Der Treppengott
Jedes kretische Haus weist eine mehr oder minder funktionstüchtige Treppe auf. Selbst die äußeren Treppen, die am Haus oder um das Haus herumführen, halten enormes Gewicht aus und bröckeln nur leicht, wenn man etwas schneller geht oder die Stufen hinaufspringt. Im Inneren finden sich meist Wendeltreppen, die von der untersten Etage bis in das Dachgeschoss führen, aber von Stockwerk zu Stockwerk so schmal werden, dass man gezwungen ist, seitlich hinaufzusteigen. Es gibt auch Treppen, die aus feinstem Holz gearbeitet sind und in abenteuerlichen Windungen und Knicken durch die gesamte Wohnung führen, bevor sie die erste Steigung nach oben machen. Giorgis‘ Treppe ins Schlafzimmer mündet knapp unter der Deckenbeleuchtung in eine Art Hängebrücke, aus der mehrere Planken herausgebrochen sind.
”Ihr müsst wissen, Kinder...“ erklärte er, als wir die einzigartige Konstruktion begutachteten, „...dass ich keine Frau mehr habe, die mir die Nacht zum Abenteuer macht. Dafür gibt’s nun meine Brücke, die insgesamt 15 Meter misst und geradewegs ins Bett führt. Es ist jedesmal spannend. Komme ich unbeschadet rüber oder breche ich mir die Knochen? Ich weiß das nie. Manchmal schalte ich vorher das Licht aus und klettere über das morsche Holz. Dann macht es plötzlich ”Knack” und mein rechtes Bein sackt ein. Mit dem linken klammere ich mich an der Seilführung fest, die ich vorsorglich an mehreren Stellen angesägt habe, um die Sache aufregender zu gestalten, und meinen Zahn grabe ich in die erstbeste Planke, die ich zu fassen kriege. Wenn das Ganze dann wie wild zu wackeln beginnt, könnte ich vor Freude platzen.”
”Aber das ist doch gefährlich!” rief ich und machte mir ernstliche Sorgen um Giorgis‘ Wohlergehen.
”Bah! Im Vergleich zu 30 abenteuerlichen Ehejahren ist diese Brücke ein harmloser Zeitvertreib, wenn du verstehst, was ich meine!” antwortete Giorgi und grinste sein Ein-Zahn-Lächeln.
Wo auch immer wir hinkamen, um die absonderlichsten Treppen zu bestaunen, fragten wir nach ihrem Erbauer.
”Ist doch klar, wer das war: Der Mastoras (Meister) aus Ano Viannos“, erhielten wir zur Antwort.
”Der muss gut sein!” sagte mein Mann.
Unser Häuschen liegt zehn Minuten von Ano Viannos entfernt. Die Außentreppe haben wir verbreitert und verstärkt, weil die Schmerzensschreie der Stürzenden die Nachmittagsruhe der Schlafenden empfindlich gestört haben muss. Unser Haus wurde von innen nach außen und von unten nach oben gestülpt, um es unseren Wünschen anzupassen. Es ist noch nicht bezugsfertig.
Nach etlichen Jahren der Sanierung fiel uns ein enormes Defizit auf: Die Innentreppe fehlte. Noch heute kann ich nicht fassen, dass mir das nicht früher auffiel. Es war einfach nicht möglich, vom Wohn- ins Schlafzimmer zu gelangen, ohne über die Außentreppe zu steigen, die Terrasse zu überqueren und die Außentür des oberen Stockwerkes zu öffnen.
Wir brauchten dringend eine geschmackvolle, unseren individuellen Bedürfnissen angepasste, Innentreppe. Und wer war bestens geeignet, uns diesen besonderen Wunsch zu erfüllen? Der Meister aus Ano Viannos! Endlich hatten wir einen Grund, diesen außerordentlichen Menschen aufzusuchen, von dem alle sagten, er arbeite mit Leidenschaft und kenne das Wort „unmöglich“ nicht.
