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Der Tunnel
Eine elegante Frau taucht unter den kahlen Bäumen auf. Sie führt ein Kind von nicht einmal fünf Jahren an der Hand, führt es entlang der Straße. Die Luft draußen ist milchig, das Kind fröstelt. Wir frösteln im Bauwagen auch, die Feuchtigkeit tanzt vor unseren Mündern, kriecht uns forsch unter die Haut.
Die Frau bleibt flüchtig stehen, betrachtet ihr Gesicht. Sie blickt in das dunkle Bullauge am Holz unserer Behausung. Dann zieht sie weiter und ich, unsichtbar für sie im Inneren des Bauwagens, ich blicke ihr nachdenklich hinterher.
Ich höre Cem neben mir brummen. Cem dreht an der Taschenlampe, schüttelt sie, schaut eindringlich in die Leuchte, schüttelt sie erneut.
„Tot“, sagt Cem. „Wirf‘ mal ein paar Batterien rüber.“
Ich suche in meinem Spind nach passenden Batterien. Ich krame eine Handvoll heraus, lege sie Cem vor. Er nimmt sich eine nach der anderen und lässt sie aus kurzer Entfernung mit dem flachen Ende zuerst fallen.
„Die Vollen springen nicht“, sagt er. Er sucht sich drei raus, gibt mir die restlichen zurück. „Hier.“
„Was soll ich damit machen?“, sage ich.
„Und ich, was soll ich damit machen?“, sagt Cem.
„Jungs“, hören wir. Es ist Gregor, unser Vorarbeiter. Gregor ist stämmig, rasch in seinen Bewegungen. Er spricht mit uns, noch während er die Tür zum Bauwagen aufreißt. Sein Spind ist neben der Tür, er macht sich gleich daran zu schaffen und spricht währenddessen einfach weiter:
„… die neuen Stützen eingebaut. Dann müssen wir heute drei Meter schaffen. Cem kümmert sich um die Leitung und ich bin hinten bei der Pumpe. Wo ist Marcel?“
Stille. Dampf steigt aus unseren Mündern auf.
„Krankenhaus“, sagt Cem. Er gurtet das Werkzeug um und verstaut seine Taschenlampe. „Irgendetwas mit seiner Mutter.“
„Schon wieder?“, sagt Gregor. „Wäre gut, wenn er mir Bescheid sagen würde. Wer springt für ihn ein?“
„Ich“, sage ich. „Ich mach’s.“
Gregor ist unschlüssig.
„Will sonst jemand?“, fragt er.
„Ich mach’s“, sage ich. „Ich kann das.“
Gregor schaut mich an: „Du weißt, dass wir uns auf dich verlassen müssen, oder?“
Ich nicke.
„Auch wenn es nicht so aussieht, das ist ein wichtiger Job.“
„Ich weiß“, sage ich. „Ich kann das.“
„Also gut“, sagt Gregor. „Wir haben einen Ersatz für Marcel. Los geht’s.“
Die Mittagssonne taucht draußen unter, verschwindet in der Winternacht.
*
Vor mir laufen die Veteranen, zwei mürrische Männer mit silbernem Haar. Sie kleben immer aneinander, sind sparsam in ihrer Rede. Ich weiß nicht viel über sie, außer dass sie gute Arbeiter sind.
Wir laufen alle zum Van. Jeder steckt sich eine Zigarette an, noch bevor wir das Auto erreichen. Es sind zehn Minuten bis zur Baustelle, da raucht jeder, was das Zeug hält. Auf Vorrat. Im Tunnel herrscht striktes Rauchverbot.
Wir steigen ein und Cem sagt: „Was ist los, hast du heute keinen Bock, zu arbeiten?“
„Doch“, sage ich. „Ich wollte nur mal einen Tag draußen sein. Mal frische Luft schnappen.“
„Aber nicht, dass du Scheiße baust, hörst du?“
„Ich doch nicht“, sage ich.
„Keine Bücher, ja?“
Ich spreize die Arme: „Guck nach.“
„Schon gut“, sagt Cem. „Vielleicht sollte ich auch mal draußen rumhängen. Ich habe den Sand satt.“
„Du?“, mischt sich einer der Veteranen ein. „Dich nehmen sie doch fest, so wie du aussiehst.“
Cem sagt nichts. Er brummt vor sich hin.
Das mit den Büchern, das zog ich mir selbst zu. Um den Männern nicht auf den Sack zu gehen, las ich immer in den Pausen. Abenteuerromane. Geschichte. Dostojewskij. Bis Cem mir seine behaarte Pranke auf die Schulter legte und mit der anderen Pranke das Buch aus der Hand nahm. Ich werde nie vergessen, was er dabei sagte:
‚Das brauchst du nicht mehr. Jetzt bist du einer von uns.‘
Ich bin ein Außenseiter hier. Und das, obwohl ich seit fast einem halben Jahr dabei bin. Ich schrieb mich an der Universität ein, wollte Literatur studieren. Ich machte über den Sommer einen Deutschkurs, als Marcel mir von dem Job erzählte. Marcel kann gut erzählen. Vielleicht liegt es daran, dass ich Interesse für den Job entwickelte. An der Arbeit selbst lag es gewiss nicht. Doch das, was er mir erzählte, ließ mich ganze zwei Nächte lang nicht schlafen. Es war nicht nur das Geld. Es war die Erfahrung, die mir dabei besonders anziehend erschien.
