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Der Trojaner in meiner Handschrift
Der Trojaner in meinen Schriftzeichen
Der Text war weg.
Der in meiner Jugend niemals abgeschickte Liebesbrief an Gerlinde lag altersschwach vor mir. Die in ungeduldiger Teenagerschrift verfassten, hitzigen Worte waren verschwunden, nur Herzchen und Smilies tummelten sich auf dem Papier.
„Was soll das denn?“, fuhr ich die Box vor mir an und stöberte weiter in meiner „Zeitkapsel“, wie Andy Warhol seine Erinnerungen genannt hatte. Unglücklicherweise hatte mein Besuch auf dem Dachboden jedoch keinen nostalgischen, sondern einen traurigen Hintergrund.
Lisa war ausgezogen und ich musste nun unser gemeinsames Haus räumen.
Niedergeschlagen kramte ich weiter, fand aber keine Erklärung für das Abhandenkommen meiner Liebesgeständnisse.
Ich kehrte irritiert ins Wohnzimmer zurück. Gerlinde war schon lange aus meinen Gedanken verschwunden, aber der verstümmelte Liebesbrief gab mir zu denken. Ich wusste nicht einmal mehr, wie meine damalige Liebe ausgesehen hatte. Ich zerrte alte Fotoalben aus dem Regal, möglicherweise fand ich dort eine Erklärung für dieses merkwürdige Vorkommnis. Stattdessen wurde es noch mysteriöser.
Alle Bilder meiner Vergangenheit mit den dazugehörigen Jahreszahlen waren vorhanden, aber die jeweiligen Bemerkungen dazu nicht.
1995 ( ) „zwei einsame Steppenwölfe auf Ibiza“ hätte da stehen müssen.
( ) 2000. Hier fehlte „Millennium auf Robbis Hütte“. Ich bekam eine Gänsehaut und blätterte hektisch durch die bebilderten Stationen meines Lebens. Es gab an keiner Stelle etwas zu lesen.
Meine Besorgnis wuchs. Was stimmte hier nicht? Vorsichtig ging ich zum Schreibtisch und blickte in meine Unterlagen. Jedes gedruckte Wort und jede Zahl war zu sehen. Aber auf keinem Dokument fand ich eine handschriftliche Notiz oder Unterschrift von mir. Handelte es sich um einen bösen Streich? War hier ein Verrückter mit Tintenkiller und Radiergummi am Werk? Ich verwarf den Gedanken wieder, als ich auch bei meinen Ausweisen und Bankkarten in der Unterschriftenzeile nur Leerheiten fand. Jetzt kam in mir starke Unruhe auf. Was spielte sich hier ab?
Meine Überlegungen wurden durch ein merkwürdiges Geräusch gestört. Ein zartes Sirren vor mir steigerte sich allmählich zu einem lauten Geraschel. Voll Unbehagen neigte ich mich in die Richtung und blickte fassungslos auf meinen Papierkorb.
Dort herrschte das Chaos. Schwarze, in sich bewegende Teilchen bildeten einen wirren Knäuel und quollen wie übergehender Teig über den Rand des Mülleimers.
Schwankend wich ich einen Schritt zurück. Termiten! Eine Invasion von Termiten! Oder Miniheuschrecken. Wiederholte sich die achte Plage?
Ich hastete in den Abstellraum und suchte nach Ungezieferspray. Da ich nie besonders mutig war, schauderte ich bei dem Gedanken, dieser Insektenübermacht mit einer mickrigen Spraydose gegenüberzustehen. Dementsprechend aktivierte mein Stammhirn den Fluchtmodus.
Doch ich war wie gelähmt und schaffte es nicht mehr davonzulaufen. Ein inzwischen zur Größe eines kleinen Pezziballs angeschwollenes Etwas kullerte auf mich zu. Dann stoben die Teilchen auseinander, verstreuten sich und voller Bestürzung erkannte ich, dass es sich nicht um Lebewesen handelte.
Es waren Buchstaben, meine Buchstaben. Irgendwann von mir geschrieben, verloren gegangen und nun wieder aufgetaucht. In gigantischer Anzahl hüpften und purzelten alle sechsundzwanzig wild durcheinander. Ich konnte in dieser Unordnung sogar Umlaute erkennen. Sie hopsten eilig auf mich zu und begannen, auf mir herumzukriechen.
Ein Schwung Ds tanzte auf meinem linken Knie Cha-Cha-Cha, während sich einige Ns offensichtlich zum Bockspringen in im Nacken versammelt hatten. Bs sprinteten um meine Hüfte und vorwitzigen Ös krabbelten in meine Gesichtsöffnungen.
Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, dass ich dem ganzen Alphabet als Spielplatz diente.
Wegen der vielen Ös in meiner Nase musste ich niesen. Die auf dem Boden verbliebenen Buchstaben formierten sich zu einem „hatSchi“ und danach zu „gesundheit“
Ich schüttelte mit groben Bewegungen den Großteil der Buchstaben ab und blickte wütend und verwirrt auf das Durcheinander vor mir.
„aUa“ war zu lesen und „sei niCHt so grimmig“
„Was soll das denn?“, plärrte ich die verrückten Lettern an. „Was wollt ihr hier?“
„GeheimniS geheimnis“
„Hä? Was für ein Geheimnis?“ ich wurde ungeduldig.
„Erklaeren wir dir spÄter ersT woLLen wir Spass haben“
Wie auf Kommando verteilten sich alle in meinem Wohnzimmer. Ws benutzen die Gießkanne als Schwimmbad und sprangen vom Henkel immer wieder ins Wasser. „platsch Platsch“ schrieben die anderen Buchstaben. Gs und Ms balancierten fröhlich auf meiner Gardinenstange, während unter ihnen Hs ein aus einem Taschentuch ein Sicherheitsnetz gebastelt hatten. Andere Lettern waren um sie versammelt und feuerten die Akrobaten mit „du schaffsT es“ und „ganz tOll“ an.
Eine Horde von Ls war zu meiner Hängelampe hochgestiegen und schaukelte wild hin und her. Die zuschauenden Buchstaben gruppierten sich zu einem „uiUi“.
Das war mir nun doch zu viel. Ich stolperte konfus aus dem Haus und klingelte bei Robbi in der angrenzenden Doppelhaushälfte Sturm. Als er die Tür öffnete, kickte ich gerade ein verschlafenes Z von meiner Schulter.
„Ich bin voll durchgedreht! Total ballaballa!“ Ich raufte mir verzweifelt die Haare. „Diese Mistbuchstaben! Die sind aus meinen Briefen abgehauen. Und nun machen sie in meinem Wohnzimmer Party."
"Wir essen gerade Nudelauflauf."
"Bitte komm rüber und schau dir das an.“
„Ich kapier gar nichts. Was soll ich bei dir drüben ansehen?“
„Na die verrückten Buchstaben! Das habe ich doch gerade gesagt! Sie krabbeln wie Ameisen überall herum und machen mich fertig.“
„Eh Stefan, jetzt bleib mal locker!“
Ich versuchte meine Erlebnisse weniger verworren zu schildern, doch Robbi sah mich nur verständnislos an.
„Bist du besoffen oder was?“ Er verzog das Gesicht. „Ich bin für solche Geschichten der Falsche. Besser du redest mal mit Anne!“
„Sie ist Kinderkrankenschwester! Wie kann sie mir denn helfen?“
„Ich habe zwei Semester Psychologie studiert.“ Anne hatte mitgehört und kam aus dem Esszimmer. Sie sah mich mitfühlend an. „Ach mein armer Stefan. Ich glaube, du hast es noch nicht verkraftet, dass Lisa dich verlassen hat. Und nun fehlen dir dafür regelrecht die Worte im übertragenen Sinn.“
„Bitte Robbi, komm einfach mit. Wenn die Dinger nicht zu sehen sind, dann spinne ich wirklich und gehe freiwillig zum Psychiater!“
Ich schleppte meinen besten Freund nach nebenan in mein Haus.
„Heilige Scheiße!“ entfuhr es Robert, als er das bunte Treiben meiner Schriftzeichen im Wohnzimmer sah. Beim Anblick seines fassungslosen Gesichts verspürte ich eine gewisse Genugtuung. „Hab ich es dir nicht gesagt?“
„Heilige Scheiße!“, bemerkte er wieder, während sich mehrere schaukelnde Ls von der Lampe in seine Haare fallen ließen und dort wild herum sprangen.
Dann wuselten verschiedenen Buchstaben eilig vor uns her und gruppierten sich zu einem „hallO Robert“. Dieser kratzte sich am Kopf und die Ls in seinen Haaren rutschten von ihm unbemerkt über die Arme unter seine rechte Achsel.
„Also Stefan, ich weiß nicht, was hier abgeht! Jedenfalls seh die Dinger auch. Offenbar sind wir beide plemplem.“
„Ich hab einfach keine Ahnung, was die mir sagen wollen! Was mache ich denn jetzt?“
„fragezeichen fragezeicheN fragezeiCHEN“ war zu lesen.