Bereits am nächsten Tag setzten wir uns ins Auto und fuhren nach Ano Viannos. Wir fragten uns zur Schreinerei durch und standen schließlich vor der weit geöffneten Eingangstür, die uns einen Blick in das Innere gestattete, aus dem der anheimelnde Geruch von neuem, alten und behandeltem Holz strömte. Der Meister höchstpersönlich stand über und über mit Holzspänen bedeckt an einer Werkbank und strich prüfend über eine Latte.
”Dort ist er also!” flüsterte mein Mann ehrfürchtig und glotzte neugierig wie eine Eule in die Schreinerei.
„Er sieht aus wie ein Christstollen“, raunte ich.
„Nein! Das sind nur die Sägespäne. Sieh nur! Er geht völlig in seiner Arbeit auf.“
”Nun mach keinen Messias aus ihm!” antwortete ich unwirsch, wobei mir augenblicklich die tiefere Bedeutung meiner Worte bewußt wurde:
”Oh, Gott, der war ja auch Zimmermann!”
Wir traten ein. Der Meister sah von seiner Werkbank auf und reichte meinem Mann die Hand, oder das, was von seiner Hand übriggeblieben war. Mir verwehrte er Daumen und Ringfinger. Stattdessen nickte er mir knapp zu. Er trug eine feine silberne Brille und einen Bleistift hinter’m Ohr. Im hinteren Halbdunkel der Schreinerei arbeiteten zwei Lehrlinge, deren Gliedmaßen noch komplett waren.
”Was kann ich für Sie tun?” fragte der Meister und trat ein paar Schritte ins Licht.
Ein langes Kiefernbrett ließ ihn straucheln. Er hob es vorsichtig vom Boden auf und suchte vergebens nach einem Abstellplatz. Wortlos drückte er es mir in die Hände.
”Treppe innen wollen. Diese wollen“, sagte mein Mann, dessen Griechischkenntnisse sich auf ein Minimum belaufen. Er kramte einen kleinen Zeitungsausschnitt aus seiner Hosentasche hervor.
”Hier!” fuhr er fort und wies auf die abgebildete Zeichnung. ”Das sein Wunsch. Glaube, einfach sein. Nix Problem?”
”Hm, so soll sie also aussehen?” fragte der Meister und drehte und wendete das Papier in seinen Händen.
Es gab nicht viel zu drehen, denn auch auf dem Kopf stehend veränderte sie ihr Aussehen nicht gravierend. Es sollte eine schlichte und wegen der niedrigen Zimmerhöhe etwas steile Treppe mit Podest werden.
”Ja!” antwortete ich. ”Genau so!”
Der Meister ignorierte mich und wandte sich an meinen Mann:
”Kein Problem, was für ein Holz soll es denn sein?”
”Wir wollen ein schönes stabiles Holz. Auf keinen Fall Kiefer! Können Sie uns etwas zeigen?” fragte ich. Meine Worte prallten ab.
”Schöne Holz, stabilo, nix Kiefer, du haben Ikona?“ wiederholte mein Mann, woraufhin der Meister beflissen in der hintersten Ecke der Schreinerei verschwand und bereits nach einer halben Stunde mit einem kleinen Katalog zurückkehrte.
Er machte meinen Mann bedeutsam mal auf dieses, mal auf jenes Modell aufmerksam. Jeder meiner Versuche, ein Auge auf das Heftchen zu werfen, scheiterte, weil der Meister es mit schnellen, ruckartigen Bewegungen immer wieder meinen Blicken entzog.
”Das ist ja albern!” rief ich zu meinem Mann hinüber, den der Treppengott in eine andere Ecke der Schreinerei zog, um nicht länger von mir belästigt zu werden.
Ich wurde ungeduldig.
”Der ist absolut frauenfeindlich, dabei habe ich ihm überhaupt nichts getan. Er kennt mich doch gar nicht! Wer will hier was von wem? Kaufe ich oder er?” schimpfte ich.