Erst Gregor überzeugte mich endgültig. Marcel stellte uns vor. Mir imponierte gleich, was Gregor alles über mich wissen wollte. Er zeigte mir, dass er nicht jeden ins Team holt. Und dass er sich um seine Männer sorgt. Das ist gut für einen Vorarbeiter.
„Der Job ist gefährlich“, sagte Gregor. „Wir bohren drei bis vier Meter unter der Erde. Es gibt bei dieser Arbeit keine Garantie, dass wir nicht verschüttet werden. Hast du Angst, zu ersticken?“
„Zu ersticken? Nein“, sagte ich.
„Wir haben ein Jahr Zeit dafür“, sagte Gregor. „Wenn wir’s zur richtigen Zeit schaffen, dann gibt’s eine fette Belohnung. Hast du Schulden?“
„Was?“, sagte ich.
„Schulden, ob du jemandem Geld schuldest.“
„Nein, warum?“
„Wir arbeiten nicht mit Leuten zusammen, die Schulden haben. Nenne es Aberglaube, oder wie du es willst.“
„Das Risiko ist zu hoch“, sagte Marcel. „Dass du die Nerven verlierst, verstehst du?“
„Schon gut“, sagte ich. „So wichtig ist das Ganze nicht.“
*
Drei Wochen später stand ich tief gebückt im Tunnel und kaute selbstverloren an dem gelben Berliner Sand. Wie ein Wiederkäuer mahlte ich stumpf vor mich hin. Horchte auf das Knistern zwischen den Zähnen. Der Sand traf klumpig vor Feuchtigkeit mein Gesicht, trocknete aus, füllte dann jede Ritze meines Körpers. Im Tunnel herrschte ein konstantes Klima: kalt und feucht. Wie die Keller in St. Petersburg.
Am Anfang hatte ich allerhand zu erledigen. Gregor setzte mich überall ein. Er wollte mich testen. Er ließ mich Sand schleppen. Stundenlang. Dann gab er mir Werkzeug und ich durfte Planken zusammenschrauben. Die Veteranen bedienten das schwere Gerät, schweigsam und verbissen. Die meiste Arbeit aber machte, wie immer, Cem. Ich musste hinter ihnen stehen, darauf achten, dass ihre Kabel sich nicht verfingen. Obwohl er nicht einmal hinschaute, spürte ich dennoch Gregors Blick in meinen Rücken.
In den Pausen griff ich zu meinem Buch. Ich saß immer etwas abseits, weiter weg von ihnen. Wenn Gregor aber das Wort ergriff und er technische Details erörterte, dann gesellte ich mich dazu. Ich wollte nicht respektlos sein. Es ist nicht meine Art.
„Fliegerbomben“, sagte Gregor, „davon gibt es hier in Berlin noch tausende. Sie stecken meist in der Tiefe, wo wir bohren. Doch darüber müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen, denke ich. Wir sind hier im Süden, da wurde relativ wenig bombardiert.“
Es stimmte, was Gregor sagte. Ich googelte und fand: Die Alliierten hatten hauptsächlich die Innenstadt bombardiert. Sie und später die Russen hatten sich auf das Regierungsviertel und die angrenzenden Arbeiterviertel konzentriert. Die hatten sie in Schutt und Asche gelegt. Der Süden, mit seinen beeindruckenden Villen und den großen, einladenden Parks, wurde weitestgehend verschont. Und das ist etwas Seltsames, bedenkt man, dass es kaum eine Nazigröße gab, die nicht im Süden Berlins gewohnt hätte. Später zogen dann die Amerikaner in die großen Villen ein.
„Das wirkliche Problem ist das Wasser“, sagte Gregor. „Um die Statik müssen wir uns nicht viel Sorgen machen, dafür ist der Tunnel nicht groß genug. Wenn wir uns um ein paar Zentimeter verrechnen, dann steht der ganze Tunnel unter Wasser. Gott alleine weiß, was wir dann machen.“
„Reichen die Stützpfeiler?“, sagte Cem. „Die sehen mickrig aus.“
„Die sind aus einer besonderen Legierung gemacht, das ist kein Problem. Die halten das aus. Das Grundwasser aber, das ist heimtückisch. Passt also darauf auf.“
Wir bewegten uns knapp über dem Grundwasser. „Geschiebelehm“ oder „Geschiebemergel“ stand auf Gregors Plan. Die ganze Stadt ist voll davon. Es sind Hinterlassenschaften einer fernen Vergangenheit, als Gletscher hoch wie Berge den Boden glattgeschliffen haben. Übrig blieb der Sand, gelb und mehlig, und eine Landschaft, die flach und nichtssagend ist. Und ziemlich unfruchtbar, denn der Sandboden ist arm an Nährstoffen und wenige Kulturpflanzen gedeihen hier. Aber heute hat das keine Bedeutung mehr. Ich denke nur an Monaco und daran, wie prächtig die Menschen dort leben. Monaco, das auf kahlem Fels erbaut wurde.
