Der Trost
Es war kalt, viel zu kalt. Zumindest ohne wirkliches Zuhause und in der U-Bahn Passage des Hauptbahnhofes. Olaf lebte am Rande der Gesellschaft, ohne Aussicht auf Besserung. Es war Mitte November und die Sonne peilte bereits das Ende des Horizonts an. Die Wintermonate entsprachen der härtesten Zeit im Leben eines Obdachlosen.
Insbesondere die Plätze an den U-Bahnschächten, an welchen warme Lust aufstieg, waren beliebt. Leider zu beliebt, um sich dort einen Premiumschlafort sichern zu können. Die anderen Obdachlosen waren bedeutend dominanter und offensiver, im Bezug auf die Sicherung eines Schlafplatzes. Einige von ihnen waren sehr aggressiv und hatten keine Skrupel vor Gewalt. Montags vor einer Woche wurde erst wieder jemand, im Streit, verprügelt. Ein derartiges Risiko mochte Olaf keineswegs eingehen, da nahm er die Kälte eher in Kauf.
Es eilten relativ wenige Leute durch die Untergrundpassagen des Hauptbahnhofes. Die meisten Menschen dieser Gesellschaft würdigten Olaf keines Blickes. Bevor er auf der Straße landete, war er ein beruflich, ganz angesehener Mann gewesen. An der Scheidung zerbrach er und verlor sich im Alkohol. Die daraus entwickelte Sucht raubte ihn alles. Seine Freunde distanzierten sich, seine Familie nahm Abstand und sein Besitz nahm über die Zeit stark ab, bis er schlussendlich auf der Straße saß.
„Ich will aber nicht.“, plärrte ein Kind vor dem Einkaufsladen, circa 50 Meter von Olaf entfernt.
Die Mutter entgegnete sanft: „Wir müssen jetzt wirklich heim. Was hältst du davon, wenn wir morgen wieder hierherkommen?“
„Nein, ich will den Donut jetzt haben“, brüllte der Junge mit hochrotem Kopf.
Olaf hatte zwar auch Kinder, aber ein solches Verhalten duldete er nie. Drei Kinder gebar seine damalige Frau vor mittlerweile zwanzig Jahren. Es waren schöne Zeiten und Olaf ging in seiner Rolle als Vater auf, wie niemand sonst. Er war zwar etwas strenger, tat jedoch alles für seine Kinder und schenkte ihnen unheimlich viel Liebe. Mit trübem Blick betrachtete er das gesammelte Geld in seinem Hut. Noch zwanzig Cent. Ich brauche unbedingt noch zwanzig Cent. Ohne meinen abendlichen Schluck, mache ich kein Auge zu. Ein Mann, mittleren Alters, lief die Passage entlang. Nicht eilig und sehr gepflegt, den Blick zielgerichtet nach vorne und in Gedanken versunken. Wenn nicht der, dann keiner mehr, dachte Olaf und rappelte sich auf. „Hallo, hätten sie eventuell zwanzig Cent für mich übrig“, bettelte Olaf mit einer zurückhaltenden Körperhaltung, die einen gewissen Scham kommunizierte. Ohne eine einzige Reaktion folgte der Passant seinen Weg.
Du Arschloch, dachte sich Olaf still und frustriert. Bin ich weniger wert? Warum werde ich nicht einmal angesehen? Dann muss es eben ohne diese zwanzig Cent funktionieren.
Halbwegs nüchtern hob er seinen Hut auf, ließ das Geld in seine Tasche gleiten und schlenderte durch die Hallen des Hauptbahnhofes, auf der Suche nach einem geeigneten Laden. Am Ende des Osttunnels wurde er fündig. Ein kleines Geschäft, breit aufgestellt mit einem sehr jungen Mann an der Kasse. Der Mann dürfte nicht viel älter als sein Sohn sein.
Vielleicht lässt der ja mit sich reden. Olaf suchte sich sein Lieblingsgetränk aus und bewegte sich zur Kasse. Sonst war niemand mehr im Geschäft, eher ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Zumindest nicht um diese Uhrzeit.
„Zwei Euro macht das dann“, sagte der Kassierer nachdem er die kleine Flasche über den Laser gezogen hatte. Wortlos gab Olaf dem jungen Mann sein letztes Geld. Dieser blickte auf seine Hand, überiss den Betrag und wiederholte sich: „Zwei Euro. Da fehlen zwanzig Cent.“
Olaf wägte seine Möglichkeiten ab und entgegnete möglichst freundlich: „Herr Kulba, das ist mein kompletter Tageserlös. Können sie nicht ein Auge zudrücken.“ Den Namen des Mannes entnahm er dem Namensschild.
„Preis ist Preis, tut mir leid.“ Mit diesen Worten gab er Olaf sein Geld zurück und stellte die kleine Flasche hinter sich ab. Enttäuscht zog Olaf ab und hörte noch ein kaum hörbares „scheiß Penner“ hinter sich. Dass Olaf eine zweite Flasche mitgehen ließ, hat der junge Mann nicht bemerkt. Zufrieden suchte sich der Obdachlose eine Bank und widmete sich seinen scheinbar einzigen Trost.