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Der Tunnel
Der Tunnel
Wir waren jung.
Die Stadt war uns ein wilder, grenzenloser Dschungel, dessen Geheimnisse es zu entdecken galt. Hinter der kühlen Ordnung aus Häuserblöcken und asphaltierten Straßen lockte der Zauber von verborgenen Strauchhütten und kaum betretenen Pfaden, die nur von Kinderaugen gesehen werden konnten.
Wir fanden jene stets vorhandene Lücke in den verrosteten Gitterzäunen, ließen uns von peitschenden, dornenbewehrten Ästen nicht abhalten, dem einmal gefundenen Weg zu folgen. Während unsere Eltern noch daran glaubten, man könne den Tag in Stunden und Minuten einteilen, wussten wir, dass unsere Abenteuer zeitlos waren.
Markus war mit seinen vierzehneinhalb Jahren der Älteste von uns, aber nicht nur deshalb unser Anführer. Sein Vater, ein hochgewachsener und energischer Mann, bemühte sich redlich, den Jungen in der wenigen freien Zeit, die ihm als selbständiger Klempnermeister verblieb, zu dem zu erziehen, was er unter einem ordentlichen Menschen verstand. Doch die zahlreichen Ohrfeigen, die mitunter die Sommersprossen auf dem blassen Gesicht des Sohnes tanzen ließen, konnten dessen jugendlichen Zorn nicht besänftigen.
Nein, wir bewunderten Markus, weil er einen Mut besaß, der stark genug war, die Angst vor dem eigenen Untergang zu ertragen. Trotz aller schmerzhaften Niederlagen scheute er sich nicht, immer wieder wüste Schlägereien mit weitaus älteren Jungen auszutragen in der stummen Gewissheit, für sein Recht zu kämpfen und irgendwann genug Kraft zu besitzen, diese Kämpfe auch gewinnen zu können.
Vielleicht, weil es bei Markus immer um Leben oder Tod ging, konnte ich zu ihm zu stehen, auch wenn er sich nach meiner Meinung im Unrecht befand.
Wie ein breiter, mittäglicher Schatten war meist Dirk in unserer Nähe. Mondgesichtig, mit kurzen, plumpen Beinen, die ihre schwere Last nur dadurch tragen konnten, dass sie in kleine, stampfende Schritte verfielen.
Seine alleinstehende Mutter war zwar froh, den drüsenkranken Sohn überhaupt in einem Freundeskreis zu wissen, plagte sich jedoch stets mit dumpfen Vorstellungen von Verkehrsunfällen, gebrochenen Beinen und geheimnisvollen, immer tödlich endenden Krankheiten, die ihren Sohn treffen könnten. Sie war davon überzeugt, dass er das Unglück magisch anzog.
Hinter der Fassade eines gutmütigen Lächelns und der Unbeholfenheit seines aufgeschwemmten Körpers besaß Dirk jedoch die faszinierende Aura sadistischer Bosheit, die immer dann auftauchte, wenn er plötzlich einen Stein aufhob, um ihn nach einer streunenden Katze zu werfen. Ein befriedigtes Glitzern erschien in seinen Augen, wenn das Tier laut aufschrie und sich noch einmal mit dem verwirrten Ausdruck der nicht verstehenden Kreatur umblickte, um dann humpelnd im nächsten Gebüsch zu verschwinden. Oder wenn er mit aller Kraft an einem Strauch schüttelte, nur weil er darin ein Vogelnest mit Eiern entdeckt hatte, die nun unbedingt zu Boden sollten.
Ich weiß nicht, wer von beiden der Stärkere gewesen wäre, hätten sie einmal ernsthaft miteinander gekämpft. Doch Dirk ahnte wohl, dass man ihn nie als Anführer akzeptieren würde und ordnete sich freiwillig unter in der Hoffnung, dass ein Teil der Bewunderung, die Markus von seinen Klassenkameraden und Freunden erhielt, auch für ihn gelte.