*
Ich sitze draußen im Van. Es ist kalt, der Winter ist feucht und ich merke, dass es kaum einen Unterschied zum Tunnel gibt. Neben mir liegt das Arbeitstelefon, das Gregor mir ausgehändigt hat. Und unter dem Sitz mein Buch. Es ist meine neueste Anschaffung, das Werk eines Journalisten, Evan Wright. Ich mag den Stil, die Art, wie Wright erzählt. Seine Kurzgeschichten – alles Milieustudien - sind atemberaubend. Ich las auch sein letztes Buch, Generation Kill. Darin begleitet er eine US-Einheit in den Irak. Als Korrespondent für das Rolling Stones Magazin. HBO hat das Buch verfilmt, es entstand eine preisgekrönte Serie. Jetzt habe ich sein neuestes Werk: American Desperado. Die Biographie von Jon Roberts, einer der Cocaine Cowboys. Es juckt mich in den Fingern, darin zu lesen. Und zu rauchen. Aber ich bleibe solidarisch mit den anderen. Hebe mir das für später auf, wenn wir mit der Schicht durch sind.
Es klopft an der Scheibe. Ich zucke zusammen. Es ist Gregor.
„So passt du also auf?“, sagt Gregor. „Du hast mich nicht kommen sehen, was soll das?“
„Entschuldige“, sage ich. Ich will mehr dazu sagen, halte mich aber zurück. Gregor mag das nicht.
„Wenigstens bist du nicht eingeschlafen“, sagt Gregor. „Das ist auch schon mal was. Und, war hier was los?“
„Nein. Alles ruhig.“
„Keine Penner? Junkies?“
„Nein“, sage ich. „Alles in Ordnung.“
Die Einfahrt zur Baustelle ist schmal und führt an mehreren Garagen vorbei. Die schmale Einfahrt erlaubt es uns nicht, Laster zu verwenden, um den Aushub wegzuschaffen. Einer der Veteranen benützt einen schäbigen Dacia, fährt zweimal pro Schicht den Sand weg. Die Baustelle liegt am Rathaus Steglitz. Das alte Rathaus ist ein Hochhaus. Es war lange Zeit eine Rarität in Berlin. Noch heute überragt es den ganzen Süden. Im Internet las ich, dass für den Bau des Rathauses viel Geld verpulvert wurde. Für jedes Stockwerk ein Skandal.
Die Baustelle liegt knapp dahinter und von hier aus sehe ich die Schule, die Volksbank und die Lichter einiger Mehrfamilienhäuser. Diese Ecke wird manchmal von Obdachlosen und Junkies heimgesucht. Sie liegt abseits der Schloßstraße. Sie bietet eine gute Gelegenheit, windgeschützt zu übernachten. Gregor ist auch hier abergläubisch. Er möchte weder Obdachlose, noch Saufkumpanen oder Drogensüchtige in seiner Nähe haben. Es gehört zu meinen Aufgaben, dafür Sorge zu tragen, dass hier niemand rumhängt.
„Vielleicht gehst du uns etwas zu essen holen?“, sagt Gregor. „Ich übernehme solange.“
„Klar“, sage ich. Er gibt mir Geld und ich ziehe los. Und ich hoffe, dass er nicht auf American Desperado stößt.
*
„Fünf Döner“, sage ich dem schläfrigen Verkäufer. „Einer vegetarisch, mit viel scharf.“
Der Dönerverkäufer wirft mir einen abschätzenden Blick zu. Ich stelle mich arglos, vertiefe mich in die Anzeigetafel, lese die Preise.
„Nicht sechs?“, sagt der Verkäufer. Es verschlägt mir fast die Sprache.
„Was?“, stammle ich.
„Sechs Döner, einer vegetarisch. Das holt doch immer, wie heißt er denn?“ Der Verkäufer wendet sich an seinen Kollegen, spricht schnell auf Türkisch auf ihn ein.
„Marcel“, sagt der Kollege.
„Genau, Marcel. Der holt das immer um diese Zeit.“
„Keine Ahnung, wovon du sprichst …, arkadas“, füge ich begütigend hinzu. Das habe ich in Neukölln gelernt, da habe ich eine Zeitlang gewohnt. Es heißt ‚Freund‘. Ich kann mein Zittern schwer verbergen, also sage ich: „Und gib mir etwas von der Baklava da drüben. Ist die frisch?“
„Frisch und saftig wie die Touristinnen, die jeden Tag hierher kommen“, sagt der Verkäufer. „Ich weiß gar nicht, wer wen verspeisen will, die Baklava dich, oder du die Baklava.“ Er lacht, ich lache auch. Sein Lachen ist freundlich, ich lache nervös.
