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Der Tropf
Der Mann verfolgte mit den Augen die durchsichtige Flüssigkeit, die langsam aus der Flasche tropfte und dann in einem kleinen Plastikbehälter wieder zusammenfloss. Von hier aus lief sie durch den Schlauch über mehrere Windungen in seine Vene.
Er stellte sich vor, wie sich einzelne Tropfen in den Adern mit seinem Blut vermischten und - nun rot geworden - in einem endlosen Kreislauf durch seinen Körper pulsierten und ihn am Leben erhielten.
Ihm wurde immer leicht übel, wenn er das Plastikröhrchen sah, das aus seinem Arm ragte. Das Pflaster, das es hielt, war teilweise blutverschmiert von der ersten, etwas unvorsichtigen Blutabnahme.
Er hatte Glück gehabt, sagte die Ärztin im Krankenhaus. Wenn der Fluss bei seinem Sprung von der Brücke weniger Wasser geführt hätte, wären jetzt nicht nur seine Beine zertrümmert. Zu viel Wasser hätte die Rettungstat des Studenten aber unmöglich gemacht. Das Wasser hätte ihn mitgerissen und erst viel weiter flussabwärts - wie so viele vor ihm - an der seichten Kehre wieder losgelassen.
Leblos, denn das Wasser spülte zuverlässig jedes Leben aus den Körpern und nahm es mit in langsamen, trägen Windungen hin zum Meer.
Schließlich hatte er zustimmend genickt und sich bedankt. Danach hatte er rasch nach seinem Handy gegriffen - nur um zu sehen, dass er keine Nachricht erhalten hatte.
Als die Flasche leer war, drückte er auf den roten Knopf und die Schwester kam herein und entfernte den Schlauch von seinem Arm. Dabei drehte er jedes Mal den Kopf weg.
"Oh, entschuldigen Sie! Was für eine Sauerei!"
Er ließ den Blick abgewandt, spürte aber, wie es warm an seinem Arm herablief.
Der Mann beschwichtigte und bekräftigte dann nachdrücklich, dass dies überhaupt kein Problem sei.
Als die Schwester alles gesäubert hatte, lächelte er sie an, bedankte sich und schloss die Augen, um seinen Schwindel zu bekämpfen.
Er konnte verstehen, dass sie ihn verlassen hatte. Schließlich war er - trotz aller gegenteiliger Versprechungen - doch immer wieder gefolgt, wenn sein Arbeitgeber ihn um Überstunden gebeten hatte. Irgendwann hatte sich Lucia nicht mehr beklagt und er hatte versucht, nicht mehr darüber nachzudenken. Sie hatten einfach weitergelebt.
Immer öfter jedoch spürte er, wie ihn das Leben wie eine gewaltige Welle überrollte.
Als sie dann irgendwann die Koffer gepackt hatte, begleitete er sie zur Tür. In ihrem letzten Blick entdeckte er Verachtung, aber auch Mitleid. Er konnte sie verstehen. Daher lächelte er sie vorsichtig an und entschuldigte sich.
In der Nacht lag der Mann wach und horchte auf die Geräusche seines neuen Zimmernachbarn. Dessen Schnarchen war zunächst wie sein Auftreten: Zurückhaltend, fast feige, in einem irgendwie angenehmen Brummton. Erst nach einigen tastenden Minuten gewann sein Nachbar an Zuversicht und sein Mund öffnete sich weit. Damit erlangte auch der Ton die nötige Kraft und erfüllte das Zimmer in mutigen, auf- und abschwellenden Wellen.
Durch das Fenster sah er vereinzelt Sterne. Einer schien zu blinken, ihm zuzuwinken. Lange schaute er ihm zu.
Ein Druck am Venenzugang lenkte ihn ab. Mit dem Finger tastete er die Stelle unter der Haut ab, an der er den Schlauch fühlen konnte. Es schmerzte leicht, als er auf die Stelle drückte. Neugierig tastete er weiter und spürte das Ende des Schlauches unter der Haut. Der Pfleger hatte erzählt, dass ein Schlauch auch die Venenwand durchstoßen konnte. Dann würde das Blut dort ausströmen und auf der Haut einen blauen Fleck bilden.
Als er wieder zum Himmel sah, konnte er seinen Stern nicht mehr finden.
Später wurde der Schmerz an der Schwellung schärfer und er sah, dass sich der Arm schwarz färbte. Die Schwellung vergrößerte sich, blähte sich auf, bis der Schlauch endlich die Haut durchbrach und Blut in dicken Tropfen herausquoll. Der Mann sah, wie sich das Blut auf dem weißen Laken ausbreitete und schließlich in dicken, zähflüssigen Wellen seinen Brustkorb hinaufschwappte. Er versuchte, den Notfallknopf zu drücken, konnte ihn jedoch nicht erreichen.
Als die schwarze Flüssigkeit seinen Mund erreichte, erstarrte er. Zäh und langsam füllte sie seinen Mund.
Der Mann schreckte hoch und holte tief Luft.
Er befühlte seinen Zugang. Die Haut war geschwollen.
Eine eingegangene Nachricht ließ sein Smartphone blinken. Ungläubig starrte er einen Moment auf das Licht, stellte das Handy dann hastig an und las, dass der Finanzminister nichts von weiteren Steuererhöhungen gesagt haben wollte.
Er stellte das Gerät ab und es wurde dunkel. Er tastete vorsichtig nach seinem Zugang und befühlte das Pflaster, um es dann in einer hastigen Bewegung abzureißen. Dann zog er die Kanüle aus der Vene und blickte suchend aus dem Fenster in den schwarzen Nachthimmel, während es warm an seinem Arm hinablief.
Als der Mann wieder erwachte, sah er, dass eine durchsichtige Flüssigkeit durch den Schlauch in seine Vene floss. Seine Arme waren am Bett fixiert und die Vorhänge zugezogen, um die gleißende Sonne fernzuhalten.