Ich wurde laut. „Was sollen denn die Fragezeichen? Erzählt mir lieber, was hier gespielt wird!“ Von allen Seiten huschten die Buchstaben wie verschreckt zusammen und bildeten wieder den Knäuel.
„Jetzt hast du ihnen Angst gemacht.“ Robbis Stimme klang vorwurfsvoll.
„Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“, schnauzte ich ihn an. „Wir sind hier nicht in der Sesamstraße! Ich habe diese Buchstaben irgendwann mal geschrieben und sie sind aus allen Briefen und Ausweisen oder sonst wo abgehauen! Und vergnügen sich nun in meinem Wohnzimmer! Das ist doch nicht normal.“
Die Schriftzeichen drängten sich enger aneinander und ihr Volumen schrumpfte zusehends.
„Aber deshalb musst du sie doch nicht anbrüllen. Guck mal, die zittern richtig!“ Tatsächlich war in dem Bündel ein gewisses Schlottern zu sehen. Robbi ging vorsichtig einige Schritte auf sie zu. „Wir wollen euch nichts Böses. Aber mein Freund Stefan und ich verstehen nicht, was ihr hier wollt.“
„Außer Spaß zu haben und mir ein dubioses Geheimnis zu offenbaren!“ ergänzte ich zynisch.
Es herrschte buchstäblich Stille, keine Bewegung war in dem Knäuel wahrzunehmen.
Nach einer Weile schlich sich langsam ein W nach vorne. Ihm folgten zögernd andere Schriftzeichen und stellten sich zu einem „wir wolleN dir Helfen“ auf.
„Heilige Scheiße“ entrann es Robbi zum dritten Mal.
Ich starrte den Satz böse an. „Wie helfen? Ist das euer Geheimnis oder was?“
„lisa verMisst dich auch schReib den Brief an sie fertiG“. Mir stockte vor Erstaunen der Atem. Jetzt begriff ich den Zusammenhang. Ich hatte Dutzende Liebesbriefe an meine Frau geschrieben und sie waren alle im Papierkorb gelandet.
Robbi plärrte begeistert „Also das ist echt abgefahren, meine Anne hat recht! Dein Unterbewusstsein oder so was will, dass du dich bei Lisa meldest!
„Was für ein Blödsinn!“ maulte ich Robbi an. „Ich brauche keinen Setzkasten, der mir psychologische Ratschläge gibt! Und dann wissen die auch noch, wie es Lisa geht. Anscheinend können die nicht nur rumhüpfen, sondern auch hellsehen!“
Ich war sehr aufgebracht, stürzte mich wütend in den Buchstabenknäuel und befand mich plötzlich im Kern des Alphabets. Zart schwirrten sie um mich herum, formten Worte und Sätze, um dann sofort wieder in einen Buchstabensalat zusammenzufallen. Es umgab mich ein angenehmes Surren und Wispern. Verzweifelt versuchte ich ihre Botschaften festzuhalten, zu manifestieren. Alle waren da und ich fühlte mich wohlwollend in ihrem Kreis aufgenommen. Auf einmal zogen sie sich zurück und hinterließen in mir den brennenden Wunsch, den Brief an Lisa endlich fertig zu schreiben.
Robbi konnte damit nichts anfangen. „Wieso denn einen Brief? Heutzutage! Im Zeitalter von E-Mails, SMS und Facebook?“
Er schüttelte den Kopf. „Mann Alter, das pack ich nicht. Mach was du willst, ich geh jetzt wieder rüber zum Abendessen.“
Ich ging verunsichert an meinen Schreibtisch. Blatt und Kugelschreiber lagen einsatzbereit vor mir. Ich setzte zögernd den Stift an, die Entschuldigungen und Liebesschwüre formten sich diesmal wie von allein. Als ich fertig war, spürte ich Erleichterung. Endlich hatte ich Lisa all das gesagt, was mir auf der Seele brannte.
Beim Öffnen der Schublade auf der Suche nach einem Kuvert, belächelte ich die turnenden Ks am Griff und als Js um die Stifte Box Ringelreihen tanzten, konnte ich mir ein lautes Gekicher nicht verkneifen. Was für ein verrückter Haufen! Während Bs auf dem Drucker Yoga machten, pappte ich eine Marke auf den Briefumschlag und achtete darauf, das herumkrabbelnde H nicht mit festzukleben. Ich glaube, es war mir deswegen sehr dankbar.
Nachdem ich meine Liebesnachricht in den Briefkasten geworfen hatte, war ich fast geneigt, bei Robbi vorbeizuschauen. Dann jedoch entschied ich mich dagegen.
Wahrscheinlich aßen sie immer noch Nudelauflauf.