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Der Traumgänger

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03.10.2013
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Der Traumgänger

Ein paar Stationen nach dem die beiden Frauen mein Abteil verlassen hatten, betrat dieses eine junge Frau. Sie musste etwa 21 Jahre alt sein. In ihren dunkelblauen Augen lag ein abwesender Blick. Ihre Kleidung war nichts sagend, trotzdem strömte sie etwas aus, was einen zurück weichen lassen konnte. Ich schluckte.
Ich fuhr nicht gerne Zug, und jetzt auf meiner ersten Zugfahrt nach Jahren -und auch das erzwungener maßen, es hatte mit meinen nächsten Artikel, welcher sich mit dem Begriff „Freiheit“ beschäftigte, zu tun- hatte ich mit so etwas nicht gerechnet. Sie setzte sich ohne mich zu beachten und schaute aus dem Fenster. Ihr ganzer Körper wies auf Ablehnung hin.
Sollte ich es wagen? Ich zögerte bevor ich vorsichtig fragte:
„Entschuldigen Sie bitte? Ich heiße Mark Thauer und bin Journalist, könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten?“ Die junge Frau drehte ihren Kopf, musterte mich eine Weile, als wollte sie mich einschätzen und nickte langsam. Nicht zögerlich, eher abwesend.
„Würden Sie mir bitte ihren Namen und ihr Alter sagen? Es ist formal.“
„Cleo antwortete sie langsam. „Ich heiße Cleo. Ich bin 19 Jahre alt.“ Ich nickte und schrieb es mir schnell auf.
„Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie Sie zum Begriff Freiheit stehen?“ Sie schwieg. Ich überlegte ob ich die Frage wiederholen oder lieber warten sollte. Sie schaute mich an, schaute mich nicht an. Ihre Augen schienen durch mich hindurch zu sehen, mich gar nicht bemerkend.
„Der Mensch ist wie die Blume“, sagte sie endlich leise. Der Vergleich überraschte mich. „Die Blume strebt die Sonne an, wie der Mensch die Freiheit anstrebt.“ Sie sah mir in die Augen. Plötzlich schienen ihre Augen Eisblau. „Aber wie die Blume die Sonne nie erreichen wird, wird der Mensch die Freiheit nie erreichen. Nie!“ Ihre Stimme war hart und voller Bitternis geworden. „Selbst wenn wir glauben, wir haben sie erreicht, sind wir Meilenweit entfernt. Freiheit gibt es nicht. Sie ist nur gemacht, um die Menschen zu täuschen, in Sicherheit zu wähnen, während sie langsam manipuliert werden. Niemand ist frei. Und niemand wird je frei sein. Das Wort ist nur eine leere Hülle. Freiheit gibt es nicht.“
Der plötzlich einsetzende Regen, der bei ihren letzten Worten begonnen hatte, schien Beifall zu klatschen. Als würde der Regen ihr zustimmen. Ich warf einen kurzen Seitenblick zum Fenster. Regentropfen trommelten dagegen und schienen eine Melodie zu spielen, die kein Mensch jemals erraten könnte.
„Wie meinen Sie das?“ hakte ich vorsichtig nach. Das Mädchen verwirrte mich ein wenig. Waren es ihre Augen die die Farbe zu wechseln schienen, oder war es das, was sie sagte? Ich wusste es nicht.
„Wieso glauben Sie, dass es die Freiheit nicht gibt?“ Ihr Körper schien sich aufzurichten, sich zu versteifen, als hätte ich einen wunden Punkt von ihr erreicht. Vielleicht war es die falsche Frage gewesen. Eine falsche Frage am falschen Zeitpunkt. Doch ehe ich meine Fragte annullieren und eine Neue stellen konnte, kam sie mir zuvor.
„Haben Sie sich jemals frei gefühlt?“, fragte sie mich. Ich nickte. Unsicher worauf sie hinaus wollte.
„Waren Sie in diesem Moment wirklich frei?“, fragte sie weiter. „Damit meine ich so richtig frei. Gänzlich frei?“ ich zögerte, wollte sie, dass ich verneinte? Ich tat ihr den Gefallen und schüttelte den Kopf. Sie lächelte kalt.
„Sehen Sie, Sie waren auch noch nie Frei. Sie werden auch nie frei sein. Verstehen sie?“ Ich zögerte. Schon wieder verstand ich nicht, was sie wollte. Es schien, als sei sie von einem Nebel umgeben, dass ich sie nicht klar erkennen konnte. Sie schien ein gesamtes Geheimnis zu sein und die Lösung musste wohl hinter dem Begriff „Freiheit“ stehen. Noch nie hatte ich gehört, dass eine so junge Person wie sie, so negativ über dieses Wort gesprochen hatte. Ich Stimme durchbrach meine Gedanken.
