die Maschine steht, falls es eng wird. Dann darf ich mir zwar wieder anhören, was ich doch für ein egoistisches Arschloch bin, daß ich zuwenig Rücksicht auf die Gefühle anderer nehme und all so´n Zeugs. Alte Lesbe. Kriegt selber keinen ab und will anderen erklären, wie´s geht. Selber von Beziehung keine Ahnung, aber das Maul aufreißen!

Gefühle. Wenn ich das schon höre! Weiberkram. Was kann ich denn dafür, wenn mir ´mal die Hand ausrutscht? Das kann jedem ´mal passieren. Was muß sie auch ständig auf mir ´rumhacken? Tu´ dieses nicht, mach´ jenes nicht, laß´ nicht immer alles liegen, räum´ das auf. Verdammt, wer bringt denn die Kohle nach Hause? Und da soll ich mir vorschreiben lassen, wie ich mich zu benehmen habe? In meiner eigenen Wohnung? Soweit kommt´s noch! Die soll sich ´mal nicht so anstellen!

Okay. Ich hätt´ sie vielleicht nicht schlagen sollen. Wollt´ ich eigentlich gar nicht. Aber sie hat so gebrüllt, nein, gekeift hat sie. Ich kann´s einfach nicht ertragen, wenn sie so keift. Das geht wirklich durch Mark und Bein, so hoch ist das. Nicht zum Aushalten.

Ich mach´s wieder gut. Vielleicht kauf´ ich ihr ´was. Oder wir gehen ´mal wieder ins Kino. War´n wir schon lange nicht mehr. Bestimmt will sie ins Kino. Und dann können wir ja noch irgendwo essen gehen. Der Grieche in der Fußgängerzone soll nicht schlecht sein. Sagt Tom.

Also schön. Was haben wir hier? Einladung zum Grillen oder eine allerliebste Freundin, der Conni ihr Herz ausgeschüttet hat und mir jetzt fein säuberlich verfaßt den Marsch bläst?

Ich ziehe eine Karte aus dem Umschlag und klappe sie auf. Connis Name sticht sofort ins Auge. Darüber steht: „Durch einen tragischen Unfall verloren wir unsere von Herzen geliebte Tochter, Schwester, Schwägerin und Tante“.

Der Rest verschwimmt vor meinen Augen. Ich will hinsehen, aber ich kann nicht. Karte und Umschlag gleiten mir aus den Händen und fallen zu Boden. Ich kann mich nicht bewegen. In meiner Verkrampfung wie festgefroren sitze ich nur da und starre ins Leere.
Verflucht! Das habe ich nicht gewollt.

 

Hallo Viktoria,

schade, dass deine Geschichte unkommentiert auf die zweite Seite durchgerutscht ist.

Ich fand sie gut und (in diesem Fall leider) ziemlich realistisch. Dein Protagonist sieht zunächst mal nur das „Fehlverhalten“ der anderen, bevor er sich überhaupt daran erinnert, dass er etwas falsch gemacht hat. Dann tut er das auch noch als Lappalie ab und überlegt sich, es „wiedergutzumachen“ – und das mit einer Aktion, die an sich selbstverständlich sein sollte und die, wenn sie einfach so erfolgen würde, ohne schlechtes Gewissen, sicherlich auch gut ankommen würde. Aber richtig schlechtes Gewissen hat er ja gar nicht.

Das Ende kam dann für mich sehr überraschend und ist mir nahe gegangen. Es zeigt wieder mal, dass man nicht immer die Chance bekommt, etwas „gutzumachen“ und sich überlegen sollte, ob man nicht von vorneherein etwas anders machen sollte – was in diesem Fall selbstverständlich wäre.

Deine oftmals umgangssprachlichen Formulierungen fand ich hier passend, weil du die Geschichte so geschrieben hast, wie sie auch im Kopf des Protagonisten abgelaufen ist – mit all ihren abrupten Sprüngen.

Beim 2. Absatz solltest du evtl. „Das Bild auf der Postkarte“ schreiben. Ich wusste nicht sofort, welches Bild gemeint war. Und im 3. Absatz evtl. „Die Karte ist an sie gerichtet“.

„Das geht wirklich durch Mark und Bein, so hoch ist das.“
evtl. „so schrill“ statt „hoch“

Viele Grüße

Christian

 

Hallo Criss!

Ich freue mich sehr, daß Dir die Geschichte gefällt. Da Dir das Ende nahe gegangen ist, hat sie offenbar auch ihre beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Das freut mich besonders :-)

Den Ich-Erzähler wollte ich als Proleten und Macho darstellen - aber nicht wirklich widerwärtig, damit der ein oder andere (männliche) Leser ab und zu vielleicht insgeheim nickt. Ich war allerdings unsicher, ob es mir gelingen würde, überzeugend in der Sprache eines solchen Kerls zu schreiben.
Mit Deinen Änderungsvorschlägen zu bestimmten Formulierungen hast Du grundsätzlich natürlich Recht. Es wäre eindeutiger, »Das Bild der Postkarte [..]« oder auf der Postkarte zu schreiben, es wäre korrektes Deutsch, »Die Karte ist an sie.« durch das Wort gerichtet zu ergänzen, und die Umschreibung schrill statt »[..], so hoch ist das.« ist bestimmt treffender. Trotzdem zögere ich, Deine Vorschläge gleich umzusetzen. Bist Du denn sicher, dieser Kerl würde das so denken/sagen?