Wütend ließ ich das Kiefernbrett fallen und bewegte mich durch einen Haufen Sägespäne auf meinen Mann zu, der bereits Holzart und Preis aushandelte. Aufmerksam folgte der Mastoras seinen Ausschweifungen, die sich in etwa so anhörten:
”Du machen Treppe, ich sehen, dann du zahlen – finito!”
Der Meister kratzte sich verständnislos am Hinterkopf. Trotzig wiederholte ich für ihn das Ganze noch einmal langsam in perfektem Griechisch und erhielt zur Antwort nur das abfällige Zungenschnalzen, das alle Kreter beherrschen. Es bedeutet ”Nein” oder ”du kannst mich mal” und wird immer von einem arroganten Kopfnicken begleitet.
”Ich bins leid! Was soll das hier sein? Die Kaaba zu Mekka? Ich gehe!” rief ich und verschwand nach draußen.
Nach zwei Stunden hatte ich mich soweit abgeregt, dass ich ohne Hysterie sprechen konnte.
”Die Treppe wird in drei Monaten fertig und eingebaut sein!” teilte mein Mann mir mit. Von da ab wurde der Mastoras totgeschwiegen.
Bald ging das Gerücht um, der Schreiner habe bei der komplizierten Treppenkonstruktion für Deutsche einen weiteren Finger verloren. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.
Eines Tages war es soweit: ”Der Mastoras kommt heute mit der Treppe zum Haus. Wenn wir wollen, können wir sie uns vorher in der Werkstatt ansehen”, sagte mein Mann und schubste mich ins Auto, ohne eine Antwort abzuwarten.
”Gut, wenn du neugierig bist, sollst du sie sehen, aber ich bleibe draußen!” sagte ich auf der Fahrt nach Ano Viannos.
Von der Straße aus hatte ich einen recht guten Blick auf unsere nagelneue Treppe, die an einer Mauer im Innern der Schreinerei lehnte. Davon abgesehen, dass sie aus Kiefernholz gearbeitet war, fiel mir auf, dass noch etwas nicht stimmte: Sie hatte viel zu viele Stufen und das Podest fehlte.
”Halt! Nicht bezahlen!” schrie ich in die halbdunkle Werkstatt. ”Etwas ist falsch an der Treppe! Außerdem fehlt das Podest!”
Der Meister kam und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Später trat mein Mann freudestrahlend und um 4000,- DM ärmer auf die Straße.
”Ist die Treppe nicht wunderschön?” rief er und schubste mich ins Auto.
”Das Podest fehlt und sie hat mindestens 30 Stufen zuviel”, antwortete ich zornig.
”Ach, was, du übertreibst. Lieber zuviel als zu wenig und das Podest baut er bestimmt nachträglich an. Heute nachmittag kommt er zum Haus. Dann kann ich das Thema anschneiden, wenn du magst, obwohl ich der Meinung bin, dass sie auch ohne Podest wirkt”, sagte mein Mann und warf mir einen nervösen Seitenblick zu. Später auf der Rückfahrt bemerkte ich, dass sein rechtes Augenlid flackerte und zuckte. Mit schweißnassen Händen klammerte er sich an das Lenkrad. Ich konnte es nicht glauben: Mein Mann fürchtete den Mastoras.
Am Nachmittag stand ich auf der Straße vor unserem Haus. Versonnen betrachtete ich die Bouganville, die sich üppig und blühend um unsere Fenster und Türen wand, streichelte den Wein, der planmäßig auf der linken Häuserwand Richtung Terrasse wuchs. Die Äste des Orangenbäumchens streckten sich neugierig ins Schlafzimmerfenster. Bald brauche ich nur noch vom Bett aus zur Seite greifen, um mir Orangen vom Strauch zu pflücken, dachte ich froh.