Ich bin nicht gut darin, mit Menschen umzugehen. Das war ich nie. Ich war immer introvertiert und es fällt mir schwer, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen. Ich kam nach Berlin, um zu studieren, und verbrachte ein Dreivierteljahr in Neukölln. Neukölln ist voll mit Weltenbummlern, ein kultureller Schmelztiegel. Dennoch schaffte ich es nicht, Freundschaften zu schließen, lernte niemanden kennen. Außer Marcel, aber den kannte ich von früher.
Ich laufe die Schloßstraße entlang. Es ist Nacht, die Stadt ist wie ausgestorben. Es ist ruhig hier in Steglitz, ganz anders als in Neukölln. Es gibt keine Polizeistreifen, keine heulenden Sirenen. Die Menschen schlafen um diese Zeit, zwölf Stunden später aber ist diese Straße gerammelt voll. Mir gefällt diese Ruhe und dass ich mal austreten darf. Es tut mir gut, diese Stille zu spüren. Ich finde zu mir.
Ich stöpsle meine Kopfhörer ein, suche den Oldie Sender. Seit ich mit den Arbeitern zusammenwohne, tagtäglich im Tunnel schufte, hat sich mein Musikgeschmack verändert. Ich mag elektronische Musik nicht mehr. Auch Hip-Hop nicht. Stattdessen höre ich jetzt gerne 80er-Songs. Berlin hat einen Radiosender, der nur das spielt. Rik de Lisle moderiert, es muss also Freitag sein.
„Bakerman, is baking bread“, höre ich. Es tut gut, so einsam in der Nacht Laid Back zu hören. Ich erinnere mich an früher, wie meine Eltern und ich das Videoclip dazu anschauten. Lars von Trier hat es gedreht. Darin springt die Band aus großer Höhe aus einem Flugzeug. Alle fallen in dem Video. Ununterbrochen. Sie fallen und fallen und fallen. Alles wurde in einem Take gedreht, später dann geschnitten. Wie das richtige Leben.
‚Sagabona kunjani wena‘.
Genau. Meine Rede.
*
Meine Eltern starben, als ich zwölf Jahre alt war. Ein LKW bremste plötzlich und mein Vater fuhr mit voller Wucht dagegen. Ich war nicht angeschnallt und der Aufprall zertrümmerte augenblicklich die Scheiben unseren Wagens. Ich wurde hinauskatapultiert und landete weich neben der Straße, im Graben. Der LKW hinter uns konnte nicht mehr bremsen. Er fuhr unseren Wagen platt. Tötete meine Mutter und meinen Vater. Ließ mich am Leben.
Bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag lebte ich bei meinem Onkel. Mein Onkel führte die Erziehung fort, die meine Eltern mir zukommen lassen wollten. Er gab mir viel zu lesen. Ermutigte mich darin, hinter die Dinge zu blicken. Er legte mir Platon nahe. ‚Den göttlichen Platon‘, nannte Onkel Orlando den Griechen immer. Von Platon weiß ich, dass der Gute und der Schlechte nicht zwei verschiedene Menschen sind. Sie sind ein und derselbe.
„Wie“, sagt Cem, „ein und derselbe? Wie soll das gehen?“
„Angenommen, ich habe ein Messer und ich möchte dir damit richtig weh tun“, sage ich.
Cem verzieht das Gesicht. Seine Augenbrauen verraten mir, dass Hypothesen aufzustellen nicht wirklich seine Lieblingsbeschäftigung ist.
„Ich meine, sagen wir, ähm, ich möchte Marcel wehtun. Dafür muss ich wissen, welche Stellen an seinem Körper ihm die schlimmsten Schmerzen verursachen, oder?“
„Ja“, sagt Cem.
„Wer weiß sowas eigentlich? Ein Arzt, oder?“ Da Cem nickt, fahre ich fort: „Und dieser Arzt könnte Marcel viel mehr weh tun als ich. Ich habe keine Ahnung von Anatomie. Der Arzt aber schon. Wer also das wirklich Schlechte tut, muss eine gute Ahnung davon haben, was das Gute ist. Ansonsten ist er ein Stümper, der auf gut Glück versucht, etwas Schlechtes zu machen.“
Cem hat Schwierigkeiten damit, mich zu verstehen. Aber ich sehe Gregor, der die Ohren spitzt und mir zuhört.
„Das ist zu kompliziert“, sagt Cem. „Deswegen lese ich auch keine Bücher.“
„Das ist nicht schlimm“, sage ich.
„Natürlich nicht“, sagt Cem. „Glaubst du, ich bin dumm, oder was?“
Cem ballt die Fäuste zusammen. Nicht wegen mir. Etwas ärgert ihn fortwährend. Nie aber ist es einer von uns. Wir ärgern Cem nie. Seine Hände sind fleischig und grob wie Ziegel. Keiner will von ihm unsanft angefasst werden. Wir sehen, wie er arbeitet, da sieht sich jeder vor, was er zu Cem sagt.
