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Der Traumurlaub
Die ersten Ansichtskarten flatterten Ende April ins Büro. Sie zeigten meist kitschige Palmenstrände mit braungebranntem Bacardi-Völkchen oder nepalesische Tempeltänzerinnen. Von da an gab es in der Kantine nur noch ein Gesprächsthema: die Urlaubsreise. Hannah hasste diese euphorischen Gespräche über Geheimtips an der Copacabana, die Schnäppchen in Hongkong, die sagenhaft günstige Enotheca in der Toskana.
Hannah hatte in ihrem fünfunddreißigjährigen Leben neun Urlaubsreisen gebucht, davon sechs mit einem längst verflossenen Liebhaber, zwei als Gruppenreisen, eine Reise als Single. Sie kannte das Mittelmeer, den Atlantik, die Nord- und Ostsee und den Plattensee. Es war überall das gleiche Elend: verschmutzte Strände, enge und laute Unterkünfte, gierige, unfreundliche Einheimische, Touristen mit schlechten Manieren. Sie hatte genug vom Reisen.
Aber das durfte sie natürlich nicht laut sagen. Befremdete oder mitleidige Blicke trafen sie, wenn sie derart kritisch darüber redete. Na klar, sie wusste ja, dass sie unter all den Reisewütigen, die nur für die fünfte Jahreszeit schufteten, als verschroben galt, als alte Jungfer, der eben noch nie ein richtiger Latin Lover am Strand begegnet war. Also schwieg sie; aber allmählich reifte in ihr ein Plan, wie sie es allen zeigen konnte.
Sie nahm ihren gesamten Jahresurlaub auf einmal mitsamt einigen Tagen aus dem letzten Jahr, die ihr großzügigerweise gewährt wurden. So kam sie auf volle vier Wochen im August. Sie erfand eine Reisebegleiterin, Ala, die Schulfreundin, frisch geschieden und daher äußerst unternehmungslustig. Und sie wählte ihr Reiseziel, die Tremiti-Inseln vor der Küste Apuliens. Darauf war sie gekommen, weil sie gerade einen Roman über Friedrich II. angefangen hatte, den berühmten Mann aus Apulien.
Das war die ihr angemessene Art des Reisens: den riesigen, teuren Atlas auf dem Teppichboden, ein paar Kissen, eine Kanne Tee und ein paar Printen in Reichweite; und dann mit dem Finger auf der Karte die berühmten Reiserouten der Literatur entlang, auf der Seidenstraße, mit der transsibirischen Eisenbahn, zu den Quellen des Nils.
Manche Orte oder Landschaften, denen Hannah in Biografien oder Reisebeschreibungen – ihrer Lieblingslektüre – begegnete, faszinierten sie so sehr, dass sie etliche Euro ausgab für opulente Bildbände oder Reiseführer. Nicht selten war sie dann von den Fotos enttäuscht. Sie wollte sich eben die eigene Sicht der Dinge nicht einengen lassen.
Zwei Tage, bevor ihr Urlaub anfing, bestellte sie ihre Zeitung ab und ließ das Telefon sperren. Am letzten Arbeitstag, an dem sie ein extra schickes Sonnentop unter der Kostümjacke vorblitzen ließ, gab sie nochmals bereitwillig Auskunft über ihren Urlaubsort:
„Ja, es gibt nur wenige Hotels auf Laguna, dafür aber vom Allerfeinsten ... Ja, sicher, nicht gerade billig, aber wenn ich mich schon mal aufraffe, dann darf es ruhig mal was kosten ... Nein, mit dem Auto, Ala ist eine prima Fahrerin und hat einen schnellen Flitzer ...“ Schließlich verkündete sie großartig:
„Ich werde euch schreiben – Ala und ich sind ja fast vier Wochen da unten. Das heißt, wenn wir nicht zu faul oder zu beschäftigt sind ... Ich kann euch gar nicht sagen, wie ich mich freue!“
Und rauschte, von neidvollen Seufzern begleitet, aus dem Büro.
In ihrer Wohnung ließ Hannah erst einmal die Rollläden halb herunter, dann schleuderte sie die Pumps von den Füßen und kuschelte sich in ihren ältesten Jogginganzug. Bequem aufs Sofa hingestreckt musterte sie die Requisiten, die zur Inszenierung ihrer Urlaubsreise auf die Tremiti-Inseln gehörten: der Apulien-Roman, ein aktuelles Merianheft über Süditalien, eine Sammlung italienischer Postkarten, die sich irgendwann eingenistet hatten, ein Schreibblock und natürlich der Atlas. Jetzt fehlte nur noch die Kanne Tee und etwas zum Knabbern.
In der ersten Woche rührte sich Hannah überhaupt nicht aus dem Haus, ja kaum aus dem Bett. Schlafen, lesen, fernsehen. Dazwischen winzige Mahlzeiten, die sie aus allen möglichen Tiefkühlvorräten und Vorratsdosen zusammenmixte. Niemand störte sie in dieser selbst gewählten Isolation.
