Der Traum
Als ich erwachte, lag der Raum noch in völliger Dunkelheit und ich war von einer völligen Stille umgeben. Langsam kam ich zu mir, war jedoch von einem seltsamen Gefühl erfüllt. Ich stieg aus dem Bett und betrat mit meinen nackten Füßen den weichen Teppich meines Schlafzimmers. Mit schweren Schritten begab ich mich in das Badezimmer und entleerte meine Blase. Beim Händewaschen streifte mein Blick den Badezimmerspiegel.
Der Anblick versetzte mir einen Schock und ich sprang erschrocken zurück. Noch nie in meinem Leben war ich so blitzartig hellwach geworden. Das Herz schlug mir bis zum Hals und der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich schloss die Augen und atmete langsam tief durch. „Das ist alles nur ein Traum“, murmelte ich und konzentrierte mich auf meinen Atem, um meinen Puls zu normalisieren.
Als sich mein Herzschlag wieder beruhigt hatte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und öffnete langsam die Augen und machte einen großen Schritt in Richtung Spiegel.
Wiederum ließ mich der Anblick erschauern. Kälte und Regungslosigkeit ergriffen meinen ganzen Körper.
Schließlich schaute ich mich um. Ich war alleine, abgesehen von dem Spiegelbild, das nicht das meine war. Das war nicht ich! Was war nur passiert?! Panik ergriff mich.
Leise flüsterte ich immer wieder: „Ich muss mich beruhigen und logisch nachdenken. Es muss für all das eine logische Erklärung geben. Ich bin Martin Wagner und bin 29 Jahre alt.“
Ich schaute nochmals vorsichtig in den Spiegel. Mein Spiegelbild zeigte das fragende Gesicht eines etwa 40 Jahre alten Mannes. So standen wir da, zwei Fremde, die sich mitten in der Nacht anstarrten. „Wer bist du?“, fragten wir gleichzeitig in die Stille.
Bei näherer Betrachtung jedoch stellte ich fest, dass mein neues Spiegelbild eine gewisse Ähnlichkeit mit mir zu haben schien.
„Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür“, dachte ich, „Möglicherweise bin ich im Schlaf gealtert oder schlafe ich immer noch?“
Ich beschloss mich wieder ins Bett zu legen und den morgigen Tag abzuwarten, um gleich im Morgengrauen Doktor Stein zu besuchen.
„Wenn einer die Antwort weiß, dann er“, tröstete ich mich und machte mich mit diesem beruhigenden Gedanken auf den Rückweg ins Schlafzimmer.
Dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich mich zwar in meiner Wohnung befand, die Wohnungseinrichtung jedoch eine andere war. Die Wohnung war mit teuren und geschmackvollen Designermöbeln eingerichtet. Neugierig betrat ich das Wohnzimmer und betrachtete den Raum. „Wow“, zischte ich als ich den riesigen Flachbildschirm an der Wand entdeckte. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich ein eleganter kleiner Glastisch und eine mit edlem Webstoff bezogene Couch, die an eine Wellnessoase erinnerte.
Auf dem Tisch entdeckte ich ein Buch, das meine Neugier weckte. Ich griff nach dem Buch und las den Titel: Minimax - Der Titel kam mir sofort bekannt vor, denn der Autor des Buches war ich selbst. „Yes!“, freute ich mich und starrte ungläubig auf meinen eigenen Namen, der das Cover des Buches zierte.
Als freier - sehr oft auch arbeitsfreier - Journalist hatte ich bereits mehrmals vergebens versucht ein Buch herauszubringen. Und da stand ich nun – mit meinem eigenen Buch in der Hand. So langsam fand ich an Gefallen an diesem Traum.
Ich begann auf der Innenseite des Umschlages zu lesen: ...ein Bestseller, eines der besten...
„Was machst du dort mitten in der Nacht?“, eine weibliche Stimme durchbrach die Stille und riss mich aus meinen Gedanken.
„Komm zurück ins Bett.“
Wiederum zuckte ich zusammen, machte mich aber schließlich langsam auf den Weg ins Schlafzimmer. Das Buch behielt ich sicherheitshalber in der Hand, da es sich, wenn nötig, zur Verteidigung als Wurfgeschoss eignen würde.