„Es wird immer von Freiheit gesprochen, als sei es das Maß aller Dinge, das Ziel des Lebens, das Beste was man bekommen kann.
Man kommt aus dem Gefängnis frei. Man ist frei zu machen was man will. Aber ob das wirklich stimmt, darüber macht sich niemand Gedanken. Sie sind nicht frei. Immer noch gefangen im Staat. Beobachtet von Beamten, dazu verdammt ein freier Gefangener zu sein.
Man sagt, dass die Gedanken frei sind. Aber sind sie das wirklich? Sind sie so frei wie man denkt? Klar, niemand hört was man denkt, aber dass ist auch schon alles. In echt werden selbst die Gedanken manipuliert. Die Medien, andere Menschen, der Staat beeinflussen einen, dass man denkt, was man denken soll, und dabei denkt, dass seien die eigenen Gedanken gewesen. Dabei hat man sich nicht mal eine eigene Meinung gemacht, sondern das Bild der anderen übernommen, ohne es nur im Geringsten anzuzweifeln.“ Langsam redete sie sich in Rage. Sie hatte sich leicht vorgebeugt, ihre Augen waren von einem so dunklen Blau, dass sie in diesem drüben Regenlicht fast schwarz erschienen, und redete mit einer aufgebrachten, aber gleichzeitig eindringlichen Stimme.
„Auch die eigene Vergangenheit hält einen gefangen man kann ihr nicht bekommen, was auch immer man macht. Ob die Vergangenheit noch ein Ebenbild von der heutigen Person ist, interessiert dabei niemanden. Wieso auch? Sie sagt doch schon alles aus. Die Vergangenheit sagt ja schon alles. Man braucht sich den Menschen hinter den Daten und Fakten gar nicht mal anzusehen. Man weiß ja schon alles über ihn. Aber das stimmt nicht. Das ist die Ignoranz vor dem Menschen selbst. Der Mensch ist das Wichtige, nicht die Vergangenheit.
Selbst man selbst hält sich gefangen. Baut sich eigene Grenzen auf, die zu überschreiten nicht erlaubt sind, auch wenn sie könnten. Ängste nennt man das. Aber Ängste kann man überwinden. Diese Grenzen nicht, weil sie einen gefangen halten. Sie sehen, nicht einmal vor sich selbst ist man frei. Man baut sich Wunschbilder auf, erträumte Realitäten die es gar nicht gibt. Baut sich ein wunderbares Ich. Nicht einmal vor sich selbst ist man so frei das zu sein, was man ist. Verstehen sie es jetzt?“
Ich verstand. So hatte ich noch nie über die Freiheit nachgedacht. Das war eine völlig andere Sichtweise, aber so vor mir ausgebreitet, das es mir schien, als sei sie war.
„Ja“, sagte ich. „Ich verstehe.“ Diese Person vor mir machte mich neugierig. Wie kam sie auf solche Gedanken? Was brachte sie dazu so darüber zu reden? Was hatte sie erlebt, dass ihre Gedanken so beeinflusst hatten? Wie hatte sie den Begriff „Freiheit“ erlebt, dass er ihr falsch vorkam? Als ich sie danach fragte, zuckte sie bloß mit den Schultern.
„Jeder der sich einmal wirklich mit diesem Gedanken befasst hat, kommt darauf“, meinte sie leichthin, schaute mich dabei nicht an sondern wendete ihren Blick aus dem Fenster.
Ich wartete geduldig, bis sie bereit war weiter zu sprechen. Wie bei den Malen davor, dauerte es nicht lange bis sie weiter sprach und sie das monotone Geräusch vom Regen und das Fahrgeräusch vom Zug unterbrach.
Sie richtete ihren unergründlichen Blick auf mich und sagte nachdenklich:
„Es ist wahrscheinlich egal ob ich es ihnen sage, oder nicht. Das macht keinen Unterschied. Sie werden der Erste und auch der Letzte sein, dem ich die Geschichte erzähle. Schreiben Sie ruhig mit, machen sie sich keine Umstände.
Es hat einen Grund, dass ich nicht daran glaube. Aber vielleicht sind es auch Viele, die nur in einen zusammengepackt sind. Es ist etwas passiert, das mich dazu veranlasst hat, neu über dieses Wort nachzudenken. Auch ich bin ein Grund dafür, dass es passiert ist. Ich möchte es nicht abstreiten. Auch ich trage, wie alle anderen, Schuld am Tod von Bo, aber ich bin die Einzige die den Grund kennt, warum Bo wirklich gestorben ist. Das ist der Unterschied. Den Grund, warum Bo wirklich gestorben ist, möchte ich ihnen erzählen. Wie und warum er gestorben ist. Und dann werden sie sicher meine Ansicht über Freiheit verstehen.“ Sie holte einmal tief Atem, was mir Zeit ließ mit dem Kopf zu nicken. Und dann begann sie ihre Geschichte:

Ich möchte ihnen die Geschichte von Bo erzählen. Bo ging in meine Klasse. Ich will nicht sagen, dass ich ihn gut kannte, aber besser als die Anderen. Er war anders als sie. Nicht nur vom Aussehen her. Ich finde, er war etwas Besonderes. Die Anderen haben das nie erkannt. Auch ich habe es erst erkannt als es zu spät war. Vielleicht habe ich es aber auch nur nicht erkannt, weil ich mit es nicht wollte. Erst in den letzten Tagen seines Lebens, da habe ich es bemerkt. Denn tot ist er und es ist unsere Schuld.
Als ihn als Person kann ich mich nicht gut erinnern. Niemand hat so auf ihn geachtet. Ich auch nicht. Nur an die tage, an denen ich bei ihm saß und ihm zuhörte, wie er mir seine Geschichte erzählte, kann ich mich erinnern. Nur durch die Geschichte, habe ich ein Bild von ihm im Kopf wenn ich von ihm rede oder an ihn denke. Nur an diese Tage erinnere ich mich noch. Da war er schon zu schwach um aufstehen zu können. Alt sah er aus. Uralt. Nicht sein Körper war gealtert, sondern seine Seele, sein Geist. Er wusste dass er sterben würde. Daher hat er die Geschichte nicht verschönert, sondern die Wahrheit erzählt. Und diese Wahrheit gebe ich an sie weiter.
Bo war klein und dünn für sein Alter. Mit seiner braunen Haut, den schwarzen Haaren und seinen blauen Schlitzaugen, sah er aus wie ein Exot. Und das war er auch. Er passte nicht zu den anderen 13- Jährigen Jungen in unserer Klasse. Er war anders. Das war uns sofort aufgefallen. Inwiefern dass wussten wir nicht. Das wollten wir auch nicht wissen.
„Das ist Bo Wilhelms“, hatte Frau Volmer unsere Klassenlehrerin gesagt. „Er kommt neu in eure Klasse. Er kommt aus Lübeck. Seid nett zu ihm.“ Ein paar Witzbolde haben ihm sofort den Namen „Po“ verpasst. Dabei ist es dann auch geblieben.
Still hat er sich an den Tisch nach ganz hinten gesetzt. Ganz allein. Auch dabei ist es geblieben. Er war immer allein und hat die Pausen allein verbracht. Nie hat ihn jemand gefragt wie es ihm ginge. Seine Noten waren im Durchschnitt. Nichts besonderes was sich aus der Masse hob. Vielleicht war es gut so. Er wurde nie gemobbt, aber Freunde hat er auch nie gefunden.
Zugegeben, er ging auch nie auf uns zu. Das soll jetzt keine Rechtfertigung sein, aber es war ihm einfach egal. So viele Schulwechsel hatte er hinter sich. Da war es egal, ob er auf dieser Schule Freunde fand oder nicht. Er hatte noch nie welche gehabt. Die Schule, das wusste er, würde er eh in spätestens zwei Jahren wieder verlassen. Deshalb blieb er was er war. Ein Einzelgänger.
Im Alter in dem man sich für das andere Geschlecht zu interessieren beginnt und die erste Liebe findet, blieb er allein. Er existierte gar nicht mehr. Wie eine Glasscherbe, die man zwar sieht, aber nicht wirklich wahrnimmt. Wir beachteten ihn nicht. Er war keiner von uns. Er war ein Mitläufer. Einer, der immer dabei ist, aber nicht dazugehört. Ob er sich je in ein Mädchen verliebt hat? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Er hat mir nie davon erzählt. Von so etwas sprach er nicht.
Irgendwann in dieser Zeit begann er sich eine eigene Welt aufzubauen. Dorthin floh er dann immer, wenn es ihm nicht gut ging. Er hatte dort Freunde, es ging ihm dort gut. Immer wenn er einsam war, träumte er sich dort hin. Und einsam war er so gut wie immer. Selbst im Zusammensein mit seiner Mutter. Außer wenn er schlief. So konnte er zumindest ein wenig Glück und Sonne in sein Leben bringen. Das Leben war schnell nur noch ein Traum von ihm. Ein schlimmer Traum. Nur dadurch überlebte er. Er war ein Traumgänger.
Vielleicht, wenn er die Schule beendet hätte, hätte er eine Karriere als Schriftsteller begonnen. Ganz sicher bei seinem Talent. Man hätte ihn nur lassen sollen. Ich habe Gedichte von ihm gehört. Er hat sie mir erzählt. Er hatte das Zeug dazu. Bo war begabt.
Nachts lag er oft wach und sah sich Mond und Sterne an. Er weinte nie über sein Leben. Er schrieb. Er schrieb seine Träume und Wünsche auf. Das, was er am Tag erlebt hatte. Denn für ihn war das richtige Leben ein Albtraum geworden, den man schnell und ohne zu denken überstehen musste. Seine Träume hingegen waren seine Wirklichkeit. Einen ganzen weißen Ordner voller Geschichten und Gedichte hatte er schon geschrieben.
Das Schreiben befreite ihn, er war nicht mehr er, er war die Geschichte. Federleicht. Ihm ging es dann gut. Wenn er schrieb, schien es ihm, als würde seine Seele aufatmen, von einer schweren Last befreit, als würde die Sonne in finsterer Nacht nur für ihn, Bo Wilhelms, scheinen.
Seine Lehrer bemitleideten ihn. Sie sahen wie er ausgegrenzt wurde und wollten ihm helfen. Sie versuchten mit ihm und uns, seinen Mitschülern zu reden. Wir sollten ihn aufnehmen, akzeptieren, wir sollten mal was mit ihm machen, mal mit ihm reden. Er sei doch nett, sagten sie immer wieder. Doch niemand beachtete sie. Wir hörten ihnen nicht zu, freuten uns nur, dass der betreffende Lehrer keinen Unterricht machte. Bo war uns als Mensch egal.
Wenn wir ihn wenigstens geärgert hätten. Das hätte ihm wenigstens gezeigt, dass er Jemand sei, dass es ihn noch gab. Dann hätte er vielleicht nicht an sich selbst zu zweifeln begonnen. Dann wäre er vielleicht noch am Leben. Doch jetzt ist er tot. Und es ist auch unsere Schuld.