Eine Matschfontäne, die sich über mein Gesicht und mein Dekolletée ergoss, riss mich aus den Träumereien. Der Meister war gekommen und hatte seinen Lieferwagen mit 60 Sachen durch die einzige Pfütze gejagt, die im Umkreis von fünf Kilometern existierte. Er grinste zufrieden hinter dem Steuer und nickte mir knapp zu. Zusammen mit seinen Lehrlingen hob er die Treppe aus dem Wagen und schleppte sie ins Haus. Ein Blick auf die leere Ladefront des Lieferwagens bestätigte meine Vermutung, dass es nie ein Podest geben würde. Nach zwei Stunden war der Einbau getätigt und der Meister verschwunden.
”Na, wie findest du sie?” fragte mein Mann, tätschelte die Stufen und bewunderte die Holzarbeit.
”Sie stimmt hinten und vorne nicht!” antwortete ich. „Es ist eine Hühnerleiter, eine Stiege, schau doch richtig hin! Sie hat viel zu viele Stufen!”
„Geh‘ mal hinauf! Du wirst sehen, sie ist perfekt.“
Ich kam glücklich hinauf. Der Abstieg dauerte eine Viertelstunde.
„Von wegen perfekt! Die Stufen bieten nicht mal Platz für die Ferse! Da kommt kein Schwein runter!“ rief ich entsetzt aus.
”Dann geh auf Zehenspitzen!” antwortete mein Mann. Er gestand sich die Niederlage nicht ein, sprang selbst die Stufen hinauf und rutschte sie ängstlich auf dem Hintern hinunter.
”Siehst du, es geht doch!” begeisterte er sich, als es ihm beim fünften Versuch nach einer knappen halben Stunde gelungen war, rückwärts und auf Zehenspitzen hinabzuklettern.
”Ja, klar geht’s, wenn du dir Klebstoff auf die Hände schmierst, damit du wenigstens an der Wand Halt findest.“ Ich seufzte. „Gib’s doch zu! Die Treppe ist eine Katastrophe. Soll ich mich von oben runterfallen lassen? Ich bin weder Tausendfüßler noch Spitzentänzerin. Selbst Wildziegen, die überall hinkommen, hätten hier ihre Schwierigkeiten.“
”Wir könnten ein Geländer anbringen”, schlug mein Mann vor.
”Wir haben sie bereits mit Geländer in Auftrag gegeben, wenn ich dich daran erinnern darf”, erwiderte ich giftig.
”Wir müssen mit dem Meister reden. Er hat das Podest vergessen, das Geländer ignoriert und ist bei den Stufen zur Höchstform aufgelaufen. So geht es nicht. Schließlich haben wir bezahlt.”
Erst nach einer Woche und nur unter Androhung der Scheidung gelang es mir, meinen Mann nach Ano Viannos zu zwingen. Die Schreinerei war verschlossen.
”Na bitte! Er riecht den Braten, aber ich werde hier vor seinem Holztempel warten”, sagte ich und setzte mich entschlossen auf die Türschwelle.
Die Sonne kroch über die Häuserfront der gegenüberliegenden Straßenseite und brannte mir gnadenlos auf den Kopf. Mein Mann war seit einer Stunde überfällig. Mit dem Vorhaben, mal eben schnell Zigaretten zu besorgen, war er in eine der oberen kleinen Gassen entwichen, in der sich zwar kein Kiosk, aber Leftheris‘ Andenkenladen befand, in dem er gerne hockte und Kaffee trank.
Der Meister kam nicht. Irgendwann schlief ich ein. Als ich aufwachte, war es später Nachmittag. Um mich herum lagen Geldscheine. Auch einige Münzen entdeckte ich, die wegen der Hitze teilweise mit dem Boden verschmolzen waren. Man hatte mich für eine Bettlerin gehalten! Der beißende Uringestank auf meiner Hose kündete vom neu erworbenen Platz auf der Markierungsliste irgendeines pinkelwütigen Straßenköters. ”Das wird er mir büßen, dieser Holzwüstling!” dachte ich, stand auf und sammelte das Geld ein.