*
Ich zog mit ihnen zusammen, weil ich mir die Miete nicht mehr leisten konnte. Ich blieb aber weiterhin immatrikuliert. Ich erhielt von Gregor das Geld, die Studiengebühren zu bezahlen. Das Haus, in dem sie alle bis auf Marcel wohnten, lag in Lichterfelde. Es war ein niedriger Bau aus den Sechzigern, eckig, funktionell und flankiert von zwei herrschaftlichen Villen. Das Haus war aufgeteilt in viele Einzelwohnungen, jede davon mit einer Kochnische ausgestattet. Die Duschen waren draußen, auf jede Etage ein Bad. Hier stiegen Bauarbeiter und Handwerker ab, viele Ost- und Südeuropäer.
Im Haus wurden viele Sprachen durcheinander gesprochen. Kaum einer konnte Deutsch. Die gutbürgerliche Lage des Hauses übertrug einen Anflug von Ruhe und Ordnung auf seine Bewohner und so verhielten sich auch die vielen Gäste, die meist für zwei, drei Wochen in die Stadt kamen: ruhig und bescheiden. Es gab nie Ausfälle, Auseinandersetzungen, Trinkgelage und dergleichen. Ganz im Gegenteil, die Männer gingen frühmorgens aus dem Haus und sie kamen erst nachts wieder zurück. Wie wir waren auch sie nur mit ihrer Arbeit beschäftigt. Die Unterkunft war günstig, siebzehn Euro die Nacht.
Wir hatten unseren Bauwagen draußen geparkt. Dort versammelten wir uns vor und nach der Arbeit. Darin legten wir unsere Klamotten ab. Gregor bestand darauf, kein Werkzeug herumliegen zu lassen. Er sagte, er wolle keine Diebe provozieren. Der Bauwagen ist nie aufgebrochen worden. Wenn er aber aufgebrochen worden wäre, dann hätten wir Gregor für seine Voraussicht gedankt.
Zunächst erinnere ich mich an den Geruch. Das war das Erste, was mir an diesem neuen Leben auffiel. Das Haus, der Bauwagen, der Tunnel und die Arbeiter, alle strömten den gleichen, spezifischen Geruch aus. Primär war es Schweiß, Männerschweiß, dann kamen günstige Deodorants aus allen Discountern des Kontinents hinzu. Wenn man eine Weile daran schnüffelte und diese zwei Noten ausblendete, dann kam der individuelle Anstrich zum Vorschein: Gips bei den Maurern, schwefliger Schweißgeruch und Öl bei den Metallarbeitern, blasser, antiseptischer Plastikgeruch bei den Fabrikarbeitern.
Wir rochen nach Erde, modrig und feucht. Nach zwei Wochen hörte ich auf zu differenzieren und nahm wie selbstverständlich diesen neuen Geruch an. Ich wusch mich immer seltener. Das machten wir alle so. Wir verbrachten aber die ganze Zeit miteinander und bald stellte ich fest, dass diese neue Art zu leben sehr erfüllend war.
Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern des Hauses, arbeiteten wir nicht nach Tarif. Wir konnten arbeiten, wie wir Lust hatten. So kam es vor, dass wir mehrere Tage zwölf bis sechzehn Stunden unter der Erde verbrachten, um dann die folgenden Tage für nur ein, zwei Stunden bei der Arbeit zu erscheinen. Darin war Gregor äußerst großzügig. Das Wichtigste war ihm nur, dass wir konzentriert arbeiteten, das war alles. Wie er das unseren Auftraggebern klarmachte, war mir ein Rätsel. Ich entdeckte aber, dass ich immer mehr in dieser Welt versank, und dann machte es mir wirklich Spaß so zu leben.
Mein Körper begann, sich zu verändern. Das war etwas anderes als die Veränderung, die in der Pubertät begonnen hatte. Rein physisch hatte ich das Alter des Wachstums überschritten, mein Körper hatte sich mittlerweile auf meine Bedürfnisse eingestellt und rechnete damit, die restliche Zeit in gleicher Weise durchzustehen. Die harte Arbeit begann, meine Muskeln zu beanspruchen. Ich spannte immer öfters die Rückenmuskulatur an, besonders aber die Beine schienen an Kraft und Dicke gewonnen zu haben.
Ich aß regelmäßig und legte schnell an Gewicht zu. Meist kochte einer der Veteranen und dann gab es viel Fleisch und deftige Soßen. Der andere Veteran, der kleinere von den beiden, war ein Feinschmecker. Er hatte einen asiatischen Supermarkt nahe der Baustelle entdeckt. Von dort besorgte er sich Soßen und Gewürze. Er kochte manchmal auch, dann aßen wir exotische, asiatische Speisen mit viel Grünzeug und Chilies. Auch ich trug meinen Teil dazu bei und versuchte mich daran, einen Auflauf und Spaghetti mit Hackfleisch zu kochen.
Manchmal nahm mich Marcel mit zu seiner Mutter. Sie wohnten unweit von uns. Die Mutter hatte eine raue, männliche Stimme. Es gab nicht sonderlich gute Speisen bei Marcel zu essen, ich unterhielt mich aber gerne mit der Mutter. Sie kannte noch meinen Onkel. Marcels Mutter übernahm unsere Wäsche, und obwohl uns die Körperpflege nicht besonders am Herzen lag, lief die Waschmaschine in ihrer kleinen Wohnung permanent auf Hochtouren.