Noch schnell etwas zu A.´s Überlegungen, wie er seinen 'Ausrutscher' wieder gut machen könnte. Ist Dir die kleine Spitzfindigkeit aufgefallen? »Der Grieche in der Fußgängerzone soll nicht schlecht sein. Sagt Tom.« A. hat keine Ahnung, wo er mit Conni hingehen könnte, weil er das vermutlich noch nie getan hat, und von alleine wäre er wohl nie auch nur auf den Gedanken gekommen. Es bedurfte schon eines besonderen Anlasses. Der Tipp seines Kumpels Tom, an den sich A. erinnert, zeigt, daß glücklicherweise nicht alle Kerls so sind wie er! ;-)

Viele Grüße,
Viktoria

 

Hallo Viktoria!

„An sie“ und „hoch“ kannst du schon lassen, wenn’s umgangssprachlich-authentisch sein soll. Bloß
die „Postkarte“ würde ich in jedem Fall ergänzen, weil der Bezug nach der vorangegangenen Aufzählung beim ersten Lesen (zumindest mir) nicht gleich klar ist. Letztlich wird man doch in einem Prosatext (wenn’s nicht gerade ein Mundarttext ist) immer Kompromisse eingehen und bei Dialogsätzen und Gedanken etwas vom tatsächlich Umgangssprachlichen abweichen, um den Text für alle (auch für Leser, die gewisser umgangssprachlicher Ausdrücke nicht mächtig sind) verständlich zu machen. Dazu gehören mE auch erläuternde Zusätze wie etwa die Postkarte.

Die „kleine Spitzfindigkeit“ ist mir nicht explizit aufgefallen, aber der Unterton im Text macht das auf jeden Fall wett. Dein Protagonist kam bei mir genau so an, wie du ihn haben wolltest. Und dass nicht alle so sind wie er ... nun, davon gehe ich einfach mal aus. ;)

Gruß

Christian

 

Hallo Viktoria,

die Geschichte ist Dir gut gelungen. Man merkt richtig, wie sich der Protagonist in seinen eingefahrenen Gedanken verfängt. Ich fand es auch gut, daß Du ihn gerade n i c h t so typisch als Macho dargestellt hast, dadurch wird die Sache glaubwürdiger.


Weiterhin viel Erfolg,

tschüß... Woltochinon

 

Hallihallo :-)

@Criss: ich schwanke noch, ob ich »[..], so hoch ist das." nicht doch durch »[..], so schrill ist das.« ersetzen soll ;-)
Und mit dem leichteren Bezug zur Postkarte aus der Aufzählung hast Du mich nun endgültig überzeugt.
Was hälst Du davon? ...:

[..] Versicherung, Rechnung, Rechnung, Postkarte, Werbung und wieder der Umschlag.

Noch eine blöde Urlaubskarte. Das Bild zeigt eine sonnige Landschaft irgendwo im Süden. Keine Ahnung, wo. Auf der Rückseite eine Mädchenschrift. Gegen die Leserichtung, sauber aber verschnörkelt, viel zuviel Text. Nur Weiber schreiben so.

(das », vermutlich irgendwo im Süden.« habe ich rausgenommen. Ist das nicht auch besser so?)


@Woltochinon: vielen Dank für Dein nettes Lob! Ich bin ganz furchtbar stolz, daß mein machohafter Protagonist offenbar glaubwürdig rüberkommt! :-) Und das muß er natürlich, sonst geht der ganze Effekt verloren.
Mir selbst rollen sich bei solchen Typen die Zehennägel auf, und bei passender Gelegenheit könnte ich ja mal aus dem Nähkästchen plaudern, was ich bei meinen Recherchen in einschlägigen Spelunken so alles erlebt habe, in denen ich Kerle wie A. anzutreffen hoffte *grins*

In der ersten Fassung war mir übrigens ein dicker Schnitzer unterlaufen. Ich hatte übersehen, daß das Motorrad auf Conni zugelassen sein muß, ansonsten hätte A. als Halter bereits von der Polizei von dem Unfall erfahren und nicht erst durch die Todesanzeige. An dieser Stelle nochmals ein Dankeschön an den Leser, der mich darauf aufmerksam gemacht hat.


Liebe Grüße an euch beide,
Viktoria

 

Hallo Viktoria,

evtl. könntest du "Noch so eine blöde Urlaubskarte" schreiben. Ist aber nur Wortkosmetik.

Das "vermutlich" kannst du dir im Prinzip sparen, weil man mit diesen "Sonnigen Grüßen" ja meist ein südliches Land verbindet.

"schrill" oder "hoch" bleibt dir überlassen. Ich gehe davon aus, dass das "hoch" verständlich ist. "Schrill" würde mir persönlich besser gefallen. Aber das ist Ansichtssache.

Und der Schnitzer ... tja, der ist mir nicht aufgefallen.

Christian

 

Hallo Viktoria,

wenn Du `mal einen weiteren Macho kennenlernen willst: klara hat auf der Philo- Seite ("Ungeschminkt") ein Exemplar beschrieben, welches sicher zu deiner "Sammlung" paßt...

Tschüß... Woltochinon

 

Hallihallo :-)

Okay, ich habe die Passage jetzt wie vorgeschlagen geändert. Nochmals vielen Dank für Deine nette und sehr hilfreiche Unterstützung, Criss! :-)
Übrigens bin ich gerade dabei, einige Deiner Texte zu lesen. Ich habe mich aber noch nicht entschieden, zu welchem ich etwas schreiben möchte (Horror ist z.B. eher weniger so mein Fall). Hast Du vielleicht einen Tipp für mich?

Na ja, Woltochinon, ganz so sehr reizen mich ja Machos eigentlich nicht, trotzdem danke für den Tipp ;-) Klaras Text werde ich mir auf jeden Fall mal ansehen. Wäre schon interessant zu erfahren, wie eine andere Frau das Problem mit der Glaubwürdigkeit gelöst hat.

Schönes Wochenende,
Viktoria

 

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