”Was machst du denn hier? Es ist doch viel zu heiß”, sagte jemand hinter mir. Es war Leftheris‘ Frau.
Sie musterte mich von oben bis unten und rümpfte die Nase, als sie den hellen Fleck auf meiner Hose entdeckte. Ich erklärte ihr den Grund meiner Belagerung vor der Schreinerei und fragte sie, ob sie meinen Mann gesehen habe.
”Oh, ja, der ist zusammen mit Leftheris im Geschäft. Sie trinken Wein und hören Musik; scheinen viel Spaß zu haben. Und noch was: Ich an eurer Stelle würde die Sache mit der Treppe einfach vergessen. Der Meister ist ein Eigenbrötler. Dem musst du jede Stufe einzeln erklären. Ansonsten beginnt er, zu improvisieren und dabei kommen die verrücktesten Dinge heraus. Es hat keinen Sinn, sich bei ihm zu beschweren. Er hält sich für einen großen Künstler und du weißt ja, wie ungemütlich die werden können, wenn man ihre Werke kritisiert!” erklärte Maria.
”Ist er schon mal ungemütlich geworden?” fragte ich, neugierig geworden.
”Na ja, sieh dich doch hier mal um”, flüsterte sie und blickte sich verstohlen nach allen Seiten um.
”Dir werden die vielen Verstümmelten doch aufgefallen sein. Ganz zu schweigen von den Verätzten. Ich sage dir, so ein Eimerchen Holzbeize kann die Haut schon ganz schön zurichten.”
„Was? Du willst du nicht andeuten, der Mastoras...?“ Maria winkte ängstlich ab und entfernte sich eilig.
Damit war das Thema Treppe bis auf Weiteres verschoben. Am Abend suchte ich Giorgi in seinem Haus auf und versuchte, ihn betrunken zu machen. Mir war da ein Verdacht gekommen.
”Sag mal, wolltest du wirklich, dass deine Treppe direkt unter der Schlafzimmerlampe endet?”
Giorgi räusperte sich unbehaglich.
”Und was hat es mit dieser Brücke auf sich?“ fuhr ich fort. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie geplant war, oder?” Wieder nur ein Räuspern.
”Hast du selbst die Brücke angenagelt, weil du sonst hättest hinunterspringen müssen? Sprich bitte offen mit mir! Wir sind doch Freunde, oder? Wir haben den Meister beauftragt, und er hat uns eine verdammte Hühnerstiege gezimmert, auf der kein Mensch gehen kann.“
”Psst, Kind, nicht so laut!” mahnte Giorgi, erhob sich und zog die Gardinen vor dem Küchenfenster zu. Dann kam er zurück, blieb stehen und stützte seine Arme auf die Tischplatte. ”Du weißt gar nicht, was für Folgen deine unbedachte Äußerung haben kann”, sagte er. Zur Warnung hob er den rechten Zeigefinger, hielt ihn mir vor’s Gesicht und bohrte ihn dann zur Bestärkung seiner Worte in mein linkes Schulterblatt.
Ich verlor die Geduld.
”Also, gut, Giorgi. Was kann so schlimm sein? Womit haben wir es hier zu tun? Mit der Holzmafia, einem außerirdischen Zimmermann, der auf seinem Planeten Scheiße baute und nach Kreta strafversetzt wurde? Ist er nur ein armer Irrer, der ein ganzes Dorf in Atem hält? Hat die orthodoxe Kirche damit zu tun? Läßt er jeden Bauauftrag heimlich vom Metropoliten in Konstantinopel absegnen?“
Giorgi ließ sich auf seinen Stuhl sinken.
”Eine Frage, Kind, weißt du, was auf dem Epitaph unseres großen Schriftstellers Kazantzakis geschrieben steht?”
”Natürlich. Die Quintessenz seiner Forschungen: "Ich erhoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei!