*
„Wenn dich dein Onkel jetzt sehen würde, möge er in Frieden ruhen“, sagt Marcels Mutter.
Ich nicke und stopfe mir die Rindsroulade in den Mund. Ich kaue wie Cem, nachdrücklich, mit Härte, und stelle fest, dass mein Unterkiefer das Naturell einer Bulldogge nachahmt.
„Gehst du überhaupt noch zur Schule?“
„Na klar“, sage ich mit vollem Mund. Ich verschlucke mich, muss husten. „Wir haben jetzt Semesterferien, wissen Sie.“
„Deine Fingernägel sehen nicht nach Schule aus“, sagt sie.
Ich blicke auf meine Finger: Sie sind stämmiger geworden, wenn auch nicht ansehnlicher. Ich balle meine Fäuste zusammen und auch hier imitiere ich Cem. Ich bin erstaunt. Doch anstatt mich davon abzuwenden, entscheide ich bewusst, die Pantomime weiterzuführen, und ich brumme wie ein Bär vor mich hin.
Marcels Mutter sagt nichts mehr. Sie sieht mir schweigend zu, wie ich mir den Bauch vollstopfe. Ich danke Cem für die unerwartete Hilfe.
„Kein Nachschlag, vielen Dank“, sage ich.
„Wie lange willst du das noch machen?“, sagt sie.
Ich ziehe die Schulter hoch.
„Das ist keine Arbeit für dich“, sagt sie. „Du gehörst nicht dazu, weißt du?“
Ich glaube, Cem würde ihr widersprechen.
*
Es hat etwas Archaisches an sich, sich unter der Erde durchzuwühlen. Etwas Ähnliches berichten Stadtbewohner, wenn sie sich daran machen, bäuerliche Arbeit auszuführen. Man verbindet sich wie von selbst mit etwas, was uns Menschen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Es fühlt sich einfach vertraut an. Und das, obwohl man nie etwas damit zu tun hatte.
Unter der Erde zu wühlen, ist so alt wie die Welt. Ich merke, wie ich jetzt ganz anders auf mein Leben blicke. Ich stelle eine Verbindung zwischen mir und anderen fest, die in ebensolcher mühevoller Tätigkeit der Erde Metalle entrissen haben. Alles, was uns umgibt, besitzt mehr oder weniger einen Anteil davon. Dafür ist irgendein Namensloser unter die Erde gekrochen und hat das Metall ausgegraben. Das Metall wurde geschmolzen, bearbeitet. Ich fühle mich aber dem Namenslosen nah, der den Mut besaß, sein Glück unter der Erde zu suchen.
Unfälle im Tagebau gibt es wie Sand am Meer. Über und unter der Erde. Entweder bricht die Decke über dir ein, das Wasser ertränkt dich, oder Methan und andere Gasen ersticken dich. Das schwere Gerät verselbstständigt sich und reißt dir ganze Gliedmaßen ab. Wenn du Glück hast, wirst du dabei getötet.
Aber das ist nichts im Vergleich dazu, wenn man nichts tut. Wenn man nur vor sich hinstarrt und denkt, dass irgendwer einen immer abzockt. Wenn man mit dem Gefühl leben muss, der Sklave eines anderen zu sein. Sklave des Schicksals oder Sklave des Lebens. Dann lieber unter die Erde kriechen und graben.
*
Ich kann unschwer erkennen, dass meine neuen Freunde eine Vergangenheit besitzen, die nicht mal mit Euphemismen in einem normierten Lebenslauf zu beschreiben ist. Ich weiß, dass Marcel manchmal Ärger mit dem Gesetz hatte, dass er auch mal für kurze Zeit in Untersuchungshaft war. Es waren aber jugendliche Sünden, die er weit hinter sich gelassen hat.
Auch Cem scheint seine Schwierigkeiten damit zu haben, allgemeine Grundsätze anzuerkennen. Ich kann mir gut vorstellen, wie es bei ihm war. Er ist im Grunde cholerisch und hat ein sensibles Rechtsempfinden. Ich kann ihn förmlich vor mir sehen, wie seine Sicherungen durchbrennen und er alles kurz und klein schlägt. Er aber redet nicht darüber und nachzufragen finde ich unhöflich.
Die Veteranen erzählen natürlich auch nichts. Bei ihnen ist es aber anders, bei ihnen kann ich das lesen. An ihren Körpern. Im Tunnel entledigen sie sich ihrer Kleidung und dann kommen Tätowierungen zum Vorschein. Blasse, bläuliche Strichlinien, die von den Lenden bis hin zu ihren Hälsen den Oberkörper umspannen. Auch die Arme erzählen Geschichten. Ganze Epen sind auf ihren Leibern verewigt, gepunktete Striche, die mühevoll mit selbstgebasteltem Gerät eingestochen wurden. Ich kann die Symbole nicht entziffern, muss mich mit den obligaten, von einem Pfeil durchstoßenen Herz begnügen.
