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Der traurige Herr Fridolin
Über den Gärten der Vorstadtsiedlung lag der Duft des Flieders, die Obstbäume trugen ihr schönstes Blütenkleid, und von den Rosen strahlten die Tautropfen wie funkelnde Diamanten.
Frühmorgens stand ich auf, öffnete die Terrassentür und lauschte dem Gesang der Vögel. Die solohaften Darbietungen der Schwarzdrossel, die melodischen Gesänge der Buchfinken, die schelmenhaften Rufe der Kohlmeise, und die glockenhelle Stimme der Singdrossel erfreuten mich immer wieder. Sogar an dem Waschbrett-Rock'n'Roll der Spatzen hatte ich mich gewöhnt.
Es störte mich auch nicht mehr, wenn meine gefiederten Freunde mit ihren kräftigen Füßen die frisch geharkte Erde nach Würmern durchwühlten und in Scharen über meine Krokusse herfielen. Klein gehackt verschwanden die Blüten in ihren unersättlichen Schnäbeln. Ich dachte an ihren schönen Gesang und schnell war der Ärger verflogen.
Ich warf einen Spaten über die Schulter und ging über den Rasen, das Herzstück des Gartens. Einige Schritte weiter stand der Rhododendron. Jetzt, Anfang Mai, blühte er am schönsten. Es sirrte und schwirrte in den bunten Blüten. Eine ganze Invasion von Insekten umgaben die tiefgrünen Blätter. Von oben blickte der Apfelbaum herab, seine Blüten wiegten sich im Morgenwind.
Mit schmatzendem Geräusch glitt der Spaten in die Erde. Stich um Stich. Bahn für Bahn. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich plötzlich eine Stimme hörte: »Machen Sie bitte nicht so einen Lärm. Ich habe ein krankes Kind. Das braucht dringend Ruhe.«
Irritiert guckte ich mich um. Nichts war zu sehen. Wieder glitt der Spaten ins Erdreich. Stich um Stich. Bahn für Bahn. Nach einer Weile:
»Sind Sie taub! Ich hatte Sie doch gebeten nicht so einen Lärm zu machen. Ich habe ein krankes Kind. Ich weiß, dass wir in einer kinderfeindlichen Welt leben, aber dieser Lärm, genau vor meinem Fenster, ist nicht zu ertragen.«
Ich schaute durch die Hecke auf das Nachbargrundstück. Außer bunten Schmetterlingen und einigen dicken Hummeln, die mit tiefem Brummen an mir vorbeiglitten, sah und hörte ich nichts.
»Sie sind nicht nur taub, sondern auch blind!«, ertönte wieder das Stimmchen. »Hier bin ich!«
Hektisch sah ich mich um.
»Die Menschen sind blind wie die Maulwürfe. Sie gucken nur in die Ferne und sehen die Probleme in ihrer Nähe nicht. Schauen Sie mal auf Ihren Spaten.«
»Außer einem schönen Rotkehlchen, sehe ich nichts«, antwortete ich der hellen Stimme.
»Was heißt das, ich sehe nichts? Bin ich etwa kein Gesprächspartner für Sie?«
Vor Erstaunen fiel mir fast die Pfeife aus dem Mund. »Du - äh - Sie wollen behaupten, Sie beherrschen die menschliche Sprache?«
»Nein, Sie schlauer Mensch. Ich bin doch kein Papagei.«
»Was soll das heißen?«
»Ein Papagei kann Ihre Stimme nur nachahmen«, piepste das Rotkehlchen. »Ich jedoch, spreche mit Ihnen von Verstandeswesen zu Verstandeswesen.«
»So ist das also«, entfuhr es mir.
»Ja, genau. So ist das.«
Die Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Lange nachdenken konnte ich jedoch nicht.
»Nun, wie stehen Sie zu dem Lärm?«, setzte das Rotkehlchen die Unterhaltung fort.