”Na also, da hast du schon die Antwort. Der Meister lebt und arbeitet nach diesen drei Lebensweisheiten. Er baut frei nach seinen Vorstellungen, erhofft kein gutes Ergebnis, und sobald er Beschwerden hört, weist er darauf hin, dass er nichts, aber auch gar nichts zu befürchten hat. Verstehst du, so einfach ist das.”
”Nein, wie könnte ich? Wenn ich etwas in Auftrag gebe und dafür bezahle, erwarte ich korrekte Arbeit. So läufts nun mal. Wieso lasst ihr euch von diesem Holzwurm auf der Nase herumtanzen? Wenn ich nur an die arme Giannikopoulos denke, deren Treppe sich im Zickzack durch alle fünf Räume windet, bevor sie richtig ansteigt. Da wird mir ja schlecht!”
”Na, hör mal!“ warf Giorgi ungehalten ein. „Was beschwerst du dich? Ihr habt ja noch Glück gehabt! Schau dir nur die Treppe der alten Fragonikolakis an. Die Frau ist 85 und muß nach jeder dritten Stufe einen Klimmzug machen, weil der Meister dort ein Loch gelassen hat. Und weißt du, was sie tut? Sie trainiert! Ha! Hängt sich an ihre Hoftür und macht täglich 150 Klimmzüge. Natürlich erst, wenn alle anderen ihren Mittagsschlaf halten. Sie schämt sich, die Gute; ist immerhin Witwe und keine Barrenturnerin!”
”Aber das ist trotzdem nicht zumutbar“, wand ich ein.
”Soll ich dir sagen, was wirklich an die Grenze des Zumutbaren stößt? Wer das schlechteste Los von uns allen gezogen hat?” Giorgi geriet zunehmend in Erregung.
”Ja, komm, sag es mir!” forderte ich ihn nicht weniger hitzig auf. Seine aberwitzigen Beschreibungen faszinierten mich.
”Nikos!” sagte Giorgi und steckte sich umständlich eine Zigarette an.
”Für seine Wendeltreppe hat er sieben Millionen Drachmen hingeblättert. Sie ist ein Wunderwerk, versteh mich nicht falsch! Von Stockwerk zu Stockwerk führt sie durch sein riesiges Anwesen.
„Nun mach aber mal einen Punkt! Das kann ich von einer Treppe ja auch erwarten, Giorgi.“
Er winkte unwirsch ab. „Unterbrich‘ mich jetzt nicht! Der Meister hat monatelang daran gearbeitet. Feinstes Holz, echte Mooreiche, excellente Verarbeitung, nur...und jetzt halt dich fest!...die Stufen sind allesamt senkrecht angebracht, wenn du verstehst, was ich meine. Nikos hat die größte und teuerste Rutsche Europas im Haus. Seine Enkel wird der jedenfalls nicht mehr los. Die reiben die Stufen mit Möbelpolitur ein rutschen...”
”Halt...!“ unterbrach ich. „...und wie kommt er hinauf?
”Mit einer Kletterausrüstung”, sagte Giorgi, zuckte gleichmütig die Schultern und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette.
”Ich verstehe die Kreter nicht”, seufzte ich.
”Da gibt es nichts zu verstehen. Wir ehren Kazantzakis und halten zusammen. So einfach ist das. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich bin müde und habe noch einen langen Weg ins Bett vor mir, wie du dir denken kannst“, lachte Giorgi, klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und ließ mich nachdenklich am Küchentisch zurück.
Nach einer Viertelstunde legte sich der Lärm in der oberen Etage. Ich trank meinen letzten Schluck Wein, stand auf und schloß leise die Tür hinter mir. Und ich verstehe sie trotzdem nicht, die Kreter, dachte ich auf dem Heimweg, aber ihre Solidarität ist unvergleichlich.
Eine prachtvolle Steintreppe löste die unsägliche Hühnerleiter ab, deren Stufen sich in diesem Winter in den Kaminen meiner Nachbarn zum ersten und letzten Mal nützlich machen werden.