Er versteckte seinen Ordner. Immer wieder wo anders. Niemand durfte ihn sehen. Niemand durfte darin lesen. Niemand durfte wissen, dass es ihn gab. Es wurde sein Versteck vor der Wirklichkeit. Sein letzter Schlupfwinkel. Das was ihm am meisten bedeutete, mehr als sein eigenes Leben.
Doch dann stumpfte er ab. Das Leben glitt an ihm vorbei und er hielt es nicht auf oder kam mit. Es gab für ihn keinen Sinn mehr. Ohne seine Geschichten hätte er bestimmt schon eine Überdosis genommen, hätte sich von der Brücke gestürzt, erhängt, oder sich anders sein Leben genommen. Er fühlte sich als nichts und wir halfen ihm dabei, indem wir ihn nicht beachteten. Er war ein nichts. Mit seiner Mutter hatte er schon lange nichts mehr am Hut. Nur in seinen Träumen war er noch jemand. Eine Persönlichkeit. Ein Leben. Das half ihm über die Runden zu kommen.
Doch irgendwann versteckte er seinen weißen Ordner nicht mehr. Ob aus Nachlässigkeit oder weil es ihm langsam egal war, das war nicht klar. Eines Tages fand seine Mutter den Ordner, und wie Mütter eben sind, las sie ihn sich durch. Sie hatte keinen Sinn für Geschichten und Poesie. Das einzige dem sie sich verschrieben hatte, war die Wissenschaft. Daten und Fakten. Das war es, was sie wollte.
Sie verbot ihm sich in seinen Träumen zu flüchten, sie verbot ihm im Ordner zu schreiben, sie verbot ihm darin zu lesen. Sie sagte er solle sich jetzt endlich mal dem wirklichen Leben stellen. Er solle endlich mal mit dieser Kleinkinderei, diesem Unsinn aufhören.
Schließlich ging sie sogar zur Psychologin mit ihm. Sie sollte ihm helfen in die Wirklichkeit zurück zu kommen und wieder zu Leben. Es gab viele Sitzungen. Viele Gespräche führte sie mit ihm, doch alle verliefen im Sand. Er sträubte sich dagegen, wie ein wildes Tier vor dem Käfig. Die Geschichten waren sein einziger Halt im Leben. Doch sie gab nicht auf. Noch nie hatte es einer geschafft ihr Widerstand zu leisten. Auch bei ihm würde es klappen. Das wusste sie. Auch er war gegen sie hilflos. Dann hatte sie ihn endlich „zurechtgebogen“, wie sie seiner Mutter nicht ohne Stolz mitteilte. Diese freute sich, glaubte, dass es geschafft sei, dass er es überstanden hatte und jetzt wie ein normaler Junge leben würde. Ein paar Wochen ging es gut. Doch jetzt ist er tot und es ist auch die Schuld der Psychologin.
Er wurde älter. Es schien als würde er in Zeitraffer altern. Man sah es ihm nicht an, konnte es nur erahnen, wusste aber, dass er es tat. Obwohl er viel aß und trank, wurde er immer kränker und dünner, kam schließlich ins Krankenhaus. Dass seine Mutter ihm nur den Ordner hätte wiedergeben müssen um ihn zu retten, wusste sie nicht. Doch jetzt ist er tot, und es ist auch ihre Schuld.
In der Klasse vermisste ihn niemand. Wir merkten nicht einmal dass er fehlte. Bis uns Frau Vollmer darauf aufmerksam machte. Ausgerechnet mich wählte sie aus, Bo seine Hausaufgaben zu bringen, ihm zu erzählen was wir im Unterricht gemacht hatten und ihm bei Nöten zu helfen, sollte er etwas nicht verstehen.
Widerwillig besuchte ich ihn und machte dies. Irgendwann, ich weiß nicht aus welchem Grund, fing er an seine Geschichte zu erzählen. Sie zog mich in den Bann. Immer öfter und länger kam ich. Bo fing an mich zu faszinieren. Vielleicht verliebte ich mich in ihn. Ich weiß es nicht. Ich hörte ihm gerne zu. Er sagte oft: „Ich erzähle um mich am Leben zu erhalten“. Dass ist ein Zitat aus „Der Chronist der Winde“ von Henning Mankell. Und so wie er es sagte, begriff ich, dass er es ernst meinte. Er wusste dass er sterben würde. Es sollte seine letzte und längste Geschichte sein. Er träumte sein eigenes Leben sozusagen noch einmal und erzählte es. Es sollte das erste und letzte Mal sein. Er war zu schwach sich selbst das Leben zu nehmen, aber es war schon seine letzte Wegstrecke. Wenn seine Geschichte zu Ende erzählt wäre, wäre auch sein Leben an der Endhaltestelle angekommen. Er hatte keine Angst davor. Er freute sich, dass er jetzt seine Träume leben konnte.
Es kam wirklich so. Als Bo mit seiner Geschichte zu Ende war und ich ging, fühlte ich, dass ich ihn nie wieder lebend sehen würde. Obwohl ich ihn nur ein paar Wochen kannte, kam es mir so vor, als würde ich ihn schon sein gesamtes Leben lang kennen, was im gewissen maße auch stimmte. Ich wusste, dass ich ihn vermissen würde. In der Nacht darauf, es war Vollmond, Bo liebte Vollmonde, starb er. Seine Geschichte war zu Ende. Es schien als hätte er sein Buch zugeklappt. Als wäre die Geschichte vorbei und das Buch hieß „Der Traumgänger“.
Als ich kam um mich ein letztes Mal bei ihm zu verabschieden, schien es mir, als sei er 100 Jahre alt. Nicht weil sein Gesicht alt war, sondern weil er von einer Weisheit und Würde umgeben war, die ich nie wahrgenommen hatte. Und dies war auch das erste Mal, dass ich das bei ihm sah, dass er lächelte. Friedlich und wissend. Ich weiß, wo auch immer er sich gerade befindet, ihm geht es gut. Ihm geht es viel besser, als zu der Zeit als er lebte. Aber ich denke das ist auch nicht schwer.