Nur Gregor kann ich schwer einschätzen. Ich hüte mich auch, Überlegungen über ihn anzustellen. Betrachte ich den Respekt, den er bei den anderen genießt, so kann ich mir schwer vorstellen, dass er nichts mit dieser Welt zu tun hat. Andererseits ist sein ganzes Betragen derart zivilisiert und vernünftig, dass man schwer annehmen könnte, er wäre jemals mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Was aber bei allen spürbar ist, ist eine unheimliche Kraft. Etwas, das hinter ihren Bewegungen lauert, mögen sie noch so albern und alltäglich sein. Es scheint mir geradezu, als würde diese Kraft nur darauf warten, auszubrechen, in die Welt zu treten. Es fällt mir schwer, das zu erklären, weil man etwas Derartiges so selten im Alltag erlebt. Vielleicht ist das „Menis“, das berüchtigte erste Wort der Ilias. Die Lateiner nannten es „Ira“ und wir sagen dazu „Zorn“. Ich kann es schwer einordnen und herausfinden möchte ich es nicht.
*
Ich bekomme unerwartete Hilfe. Ich lese American Desperado. Evan Wright eröffnet das Buch mit Jon Roberts, Mitte, Ende sechzig, der mit seinem achtjährigen Sohn in Miami im Footballstadium sitzt. Eine Stimme setzt an und verkündet:
„Wir begrüßen hier im Stadion unseren berühmten Cocaine Cowboy, Jon Roberts.“ Roberts Bild erscheint auf der Anzeigetafel. Die Menge jubelt.
Jon Roberts heißt eigentlich Riccobono. Er stammt aus einer New Yorker Mafiafamilie, sein Vater war ein einfacher Soldat. Roberts gerät bald auf die schiefe Bahn, schließt sich einer Gang an und zeichnet sich schon früh durch Grausamkeit aus. Er wird in ein Erziehungsheim gesteckt.
Er wird verhaftet und zieht, nach eigenen Aussagen, für eine amerikanische Eliteeinheit in den Vietnamkrieg. In Asien lernt er das Töten und er tötet viel. Sehr viel. Im Buch sagt er scherzhaft, dass Rambo ein unschuldiger Abklatsch seiner selbst war. Zurück in New York treibt er sich in der Clubszene herum und wird straffällig, so dass er am Ende, verfolgt vom Gesetz und der Mafia, nach Miami fliehen muss. Dort entdeckt Jon Roberts das Kokain, knüpft Verbindungen nach Medellín und arbeitet gleichzeitig mit der CIA zusammen. Er wird der größte Kokain-Importeur in den Vereinigten Staaten, wird zum Cocaine Cowboy. Sein Reichtum ist exorbitant, sein Lebensstil extravagant. Am Ende wird er verhaftet.
Dass aber Jon Roberts mit sechzig und mit seinem Sohn im Stadion erscheinen kann, muss einen stutzig machen. Seine Verbrechen sind maßlos. Für einen verschwindend geringen Teil seiner im Buch aufgezählten Verbrechen würden die meisten von uns lebenslänglich bekommen. Dennoch büßt er eine relativ kurze Haftstrafe ab und sein Besitz – was davon als solcher identifiziert wurde – wird konfisziert.
Das Faszinierende an diesem Buch ist die hervorragend dokumentierte Karriere eines Berufsverbrechers. Ich würde sogar weiter gehen und behaupten, dass es ein Leitfaden darstellt, wie man es zu einem erfolgreichen Kriminellen bringen kann. Noch nie wurde so etwas geschrieben. Nie zuvor hat man gewagt, einen kritischen Blick in den Abgrund eines solchen Lebens zu werfen. Doch anstelle von Abscheu kann man nur Bewunderung empfinden. Es ist etwas, das einem schlaflose Nächte bereiten kann.
*
„Ich weiß nicht“, sagt Cem. „So toll klingt das gar nicht, was der da durchgezogen hat. Da kenne ich ganz andere Typen.“
„Ich auch“, sagt Marcel.
Bei Marcel bin ich mir aber nicht ganz sicher. Cem auch nicht, denn er sagt: „Quatsch kein‘ Blödsinn.“
„Ich meine, ich bewundere sein Durchsetzungsvermögen“, sage ich. „Bei allem, was man so im Leben einstecken muss, immerhin hat sich Roberts da nichts bieten lassen.“
„Das kann sein, ich weiß es nicht“, sagt Cem. „Aber Bücher sind Bücher und das Leben ist ganz selten so, wie’s in den Büchern geschrieben steht. Stimmt’s, Student?“
„Also liest du doch Bücher“, sage ich.
„Na klar“, grinst Cem. „Nur laufe ich nicht umher wie du und gebe damit an.“
„Was Cem damit sagen will, ist, dass solche Verbrechertypen auf ihre alten Tage gerne dick auftragen. Man muss nicht alles für bare Münze nehmen, was man hört und liest.“
Selbst Cem schaut überrascht auf. Gregor setzt sich zu uns und sagt:
„Viel lieber würde ich deinen Roberts fragen, wie er nachts so schlafen kann.“
„Im Buch steht, nicht besonders gut.“
„Ja, das habe ich mir gedacht“, sagt Gregor.