»Wenn Sie ein krankes Kind zu versorgen haben, dann kann Lärm sehr schädlich sein. Aber sagen Sie mal, wie darf ich Sie eigentlich anreden? Herr oder Frau ...«
»Ich heiße Fridolin, Herr Fridolin. Aber das sieht man doch!«, sagte das Rotkehlchen entrüstet. »In der Vogelwelt sind die Herren der Schöpfung besonders schön.«
»Wo sind denn Ihre Kinder?«, fragte ich.
»Sie glauben mir nicht, dass ich Kinder habe?«, fragte Herr Fridolin vorwurfsvoll.
Das rotbraune Federbällchen hüpfte von dem Spatenrand und verschwand unter dem Rhododendronbusch. Kurze Zeit später tauchte es wieder auf. Hinter ihm her trippelten drei winzig kleine Rotkehlchen.
»Darf ich vorstellen«, krähte Herr Fridolin: »Florian, der Älteste, mein ganzer Stolz. Missbilligend schaute er auf das zweite Federbällchen. Das ist Fabian, der Zweitgeborene. Er ist in den Flegeljahren und zu nichts zu gebrauchen. Und das hier ist Friederike, das Nesthäkchen. Sie ist krank, und nur noch ein Nervenbündel.« Herr Fridolin senkte bekümmert seine Stimme. »Lärm macht alles nur noch schlimmer.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete ich kleinlaut. »Aber, verehrter Herr Nachbar, wenn ich Sie so nennen darf. Wo ist denn Ihre verehrte Gemahlin, Frau Fridolin?«
Für einen Moment betretenes Schweigen. Bekümmert senkte Herr Fridolin sein Haupt. »Ein furchtbares Unglück«, flüsterte er. »Die von euch Menschen so verhätschelte dicke Katze ...« Schluchzendes Piepsen drang zu mir empor. »Daran ist nur Frau Blaumeise schuld, die Wohnungsmaklerin. Ich Trottel habe mir von dieser Person eine Wohnung in Parterre aufschwätzen lassen, wo die Katze nur ihre gierigen Krallen auszustrecken braucht.«
Aus roter Kehle schluchzte Herr Fridolin. »Seit diesem verhängnisvollen Tag bin ich allein erziehender Vater. Die haben es bekanntlich besonders schwer bei der Wohnungssuche, dazu noch kinderreich.«
»Ja, so hat man seine Sorgen«, sagte ich verwirrt. Mehr fiel mir im Moment nicht ein.
»Die Kleine, die Friederike, hat den Tod der Mutter nicht verkraftet«, sagte Herr Fridolin bekümmert. »Ihr Menschen müsst mehr auf eure Katzen aufpassen. Für euch sind das possierliche Haustiere, für uns jedoch, besonders wenn man kleine Kinder hat, gefährliche Raubtiere.«
»Sie haben Recht, Herr Fridolin«, antwortete ich bestimmt. »Ich werde jetzt auf Katzen in meinem Garten aufpassen.«
»Ich danke Ihnen«, hauchte Herr Fridolin.
»Was meint dieser Knirps mit Lärmbelästigung?«, krächzte eine heisere Stimme hinter mir. Aus der Hecke lugte ein gelber Schnabel. Zwei intelligente Augen blickten mich an.
»Darf ich mich vorstellen?«, krähte die Stimme. »Fritz ist mein Name, Vorsteher der Wachmannschaft in diesem Revier.« Der schlanke Körper der Schwarzdrossel glitt aus der Hecke. Sie bewegte ihren Kopf hin und her.