Sie schwieg und sah aus dem Fenster. Eine Träne rann ihre Wange hinab. Auch wenn ich nicht einmal annähernd so etwas erlebt, oder davon gehört hatte, verstand ich sie. Auch ich hätte so über die Freiheit gerichtet. Es war dunkel geworden. Die Nacht war gekommen. Die Lichter im Zug waren angegangen und unsere Spiegelbilder waren schemenhaft im regennassen Fenster zu sehen. Blass und fern. Haut von Anderen. Cleo hatte das Gesicht an die Scheibe gelehnt.
„Der Mond scheint“, sagte sie leise. „Unter dem silbernen Licht ist alles gleich. Und macht keine Unterschiede. Die Sonne hingegen zeigt alle Fehler und vergrößert sie. Zeigt alle Schwächen. Das hat Bo immer gesagt. Er hat Recht. Sehen Sie hinaus. Ist der Mond nicht wunderschön? So viel schöner als die Sonne, die alles mit ihrem gleißenden Licht zerstört und vernichtet. Unter der Sonne ist nicht einmal der Tod sicher.“
„Vielleicht haben sie recht“, antwortete ich. „Zumindest verstehe ich sie jetzt besser. Ich weiß jetzt was Sie meinen. Ich würde genauso denken wie Sie.“
„Dann tun Sie es. Schreiben Sie die Geschichte auf. Schreiben Sie die Geschichte von Bo auf. Wenn er schon im Leben ein nichts war, soll ihn der Tod nicht vergessen machen. Wenn sie den Artikel über Freiheit wirklich schreiben, schreiben sie über ihn.“
„Ich werde es tun. Ich verspreche es.“ Es würde ein langer Artikel werden. Vier Personen hatte ich befragt, vier verschiedene Antworten und Geschichten bekommen. Sie würden im Artikel vorkommen. Ich machte mir einige kurze Notizen zum Aufbau der Geschichten, und überflog von jeder Geschichte kurz meine Stichpunkte. Jede dieser Geschichten war einzigartig, alle unterschieden sich untereinander. Bis auf einen Punkt. Die drei ersten Geschichten beschrieben die Freiheit positiv. Nur die letzte, war in diesem Punkt sehr negativ geworden.
An der nächsten Haltestelle stand Cleo auf und ging hinaus. An der Tür blieb sie stehen und sagte zu mir:
„Ich danke Ihnen, indem Sie mir zugehört haben, haben Sie mir sehr geholfen. Ich habe lange überlegt wie es jetzt, nach Bos Tod, weitergehen soll. Ich weiß jetzt, dass ich ihn geliebt habe. Ich weiß jetzt, was ich tun werde, was ich tun muss. Ich werde mit meinem alten Leben abschließen. Auf Wiedersehen.“ Ich sah ihr nach, als sie aus der Tür trat, und wünschte ihr alles Glück, was ein Mensch nur in seinem Leben haben kann. Ich hoffte sehr, dass ihr Leben nun eine glückliche Wendung nehmen würde.
Ich lehnte mich noch lächelnd zurück, da sah ich einen Gegenstand auf dem Tisch. Ich wollte aufspringen, doch da schlossen sich die Türen, der Zug fuhr an, und ich sah ein letztes Mal, ihr lächelndes Gesicht, bevor sie verschwand. Ich griff nach dem Handy, entschloss mich dann aber doch um. Sie würde wissen was für Sie das Beste wäre. Ich lehnte mich zurück, und nahm den Gegenstand vom Tisch.
In meinen Händen hielt ich den weißen Ordner.