„Woher weißt du das?“, frage ich.
„Einfach: Ich nehme an, er hat alles durchgesetzt, was ihm richtig erschien. Dass es aber einen Unterschied gibt, zwischen dem, was einem richtig erscheint und was tatsächlich richtig ist, brauche ich dir nicht zu erklären, oder?“
„Nein“, sage ich.
„Dieser Unterschied ist das, was ihn für gewöhnlich nachts heimsucht. Karl“, sagt dann Gregor, „sei bitte so nett und komm‘ mal zu uns.“
Der kleine Veteran gehorcht. Er setzt sich auch zu uns, die Hände vorm Bauch gefaltet.
„Sag uns bitte, was du mir am Anfang über den Jungen gesagt hast.“
Karl räuspert sich, blickt um sich und spricht dann mit einer ruhigen, präzisen Stimme: „Ich sagte, dass er noch jung und unerfahren ist. Dass er nicht zu uns gehört. Und dass er uns gegebenenfalls bei der Arbeit stört.“
„Was habe ich dazu gesagt?“
„Du sagtest, das mache nichts. Das Besondere an ihm sei, dass er zwischen Gut und Schlecht unterscheiden kann. Das bringt uns Glück, hast du gesagt.“
„Wie hat er sich bisher gemacht?“
Karl blickt mich aus trüben Augen an.
„Gut, würde ich mal sagen. Oder?“ Karl blickt hoch zu seinem Freund. Der lange Veteran nickt zustimmend.
„Aber noch sind wir nicht durch“, sagt Karl.
„Noch nicht, nein. Aber bald. Ich glaube, dass er sich unser Vertrauen verdient hat, was sagt ihr dazu?“
Sie nicken alle.
„Dann solltest du wissen“, sagt mir Gregor, „dass das, was wir machen, das Richtige ist. Die ganze Arbeit ist nicht für das Geld. Sie war einfach längst hinfällig. Wenn also jemand auf die Idee kommt, zu behaupten, das würden wir aus einer Laune heraus machen, dann würde ich dem widersprechen. Denn jeder von uns möchte nachts ruhig schlafen.“
Ich sehe, wie die Veteranen ihre Köpfe leicht zur Seite neigen. Auch Gregor sieht das, aber damit scheint er seinen Frieden gemacht zu haben.
*
Ich durfte den letzten Schlag setzen. Der Boden gab nach und über uns lag der Tresorraum der Volksbank. Es war dunkel, ich konnte aber den metallischen Geruch der Schließfächer wahrnehmen. Cem schob mich beiseite und vergrößerte mit wuchtigen Schlägen die Öffnung. Da sprang die Alarmanlage an.
Wir hatten mit dem Durchbruch bis Freitagabend gewartet. Die Bank würde erst Montag früh wieder öffnen. Zwei Tage und drei Nächte also, um die Schließfächer leerzuräumen.
Eine Polizeistreife erschien. Sie überprüfte den Eingang der Bank, die Streifenpolizisten sahen sich um. Da der Eingang des Tunnels fünfundvierzig Meter von der Bank entfernt in einer gemieteten Garage lag, merkten die Polizisten nichts von unserer Anwesenheit. Marcel rief Gregor an und gab ihm Bescheid, als die Beamten die Bank verlassen hatten.
Als nächster kletterte Gregor in den Tresor. Wir hatten mittlerweile Lampen aufgestellt. Aus einer Liste las er uns jeweils eine Schließfachnummer vor. Und Cem, die Veteranen und ich machten uns daran, die Schließfächer eines nach dem anderen aufzubrechen. Wir zogen die Schließfächer raus und leerten sie in große Plastiksäcke.
Als wir mit der Liste fertig waren, fasste der kleine Karl Gregor am Arm. Sie sprachen schnell miteinander und ich konnte kaum etwas verstehen. Cem und ich waren mit dem Heraustragen der Säcke beschäftigt. Die Veteranen begannen, weitere Schließfächer aufzubrechen. Am Samstagmorgen waren fast alle Fächer leer.
Wir räumten die Baustelle, verstauten das Werkzeug. Verwischten unsere Spuren. Wir hatten keine Eile, nicht wie in den Filmen. Zur Feier des Tages stießen wir mit Energy Drinks an. Dann verschwand Gregor nochmal in den Tresorraum. Er kam heraus und mit ihm der Geruch nach Rauch.
Gregor und ich waren die Letzten. Gregor griff in seinen Rucksack. Zog ein Buch heraus, nagelneu und noch in Folie verschweißt. Er zeigte es mir.
„Auf Polnisch?“, sagte ich. „Das ist geistreich.“
„Ja“, sagte Gregor. „Ein kleiner Spaß. Ich dachte, das würde dir gut gefallen. Ich hab’s gelesen, gar nicht mal so schlecht, dein Roberts.“
Wir grinsten beide. Er riss die Folie auf und warf das Buch in den Tunnel. Dann zogen wir unsere Handschuhe aus und verschwanden in der milchigen Nacht.