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Der Trick
Das kleine Mädchen ahnte nicht, daß es in Lebensgefahr war, weil es den bösen Mann hinter sich noch nicht gesehen hatte. Es kraulte gerade die Ohren seines jungen Hundes, der so weiches Fell und so treue Augen hatte und den es über alles liebte.
Der große unbekannte Mann war von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet, hatte einen schwarzen Umhang, schwarzes Haar, einen schwarzen Schnurrbart und machte ein so böses, grimmiges und miesgelauntes Gesicht, daß es zum Fürchten war.
Mia, so hieß das Mädchen, erstarte vor Schreck, als sie ihn sah und dachte in ihrer kindlichen Art, es sei der Teufel persönlich. Doch noch bevor sie sich von ihrem Schreck erholte, gab es plötzlich einen furchtbar lauten Knall, als ob der Mann mit der Pistole geschossen hätte!
Ihr Hund stieß einen so erbärmlich klingenden, heulenden und jaulenden, schmerzverzerrten Schrei aus, daß es Mia eiskalt den Rücken hinunter lief. Und dann war er weg.
Mia zitterte vor Angst. Wo war ihr geliebter Hund? War er jetzt tot? Ein schrecklicher Gedanke! Was war passiert? Und was wollte der böse Mann? Vor dem hatte sie noch mehr Angst.
Der Mann kicherte. Dann lachte er. Sein Lachen wurde immer lauter und war so gehässig und gemein, wie sie noch nie einen Menschen lachen gehört hatte.
Sie war vor Angst wie erstarrt.
„Ich bin ein Zauberer!“ schrie der Mann. „Ich habe den Hund weggezaubert.“
Mia lief weg. Sie rannte eilig zu ihrem Fahrrad, und wollte gerade davonfahren, da gab es wieder einen entsetzlich lauten Knall. Der Zauberer hatte einfach ihr Fahrrad weggezaubert.
Vor lauter Angst und Schrecken schrie Mia so entsetzlich, daß die Leute in der Umgebung es hörten.
War es nicht gemein genug, ihr neues Fahrrad wegzuzaubern? Doch der Zauberer lachte schon wieder, diesmal noch lauter und noch dreckiger und gehässiger, als zuvor.
Erst war ihr Hund weg, dann ihr Fahrrad. Also konnte er wirklich zaubern. Er war ein echter Zauberer. Und offenbar ein sehr böser noch dazu.
Mia rannte schreiend und weinend weg, doch der Zauberer kam hinterher, packte sie und hielt sie fest. Da schrie Mia noch lauter, vor Angst, vor Schmerz und vor Wut. Sie schrie so laut, daß ihr Vater angerannt kam.
Ihr Vater war sehr groß und sehr stark und kräftig. Als er sah, wie der unbekannte schwarze Mann seine kleine Tochter festhielt, und wie diese so herzzerreißend schrie, entbrannte ein solcher Zorn in ihm, daß er einen hochroten Kopf bekam, die erstbeste Latte von einem Zaun abriß und wutschnaubend auf den schwarzen Mann los rannte. Wenn der kein Zauberer gewesen wäre, hätte er ihn wahrscheinlich in seiner ganzen Wut zu Tode geprügelt.
Aber es gab wieder einen lauten Knall und plötzlich war die Zaunlatte verschwunden. Mias Vater blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. Wie war das möglich?
Der Zauberer lachte höhnisch und schrie: „Ich bin ein Zauberer! Ich habe die Zaunlatte weggezaubert!“
Mias Vater konnte es immer noch nicht glauben und hob einen dicken Stein auf, um den auf den Zauberer zu werfen. Doch den Stein zauberte er auch weg.
Jetzt blieb Mias Vater völlig verwundert stehen.
Inzwischen waren noch andere Kinder und Erwachsene gekommen.
Eine alte Frau rief: „Ich hole die Polizei!“
Doch der Zauberer lachte nur und schrie: „Dann zaubere ich die auch noch weg!“
Alle waren wütend, nur ein alter Professor mit weißem Haar und einer Halbglatze stand ganz ruhig da und dachte nach. Er war ein Mann, der nie wütend wurde, weil er wußte, daß Menschen oft etwas tun, ohne darüber nachzudenken, wenn sie wütend sind. Und genau das mußte er ausnutzen, wenn sein Trick funktionieren sollte, der ihm jetzt einfiel.