 

Hallo.
Ja, wo fange ich am besten an .... Viel Positives werde ich dir leider nicht sagen können.
Zum einen hat dein Text eine Menge Grammatik- und Rechtschreibfehler. Der kommt wahrscheinlich ins Korrekturcenter. Ich habe jetzt keine Lust sie im Einzelnen herauszusuchen, aber lies nochmal kritisch durch, was du geschrieben hast. Vor allem nach dem ersten Drittel schluderst du arg.

Ein paar Stationen nach dem die beiden Frauen mein Abteil verlassen hatten, betrat dieses eine junge Frau. Sie musste etwa 21 Jahre alt sein. In ihren dunkelblauen Augen lag ein abwesender Blick. Ihre Kleidung war nichts sagend, trotzdem strömte sie etwas aus, was einen zurück weichen lassen konnte.
Der Anfang ist nicht besonders packend und man fragt sich auch sofort, welche Rolle es spielt, dass sich in dem Abteil vorher zwei andere Frauen befunden haben. Ich glaube, keine. Ein Setting wird damit jedenfalls nicht aufgebaut. Wozu brauchst du die beiden? Solche Überflüssigkeiten finden sich an vielen Stellen im Text.
Dann sagst du, dass die Kleidung nichts sagend war. Nun, ich meine, dass der Begriff nichtssagend sehr nichtssagend ist, als Autor solltest du dem Leser aber etwas sagen wollen. Du musst nach griffigen Worten suchen und schwammige Formulierungen vermeiden.
Ich fuhr nicht gerne Zug, und jetzt auf meiner ersten Zugfahrt nach Jahren -und auch das erzwungener maßen, es hatte mit meinen nächsten Artikel, welcher sich mit dem Begriff „Freiheit“ beschäftigte, zu tun- hatte ich mit so etwas nicht gerechnet.
Der Satz ist sehr umständlich. Da willst du zu viel hineinpacken und man tut sich als Leser sehr schwer damit. Hier auf der Seite wird immer geraten, man soll den Text mal laut vorlesen, dann merkt man, ob die Sprachmelodie stimmt. Bei diesem Satz stimmt sie jedenfalls nicht.
Und ich verstehe auch nicht, womit er nicht gerechnet hatte. Dass da jetzt eine Frau reinkommt, die abweisend und ablehnend wirkt? Das ist doch jetzt nichts, was so besonders wäre. Ich verstehe schon, du hast da ein besonderes Bild im Kopf, von einer seltsamen Ausstrahlung, die von dieser Frau ausgeht, aber bei mir kommt dieses Gefühl nicht rüber. Die Begegnung erscheint bisher als absolut alltäglich.
Sollte ich es wagen? Ich zögerte bevor ich vorsichtig fragte:
Ich empfinde vieles in deinem Text als sehr zögerlich. Als würdest du dich an bestimmte Handlungsabschnitte oder Aussagen nicht direkt rantrauen. Du willst dem Leser Dinge zu genau erklären, die aber recht banal sind. Hier allein sind drei Zögerlichkeiten drin. Und warum sollte er das eigentlich nicht "wagen"? Der Typ ist doch Journalist. Die "wagen" sich ständig daran Leute anzusprechen.
Na ja, der Einstieg leidet schon, aber dann geht es los. Mit einem Monolog. Und er kommt wie ein Schwall daher. Fängt recht pathetisch an mit
„Der Mensch ist wie die Blume“, sagte sie endlich leise. Der Vergleich überraschte mich. „Die Blume strebt die Sonne an, wie der Mensch die Freiheit anstrebt.“ Sie sah mir in die Augen. Plötzlich schienen ihre Augen Eisblau. „Aber wie die Blume die Sonne nie erreichen wird, wird der Mensch die Freiheit nie erreichen. Nie!
und geht auch in dem Stil weiter. Da sind leider zu viele abgegriffene Bilder drin, Vergleiche die ordinär sind. Hier z.B.
Er sträubte sich dagegen, wie ein wildes Tier vor dem Käfig.