»Ein großes Unglück hat die Familie Fridolin getroffen. Ich und meine Jungs konnten die schleichende Katze nicht mehr von der Wohnung weglocken, obwohl wir uns sofort auf die Bestie herabstürzten. Um das Desaster vollkommen zu machen, näherte sich noch eine gefräßige Elster. Schnell musste ich meine Mannschaft teilen. Die eine Hälfte griff die Katze an, die zweite Hälfte stürzte sich mit wütendem Kampfgeschrei auf die Königin der Diebe, die Fürstin aller Nesträuber und Aasfresser. Es war, wie schon erwähnt, zu spät. Frau Fridolin wurde ein Opfer der dicken Katze.
Es war eine große Beerdigung. Alle Bewohner des Reviers nahmen daran teil. Sechs Totengräber-Käfer übernahmen die Beisetzung.«
Betretenes Schweigen.
Nach einer Weile sagte Herr Fritz: »Von Lärm in diesem Revier kann aber keine Rede sein. Da übertreibt Herr Fridolin. Sie erweisen uns dadurch einen großen Dienst.«
»Damit ihr faulen Burschen euch nur die Würmer vom Boden aufheben braucht«, piepste Herr Fridolin. »Sie müssen wissen, verehrter Herr Nachbar, die schwarzen Gesellen haben große Angst vor Trockenheit, denn dann müssen sie die Würmer mit Gewalt aus dem Boden ziehen. Wenn sie dabei auf den Rücken fallen, finden das alle sehr belustigend.«
»Schluss mit lustig!«, raunzte Herr Fritz das Rotkehlchen an. »Bei langer Trockenheit graben sich die Würmer tief in die Erde. Wir tanzen dann mit den Füßen auf dem Boden herum. Die dummen Würmer glauben, es würde regnen und kommen an die Erdoberfläche, und meine Familie hat wieder Fleisch für einen Tag. Was für Herrn Fridolin belustigend aussieht, ist für uns lebensnotwendig«, sagte Herr Fritz belehrend. »Deshalb freuen wir uns über jeden Spatenstich von Ihnen.«
»Dann werde ich wohl ein salomonisches Urteil fällen müssen«, sagte ich bedächtig. »Etwas weniger Aufregung für die kleinen Rotkehlchen. Und für die schwarzen Gesellen habe ich ja inzwischen genug gegraben. Ihr Wurmvorrat dürfte für mehrere Tage reichen.«
Beide Seiten waren einverstanden. Herr Fritz flog mit lautem Geschrei in den Apfelbaum und Herr Fridolin ging zurück in seine Wohnung, gefolgt von seinen Kindern.
Nach einer Weile kehrte er zurück und sagte: »Er ist ein cooler Typ, der Herr Fritz. Er hat extra für meine Familie eine Abendwache bestellt. Zehn Minuten vor Sonnenuntergang fliegt eine Patrouille durchs Revier und mahnt uns mit lautem Ruf, die Wohnung aufzusuchen.«
Dann sagte er: »Da Sie so einsichtig sind, und die Lärmbelästigung vor meiner Wohnung abstellen wollen, verrate ich Ihnen was. Sie haben vor einigen Tagen vor Ihrer Terrasse einen gelben Rosenstock gepflanzt. Da hat man Sie schlecht beraten.«
»Was haben Sie denn gegen einen gelben Rosenstock?«, brummte ich.
»Nichts. Sie sollen ihn nur nicht vor Ihrer Terrasse pflanzen.«
»Warum nicht?«
»Wegen der Wespen!«
»Wegen der Wespen? Verstehe ich nicht.«
»Typisch Mensch. Die Wespen können die Farbe Gelb erkennen, die roten Blüten dagegen bleiben farblos für die schwarzgelben Brummer. Kurz: Pflanze viele rote Blumen in deinen Garten, und die kleinen Plagegeister werden nicht zur Plage. Wenn Sie im Herbst auf Ihrer Terrasse bei einem Stück Pflaumenkuchen ausruhen, dann können Wespen schon sehr lästig werden.«
Herr Fridolin verabschiedete sich. »Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen, Herr Nachbar. Und Empfehlung an die Frau Gemahlin.«
Nachdenklich ging ich ins Haus.