Und ich? Ich folgte ihnen voller Faszination und Furcht und dachte nicht daran, ihnen ihre Stellung streitig zu machen. Sie ermöglichten mir ein Leben voller Abenteuer außerhalb der Reichweite meiner mich erziehenden, langsam vergreisenden Großmutter, ein Leben, das ungemein aufregender war als das allabendliche Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel mit ihr oder das rituelle gemeinsame Abendgebet.
An jenem Tag in den Sommerferien war der Himmel von einem dichten Dunst bedeckt, durch den kaum das bleierne Licht der Sonne drang. Nur selten erzitterten die Zweige unter dem zufälligen Hauch des Windes und in den Straßen hing noch der Geruch von Sauerkraut und Kohlrouladen.
Markus war die ganze Zeit über sehr schweigsam gewesen, wir folgten ihm ebenso wortlos und droschen nebenher mit abgerissenen Weidenzweigen auf das Gebüsch am Wegrand ein. So näherten wir uns, ohne dass wir dies zunächst bemerkten, der eingleisigen Bahnstrecke, die von Westen kommend in einem langen Einschnitt zwischen Straße und Feldern hinab taucht und dann in einem Tunnel mündet. Dieser führt das Gleis dreihundert Meter unter einen Straßenzug und einer breite Kreuzung, dahinter taucht es wieder auf und vervierfacht sich im Vorfeld unseres Bahnhofes.
Unversehens standen wir an dem Eisengitter über dem westlichen Tunnelportal, beugten uns zu dritt über das Geländer und starrten in die Tiefe. Wenige Meter vor der Tunnelöffnung stand das Einfahrtsignal, seine Flügel geboten pflichtgemäß Halt.
Markus sammelte Spucke in seinem Mund und ließ sie langsam in die Tiefe tropfen. Unten klatschte sie leise auf und in der Mitte einer dunkelbraunen, gespaltenen Holzschwelle glitzerte ein schwarzer Fleck. Da uns beiden anderen auch nichts besseres einfiel, war die Schwelle bald mit schwarzen Punkten übersät.
Plötzlich wurde Markus Gesicht hell, aufgeregt blickte er uns an: „Wisst ihr was, wir gehen durch den Tunnel!“
„Durch den Tunnel?“ fragte Dirk unsicher.
„Klar doch. Wir klettern dort hinten die Böschung runter, laufen auf dem Gleis durch den Tunnel und steigen am anderen Ende zum Stadtpark hin wieder hoch. Ist doch gar kein Problem, Jungs.“
„Ich weiß nicht“, maulte Dirk und blinzelte ängstlich erst zu Markus und dann zu mir. Auch ich war nicht sonderlich begeistert von seinem Vorschlag, hütete mich jedoch, etwas dagegen zu sagen.
„Kann doch gar nichts passieren“, behauptete Markus und schaute uns an, als müsse er zwei Fünfjährigen eine mathematische Gleichung erklären, „das Signal steht auf Halt, unten sieht uns niemand und auf der anderen Seite wird uns vom Bahnhof aus auch niemand sehen können. Und wenn schon! Bis von dort jemand kommt, sind wir schon über alle Berge. Los, Dicker, das wird die Show. Wer nicht mitmacht, ist ein Feigling!“
Wenn man dreizehn Jahre alt ist, kann man sich für sein zukünftiges Leben alles mögliche vorstellen, aber eins ist ganz und gar ausgeschlossen: das irgendjemand einen als Feigling ansehen könnte. So schritten wir hinter Markus her, blickten uns flüchtig an, sahen die Unsicherheit im Gesicht des anderen, spürten die eigene Angst und wagten es doch nicht, dies auszusprechen.
Möglicherweise glaubten wir auch, Markus könnte sich im letzten Moment dazu entschließen, es doch nicht zu tun, uns anlächeln und sagen: „Ist schon gut, Jungs. Wollte nur mal sehen, ob ihr mutig genug gewesen wäret, das reicht mir schon. Lassen wir es gut sein, mir fällt noch etwas besseres ein.“
Aber das sagte er natürlich nicht, kletterte vielmehr über den niedrigen Holzzaun, hielt sich auf der anderen Seite an einem Ast fest und winkte uns, ihm zu folgen. Dirk und ich zögerten keinen Moment.
