Der traurige Rosenbusch
Der Rosenbusch stand dort schon seit vielen vielen Jahren. Doch in den letzten Monaten waren seine Blätter winzig klein geworden, obwohl die Wurzeln bis tief in den Boden reichten, wo sie Feuchtigkeit fanden. Die Blüten verloren an Farbe, ihr Duft verschwand mehr und mehr. Traurig wurde ihm zumute. Er ließ gelegentlich schon einige seiner Köpfe hängen.
Auch der alte Turm an den er sich lehnte wußte keinen Rat. Der schmale Weg, der zu ihm führte, hatte einst den Wurzeln des Rosenbusches den Weg versperrt. Es war kein Durchkommen gewesen. Aber damals ging es ihm noch richtig gut, da wuchsen die Äste, die Blüten und die Blätter über den Weg hinweg und ließen einen heimeligen Blütengang zum Eingang des Turmes entstehen. Was war nur los mit ihm? Er wusste es nicht.
An einem der ersten schönen Frühlingstage kam ein kleines Mädchen mit einer roten Schleife im schwarzen Haar vorbeispaziert. Sie schaute den Turm hinauf. Er schien ihr nicht besonders groß, das neue Parkhaus gleich gegenüber war viel größer. Doch den alten Turm mit seinem Rosenbusch fand das Mädchen schöner. "Mir ist kühl hier unten, ich will hinauf auf den alten Turm gehen und die Sonne suchen", sprach sie vor sich hin.
Die Tür ließ sich nur schwer öffnen. Sie knarrte in den Angeln. Oben angekommen trat das Mädchen sogleich in einen Sonnenstrahl. "Wie schön", sagte sie, "hier oben hat sich also die Sonne versteckt."
Das hörte der Rosenbusch. Die Sonne hatte er seit vielen Wochen nicht mehr gesehen. Er fragte sich die ganze Zeit schon, wo sie geblieben war. Die Sonne hatte ihn immer gewärmt, auch wenn es ihm einmal nicht so gut ging, weil ein Ast ihn schmerzte oder er Blüten verloren hatte. "Vielleicht kann die Sonne mir helfen", dachte er bei sich. "Ich will sie fragen."
In den kommenden Wochen machten seine Äste sich auf den Weg hinauf zu den Zinnen des Turmes. Schon bald nachdem die ersten Blüten und winzigen Blätter die Wärme der Sonne spürten, verschwand die Traurigkeit aus dem Rosenbusch. Seine Blätter wurden größer und größer und seine Blüten begannen wieder zu duften. Er vergaß, weshalb er eigentlich hinaufgewachsen war.
Als eines Tages das Mädchen wieder einmal vorbeikam und auf den Turm stieg, bestaunte sie den herrlich duftenden Rosenbusch. Sie nahm einen tiefen Atemzug davon mit nach Hause.