In der zweiten Woche begann sie mit dem versprochenen Brief. Lange hatte sie überlegt, wie sie das Problem mit den Briefmarken und der Zustellung lösen könnte. Vorsichtig entfernte sie über dem dampfenden Wasserkessel bereits gestempelte Marken aus ihrer Kartensammlung und klebte sie auf einen neuen Briefumschlag. Mit dünner Tuschefeder ergänzte sie die fehlenden Linien des Poststempels, nicht allzu exakt; sie rechnete nicht damit, dass jemand einen genauen Blick darauf werfen würde. Alles wirkte ganz echt. Da sie keine Möglichkeit sah, den Brief direkt ans Büro zu schicken, adressierte sie ihn an die Kollegin, die am ehesten mit Post von ihr rechnen durfte, Mona Sowieso. Die Adresse hatte sie aus einer Namensliste des Büros. Mit Mona verstand sie sich im Büroalltag ganz gut, allerdings war sie noch nie bei ihr zuhause gewesen. Umgekehrt natürlich auch nicht. Hannah hielt nichts von Kaffeekränzchen. Sie würde den Brief einfach heimlich bei ihr einwerfen.
„Liebe Mona“, schrieb sie, „es ist alles so traumhaft, wie wir es uns vorgestellt haben. Das mit dem Hai war wirklich ein tolles Ding – die Viecher sind hier ja eigentlich eher selten. Ala hat einen schönen Schock bekommen ...“
Und es folgte eine ausführliche Story, in der es nur so wimmelte von attraktiven braungebrannten Holländern, herrlichen Fahrten mit dem Segelboot übers Meer, bei Vollmond natürlich, von kleinen Unpässlichkeiten wegen des Olivenöls und dass man Gott sei Dank einige Kilometerchen zwischen sich und das verregnete Deutschland gelegt habe. Die Holländer brachten Hannah darauf, dass sie unbedingt etwas für die eigene Urlaubsbräune tun müsse. Sie entschloss sich zu einigen Saunabesuchen mit Solarium. Ganz in ihrer Nähe kannte sie ein Fitness-Center nur für Ladies, in das sich bestimmt keine ihrer Bürodamen verirren würde. An den Vormittagen traf man dort nur Studentinnen oder Hausfrauen.
Ungefähr eine Woche vor dem Ende ihrer Urlaubszeit wagte sie den Weg zum Briefkasten ihrer Kollegin. Es war kurz nach zehn Uhr abends, als sie in die Straße einbog, wo Mona wohnte. Sie blickte noch einmal auf die Anschrift des Briefes: Akazienweg neun, eine Sackgasse. Vor dem Haus kreisten ein paar Jugendliche mit ihren Mofas um ein Blumenrondell herum und ließen die frisierten Motoren aufheulen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Kinder gehörten doch um diese Zeit nach Hause! Das war ja wie im Mezzogiorno! Sie wäre am liebsten umgekehrt. Womöglich gehörten Monas Knaben auch zu den Krachmachern. Aber Blödsinn! Die kannten sie ja nicht. Und der Brief musste unbedingt ankommen.
Hannah suchte gerade in dem umfangreichen Briefkastenangebot nach dem richtigen Namen, als sich die Haustür öffnete und ein Mann mittleren Alters heraustrat. Er trug Jogginghosen und ein Handtuch um den Hals. Siedend heiß fiel Hannah ein, dass Mona ihre Familie als äußerst sportbegeistert beschrieben hatte, besonders ihren Mann. Ein Marathonläufer!
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er höflich und drückte auf den Lichtschalter.
„Oh, vielen Dank ... Ich suche nach ... Familie Dirksen.“ Gott sei Dank war ihr noch schnell ein Name eingefallen.
„Familie Dirksen? Hier im Haus? Ich fürchte, da haben Sie sich vertan. Vielleicht die falsche Hausnummer. Darf ich mal sehen?“
Aber Hannah hatte den Brief schnell wieder in ihrer Handtasche verstaut.
„Ein paar Häuser weiter gibt es eine Familie Dirksen. Der Junge mit dem schwarz-gelben Mofa gehört dazu.“
„Aha. Besten Dank. Dann werde ich den mal fragen.“
„Keine Ursache! Und schönen Abend noch.“ Ein kurzer Pfiff in Richtung der Mopedfreaks und er trabte los. Hannah schaute ihm nach, bis er um die Ecke bog. Der Briefkastendeckel klapperte zwar ein wenig, als sie den Brief endlich einwerfen konnte, aber der Junge, der nun nach Hause beordert war, nahm keinerlei Notiz von ihr.
Soweit verlief alles nach Plan. Noch nie hatte sich Hannah so gut erholt. Und noch nie hatte sie sich so sehr auf den ersten Tag nach dem Urlaub gefreut. Am letzten Sonntagabend hielt sie es nicht mehr aus. Von einer Telefonzelle aus rief sie Mona an. Ja, den Brief hatten sie bekommen, allerdings hatte er zwei Wochen gebraucht.
„Willst du nicht mit dieser Ala am Mittwochabend mal auf einen Sprung rüberkommen? Peter, mein Jüngster, hat da so ein paar Fragen. Er sammelt nämlich Briefmarken, speziell aus dem Mittelmeerraum.“ Da wusste Hannah, dass sie ihrer Fantasie noch keinen Urlaub gönnen durfte.