Wir ließen uns vorsichtig die steile Böschung hinab gleiten, einen Fuß quer zum Hang gestellt, ritzten mit den Absätzen lehmfarbene Wunden in das dünne Gras und mussten schließlich doch ins Grün greifen, weil wir das Gefälle unterschätzt hatten.
Auf dem Bahndamm wischte ich verstohlen die schmutzigen Hände an der Jeans ab und blickte nach links, wo sich die blassgrün geriffelte Eisenwand erhob, nur undeutlich war die Leitplanke der darüber liegenden Straße zu erkennen. Von dort war zwar das Vorbeirauschen der Autos zu hören, aber niemand zu sehen. Auf der anderen Seite schützten uns Bäume und dichtes Buschwerk vor den Blicken Erwachsener. Und auf einmal erschien es mir vollkommen logisch und zwingend, dass es nur diesen einen Weg für uns geben konnte: nach vorne, durch die so harmlos und klein wirkende Tunnelöffnung.
„Ging doch ganz einfach, was!“ stellte Markus fest, wartete unsere Antwort jedoch erst gar nicht ab, sondern ging bereits weiter. Wir bemühten uns, unsere Schritte auf den Abstand zwischen den Schwellen einzustellen, was aber nicht leicht fiel, da dieser kleiner war als unsere normale Schrittlänge. Besonders Dirk hatte damit seine Probleme. Immer wieder patschten seine Füße in den losen, graubraunen Schotter, kullerte ein Stein die Böschung herab und riss andere mit sich.
Wir näherten uns der Tunnelöffnung, die langsam zu einer großen, halbkreisförmigen Wunde im grauschwarzen Portalgestein anwuchs. Waren wir wirklich erst vor kurzem dort oben gewesen und hatten uns über das Geländer gebeugt und dem Gleis nachgeblickt, bis es am Horizont in der dunstigen Unendlichkeit verschwand? Nun fuhr uns ein eisiger Atem ins Gesicht, weit entfernt schien der winzige Ausschnitt einer überbelichtet wirkenden Welt am anderen Tunnelende.
Jetzt hätte es vielleicht noch ein zurück gegeben, doch Markus fuhr nur einmal mit der Hand durch sein strohblondes Haar, gab sich unbeeindruckt von der tiefen Finsternis, die dort drinnen lauerte, und ging hinein.
Schon nach wenigen Schritten war das Gleis vor meinen Füßen nicht mehr zu erkennen und mein Vordermann nur noch eine schemenhafte Schatten. Verwesungsgeruch umfing uns nasskalt von allen Seiten. Die Sonne kränzte das obere, zerklüftete Viertel der Tunnelröhre mit silbrigem Licht wie eine Schokoladentorte mit Zuckerguss.
Doch uns hier unten nutzte es wenig. Der unsichtbare Schotter gab knirschend bei jedem Schritt unter unseren Füßen nach, von Westen drang eine Ahnung vorbeifahrender Autos zu uns. Die Motorengeräusche waren wie eine letzte Nachricht aus einer anderen Welt, die man nicht unerlaubt verlassen darf. Und wir eingehüllt in Stein.
Obwohl wir zu dritt durch den Tunnel gingen, fühlte ich mich plötzlich schrecklich allein mit dieser dumpfen, sich zusammenballenden Angst in meiner Magengegend.
Beinahe hatten wir die Hälfte unseres Weges hinter uns, als einer der beiden fließenden Schatten vor mir stehen blieb, die schrille Stimme Dirks von den Wänden hallte:
„Da steht ja ein Zug im Bahnhof!“
Auch ich erstarrte und bemühte mich, in der Explosion aus blendendem Licht vor mir etwas zu erkennen. Tatsächlich konnte ich nach einiger Zeit in dem gerade noch einsehbaren Teil des Bahnhofes einen dunkelroten Triebwagen wahrnehmen.
Markus sagte: „Ach, der fährt bestimmt in die andere Richtung“, doch klang seine Stimme wenig überzeugend.