Er sagte zu dem Zauberer: „Aber es gibt etwas, das Sie nicht wegzaubern können.“
Genau wie erwartet, wurde der Zauberer wütend. Er schrie: „Quatsch! Ich kann alles wegzaubern!“
Der alte Professor antwortete gelassen: „Aber es gibt etwas, daß Sie nicht wegzaubern können.“
„Was denn?“, fragte der Zauberer und wurde noch wütender.
„Das verrate ich nicht.“, sagte der alte Professor, „Aber ich mache eine Wette mit Ihnen: Ich wette, daß es etwas gibt, daß Sie nicht wegzaubern können, wenn Sie es doch können, dann dürfen sie das kleine Mädchen behalten und mitnehmen und mit ihr machen, was Sie wollen.“
„Spinnst du?“, schrie Mias Vater den alten Professor an, „Vielleicht gewinnt er die Wette und wir sehen Mia nie wieder!“
Mia versuchte immer noch verzweifelnd aber vergeblich, sich aus der kräftigen Hand des Zauberers zu befreien.
Der alte Professor antwortete ganz ruhig und gelassen: „Er kann die Wette nicht gewinnen, denn es gibt etwas, das KANN er nicht wegzaubern! Es ist völlig unmöglich!“
Der Zauberer wurde noch wütender und schrie: „Kann ich doch! Und ich gewinne die Wette! Denn ich kann alles wegzaubern!“
Der Professor blieb ganz cool und sagte: „Ich werde euch allen ins Ohr flüstern, was es ist, das er nicht wegzaubern kann, nur dem Zauberer werde ich es nicht sagen.“
Alle waren sehr neugierig, besonders der Zauberer. Dann ging der alte Professor herum und flüsterte allen Leuten und allen Kindern ins Ohr, was es war, das der Zauberer nicht wegzaubern könne.
Und einer nach dem anderen fing an zu lachen.
Manche sagten zu dem Zauberer: „Du hast die Wette verloren. Die kannst du nämlich gar nicht gewinnen!“
Andere riefen laut lachend: „Das schafft er nie!“, und wieder andere: „Unmöglich!“.
Alle lachten ihn aus.
Viele verspotteten ihn mit den Worten: „Alter Versager!“
Die Kinder hatten viel Spaß dabei und lachten immer lauter.
Und der Zauberer wurde immer wütender und wütender. Weil sie ihn alle auslachten. Und weil er so neugierig war, was es sei, das der nicht wegzaubern könne.
Der Professor sagte es aber nur den anderen und ihm nicht.
Er wurde so wütend, daß er rot wie eine Tomate wurde, die Hand zur Faust ballte, und schnaubte und knurrte.
Schließlich schrie er mit lauter, wutschnaubender, krächzender Stimme, die sich vor Zorn und Ärger fast überschlug: „Ich habt die Wette doch noch gar nicht gewonnen! Ihr habt mir doch noch gar nicht gesagt, was es ist, das ich nicht wegzaubern kann! Und ich sage euch, ich kann es DOCH! Ich kann ALLES wegzaubern! Ich werde es euch beweisen!“ Er schrie so laut und war inzwischen so sauer, daß er schon Schaum vor dem Mund hatte.
Endlich sagte der Professor ihm, was er meinte: „Ich sage Ihnen, was es ist, was Sie nicht wegzaubern können: Sich selbst!“
„Und ob ich das kann!“, schrie der Zauberer blind vor Wut, und merkte nicht, daß er auf einen Trick hereingefallen war.
Es gab einen irrsinnig lauten, donnernden Knall, und einen grellen Blitz. Eine schwarze Rauchwolke stieg auf und der Zauberer war verschwunden.
Das einzige, was von ihm übrig blieb, war ein kleines Häufchen schwarzer Asche.
Mia war wieder frei und lief zu ihrem Vater.
Alle freuten sich. Alle jubelten. Die Kinder hüpften vor Freude und riefen: „Er ist weg!“
Endlich war er verschwunden. Jetzt war er nur noch Asche. Mias Vater fegte sie zusammen.
Am nächsten Tag sagte der Bürgermeister, die Asche solle in eine Urne gefüllt und auf dem städtischen Friedhof beerdigt werden.
Zu spät. Mias Vater hatte sie schon ins Klo geschüttet.