oder auch sowas
So konnte er zumindest ein wenig Glück und Sonne in sein Leben bringen.
Überhaupt verfällst du häufig ins Pathetische und dann kommen so fatalistische Sätze daher wie
Es wurde sein Versteck vor der Wirklichkeit. Sein letzter Schlupfwinkel. Das was ihm am meisten bedeutete, mehr als sein eigenes Leben.
Tut mir leid, aber das ist zu dick aufgetragen.
Und dann das mit der Freiheit. Leider sind die Erkenntnisse, die deine geheimnisvolle Prota zum Besten gibt, nicht wirklich originell. Schon klar, die Freiheit ist eine Illusion und wir sind alle in der Matrix. Usw. Sorry, aber das ist nichts Bahnbrechendes und ein Journalist, der über die Freiheit einen Artikel schreibt, sollte von diesen Ansichten nicht besonders überrascht sein.
Freiheit ist halt immer so ein Thema über das sich die Menschen Gedanken machen, gerade in der heutigen Zeit, wo man mit der Kehrseite der Freiheit konfrontiert ist und vor den ganzen Möglichkeiten gar nicht weiß, wohin mit sich. Und klar, die Realität ist nur eine Konstruktion und sie wird von den Mächtigen beeinflusst, um die Menschen zu manipulieren. Damit überraschst du niemanden.
Es ist ja ein weites Feld, aber hier musst du dem Leser schon eine besondere Perspektive bieten, um ihn zu packen. Ansonsten zuckt er nur mit den Schultern. Ich hab dann auch ehrlich gesagt nicht mehr alles gelesen, weil du einen mit diesen Erkenntnissen regelrecht erschlägst. Da hast du einfach so Gedanken aneinandergereiht und die Figuren die da sind, braucht man dafür eigentlich gar nicht.
Dann kommt noch so was:
Sie richtete ihren unergründlichen Blick auf mich und sagte nachdenklich:
„Es ist wahrscheinlich egal ob ich es ihnen sage, oder nicht. Das macht keinen Unterschied. Sie werden der Erste und auch der Letzte sein, dem ich die Geschichte erzähle. Schreiben Sie ruhig mit, machen sie sich keine Umstände.
Das ist sehr dick aufgetragen, ja schon fast aufdringlich, finde ich. Unergründlicher Blick und so. Das kommt mit dem Hammer auf den Leser drauf. Und wieso soll diese ihr wildfremde Mann der erste und der letzte sein, dem die Geschichte erzählt wird? Man fragt sich das halt, wieso und das solltest du dich auch fragen. Hat noch so ein paar Stellen der Text.
Und dann kommt diese Geschichte mit dem Bo. Wie du da eine Brücke zu Freiheit schlagen willst. Ich konnte da überhaupt nicht reinfinden. Da ist auch alles sehr dick aufgetragen und so schlimm alles. Der arme Bo und seine Geschichten.
Dieser Teil hat übrigens einige große Logikpatzer. Mal ist er ein Einzelgänger, mal ein Mitläufer. Und dann fragt man sich, woher weiß diese Frau das alles. Mal hat niemand, auch sie nicht, mit ihm etwas zu tun,
Bo war uns als Mensch egal.
aber dann weiß sie doch alles, was in seinem Herzen sich abspielt. Und am Ende hat sie ihn geliebt.
Ich weiß jetzt, dass ich ihn geliebt habe.
Ja, ich weiß nicht, mich erreicht das nicht. Vieles ergibt für mich einfach keinen Sinn. Ich mag auch nicht dieses Weinerliche und Mahnende.
Ich höre jetzt mal auf, hoffe dir sagt noch jemand was dazu. Gäbe jedenfalls noch was zu sagen, aber jetzt muss ich weg.
Tut mir leid, dass ich dir nichts Positives sagen könnte. Ich glaube, harte Kritik ist halt am Besten, wünsche ich für mich auch. Dann lernt man wirklich was.
lg, randundband