Im nächsten Moment schrie auch schon Dirk: „Nein, der will hier lang fahren, schau doch, das Signal steht schon oben!“
Es gibt Bilder, die einen wie ein lebenslanger Alptraum nie verlassen, und das Bild des Triebwagens, der vor mir langsam den Bahnhof verließ, gehört dazu. Von fern klang das schwache Brummen seines Dieselmotores wie das Schnurren einer sich anschleichenden Raubkatze und ich erstarrte.
Jemand brüllte: „Wir müssen hier raus, schnell!“
Lauf weg, schrie es in meinem Kopf, aber ich blieb wie angewurzelt stehen. Erst als ein dunkler Schatten auf mich zu kam, konnte ich mich endlich umdrehen und losrennen. Ich rannte, getrieben vom Echo unseres keuchenden Atems und dem Stampfen unserer Schritte. Schotter glitt polternd unter den Schuhen davon, gab nach wie sumpfiger Boden. Ich stolperte, drohte zu stürzen, fing mich wieder, lief verzweifelt weiter und wagte es nicht, mich umzublicken. Aber ich fühlte, wie der Zug hinter mir näher kam. Das Licht am Ende des Tunnels schien unendlich weit entfernt zu sein, da tasteten bereits die Scheinwerfer des Zuges nach uns und warfen unsere Körper als groteskes, Schattenspiel überlebensgroß an die gewölbte Steinwand. Der Tunnel füllte sich mit dem schneidenden Geräusch von Metall auf Metall und dem jetzt furchtbar lautem Dröhnen des Motors. Der Dieselgeruch schwappte ölig dick zu uns heran.
Da endlich zerriss die Dunkelheit vor meinen Augen. Grelles Tageslicht blendete mich. Ich taumelte ins Freie. „Weg vom Gleis“, schrie jemand. Ich warf mich nach rechts und presste mich an die Portalmauer. Den Oberkörper nach vorne gebeugt stützte ich mich auf den Knien ab, die pfeifenden Lungen rangen nach Atem. Da brach der Zug donnernd und fauchend aus der Öffnung hervor und stieß ein zorniges Hupen aus. Sein Luftzug zerrte an meiner Kleidung wie ein letzter Versuch, mich doch noch mitzureißen. Hinter den erleuchteten Fenstern kaum zu unterscheidende Gesichter, unbeteiligt und ohne mich zu bemerken. Rasch verschwand der Zug in der Ferne.
Endlich hatte ich genug Kraft, mich umzublicken, auch wenn das Zittern meiner Beine einfach nicht aufhören wollte. Ich sah Markus auf der anderen Gleisseite, er schien genauso erschöpft wie ich zu sein, doch in seinen Augen blitzte Begeisterung.
Immer noch nach Luft ringend rief ich ihm zu:
„Wo ist Dirk?“
Markus zuckte nur mit den Schultern.
Im nächsten Moment straffte sich sein Oberkörper und er sagte: „Wir schauen mal nach!“
In seiner Stimme war keine Spur von Besorgnis.
Zögernd folgte ich ihm erneut in den Tunnel. Nach wenigen Metern sahen wir einen schwarzen Umriss an der Tunnelwand, völlig erstarrt, als sei er mit den Steinen verschmolzen.
„Na Dicker“ rief Markus, „hast du dir in die Hose gemacht?“
Was danach geschah, konnte ich nicht genau erkennen. Mir war, als habe sich Dirk plötzlich aus seiner Erstarrung gelöst und seine Faust mit voller Wucht in Markus Magen gerammt. Jedenfalls klappte dessen Umriss für einen Moment wie ein Taschenmesser zusammen. Vielleicht war es dieser Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich nicht wirklich zu ihnen gehörte und auch nicht mehr zu ihnen gehören wollte. Bevor Markus noch daran denken konnte, zurückzuschlagen, schrie ich: „Ihr seid ja verrückt, ihr seid ja beide total verrückt geworden!“
Ich rannte aus dem Tunnel hinaus, ohne mich umzusehen, und kam erst wieder zur Besinnung, als ich mich bereits auf dem steil ansteigendem Asphaltweg befand und zwischen den Bäumen zur Tunnelöffnung blickte.
Dort entdeckte ich Markus, wie er verwundert zu mir hochblickte, auf der Grenzlinie zwischen Licht und Dunkelheit.