 

Hey randundband,

als Erstes möchte ich mich mal entschuldigen, dass ich so spät antworte. War über das Wochenende weg und hatte es ganz vergessen, Freitag noch zu antworten... -.-
Als Zweites möchte ich mich bei dir bedanken, dass du - obwohl dir der Text nicht sondelrich gefallen hat - mir so eine detailreiche Antwort gegeben hast.
Zum Dritten, was mir - eigentlich als Einziges - bei der Antwort überhaupt nicht behagt hat:

randundband schrieb:
Ich mag auch nicht dieses Weinerliche und Mahnende.
Ich weiß zwar nciht mehr, was ich damals mit der Geschichte sagen wollte, aber mahnend und weinerlich war sicherlich das letzte - weshalb mich das ehrlich gesagt ziemlich entsetzt hat. Meinst du damit bestimmte Passagen oder gar den ganzen Text? 0.o

Der Anfang vom Text - da hast du mich echt erwischt... :D
Der Text ist damals als Teil einer Art Schulaufgabe von mir und drei Freundinnen entstanden. Und mein Teil war der letzte Teil von den vier Texten - was natürlich nichts dran ändert, dass er für sich gesehen wohl wirklich grottig ist und es dort tüchtiger Änderungen bedarf.

randundband schrieb:
Ich empfinde vieles in deinem Text als sehr zögerlich. Als würdest du dich an bestimmte Handlungsabschnitte oder Aussagen nicht direkt rantrauen. Du willst dem Leser Dinge zu genau erklären, die aber recht banal sind. Hier allein sind drei Zögerlichkeiten drin. Und warum sollte er das eigentlich nicht "wagen"? Der Typ ist doch Journalist. Die "wagen" sich ständig daran Leute anzusprechen.
Mea culpa,... da hast du sicher mehr als recht.

randundband schrieb:
Dieser Teil hat übrigens einige große Logikpatzer. Mal ist er ein Einzelgänger, mal ein Mitläufer. Und dann fragt man sich, woher weiß diese Frau das alles. Mal hat niemand, auch sie nicht, mit ihm etwas zu tun,
Bo war uns als Mensch egal.
aber dann weiß sie doch alles, was in seinem Herzen sich abspielt. Und am Ende hat sie ihn geliebt.
Ich weiß jetzt, dass ich ihn geliebt habe.[7quote]

Zum Thema Einzelgänger/ Mitläufer: Das Wort Mitläufer war wohl nicht sonderlich gut gewählt, aber:
Helu schrieb:
Er war ein Mitläufer. Einer, der immer dabei ist, aber nicht dazugehört.
--> Mitläufer (hier): jmd der mitläuft, immer dabei ist, aber nicht weiter integriert ist

Zum zweiten Teil: "Bo war uns als Mensch egal." So weit so gut. Er ist ihnen allen egal, sie kümmern sich nicht um ihn, wollten nichts mit ihm zu tun haben.
Er wird krank, kommt ins Krankenhaus. "Ausgerechnet mich wählte sie aus, Bo seine Hausaufgaben zu bringen[...]" Sie besucht ihn also - ich weiß, dort liegt der Logikfehler, dass es eigentlich Krankenhauschulen gibt, und deshalb macht exakt das wirklich keinen großen Sinn -und dann kommen sich beide näher, Bo fängt an von sich und über sich zu erzählen, Geschichten und Gedichte vorzutragen. Und hier, hier lernt meine Ich-Erzählerin ihn endlich kennen. Und indem sie sich mit ihm befasst, geht ihr am Ende ein Licht auf: "Ich weiß jetzt, dass ich ihn geliebt habe."

Im Endeffekt bleibt wohl mir eine Sache: Entweder den Text endgültig zu den akten zu legen, oder aber Arbeit, Arbeit, Arbeit und noch viiiel mehr Arbeit...


Gruß Helu

PS: Und trotz allem liebe ich meine Geschichte, vllt gerade weil sie so überladen und schwüllstig ist, oder vllt weil ich nie vergleichbares geschrieben habe, oder warum auch immer... :)

 

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