Als meine nackten Füße den weichen Teppich berührten, tastete ich mit meiner linken Hand nach dem Lichtschalter und schaltete das Licht an.
Da zuckte ich zum wiederholten Mal zusammen. Jedoch war es diesmal nicht Schreck, sondern Begeisterung, die mich zusammenzucken ließ.
Eine nackte Blondine saß im Bett und schaute mich verdutzt an.
„Was ist los mit dir, Martin? Was willst du jetzt mit dem Buch? Komm lieber zurück ins Bett und küss mich.“ Das Buch landete auf dem Boden ich landete im Bett.
Dabei dachte ich: „Ich liebe diesen Traum!“
***
Als die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht kitzelten, wachte ich langsam auf und schwebte noch voller Wonne in der Erinnerung meines Traumes. Mittlerweile war es hell geworden und ich öffnete die Augen. Ich erstarrte. Das Schlafzimmer, in dem ich mich befand, war zwar das meine, jedoch moderner und geschmackvoller eingerichtet. Edle Chiffonvorhänge zierten das Fenster und die Wände waren mit Kunstwerken geschmückt.
Die blonde Schönheit war leider verschwunden. Ich sprang aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer, welches, wie auch in der Nacht zuvor, mit teuren Einrichtungsgegenständen ausgestattet war. Der gleiche Flachbildschirm an der Wand, die gleiche Couch, derselbe edle Glastisch. Auf dem Tisch befand sich nach wie vor das Buch, welches meinen Namen trug. Als ich danach griff und es aufschlug, fiel mir eine Notiz vor die Füße:
Martin, du warst wunderbar heute Nacht. Ich liebe Dich. XXX Deine Lara
„Verrückt“, dachte ich, „das ist doch vollkommen verrückt.“ Zum einen, dass dieser Traum über einen so langen Zeitraum anhielt, aber zum anderen auch die Tatsache, dass es mir ununterbrochen darin gefiel.
In meinem „wirklichen“ Leben war ich zwar 11 Jahre jünger - wieso wusste ich jetzt mein Alter? Egal - dennoch bei weitem nicht so erfolgreich. Ich schlug mich Monat für Monat mit kurzen Artikeln und Reportagen durch. Dass ich in diesem Appartement wohnen durfte, verdankte ich nur meiner Schwester. Sie war nach Australien ausgewandert und hatte mir - aus Mitleid - den Schlüssel überlassen. Zumindest fürs Erste.
Nach einem reichhaltigen Frühstück, welches ich mir dank des üppig gefüllten Kühlschranks genehmigen konnte, beschloss ich mehr über meinen Traum und meine Situation herauszufinden. Mittlerweile vermutete ich, dass ich mich in einem sogenannten luziden Traum befand. Über dieses Phänomen hatte ich einst einen Artikel für eine Psychologiezeitschrift verfasst. Es handelte sich hierbei um Träume, deren Verlauf man selbst lenken und somit frei gestalten konnte.
Vorsichtshalber versuchte ich jedoch nicht aus dem Fenster zu springen, um einen Flugversuch zu starten.
Auf dem Wohnzimmertisch entdeckte ich jetzt zum ersten Mal das kleine Glastäfelchen, das sich neben meinem Buch befand. Als ich es berührte, blinkte das Gerät kurz auf und eine liebliche Stimme ertönte: „Guten Morgen, Martin. Was kann ich für dich tun?“
„Ähm, zeig mir alles über Martin Wagner, bitte.“
„Du meinst also über dich?“, erwiderte die Stimme.
„Äh, ja, genau“, antwortete ich verdutzt.
In diesem Moment erhellte sich der Bildschirm des Fernsehers und zeigte eine kurze Präsentation zu meiner Person. Tatsächlich war ich 40 Jahre alt und ein Bestsellerautor. Bei meinem Buch Minimax handelte es sich um einen Lebensberater, der Möglichkeiten aufzeigte, das eigene Leben sowie die Welt mit einfachen Mitteln zu verändern.
Die wunderschöne Lara – ihr wisst noch, die Blondine in meinem Schlafzimmer - war meine Frau. Wir hatten uns bereits vor der Veröffentlichung meines Buches kennengelernt, da sie die Tochter des gleichermaßen berühmten wie auch kontrovers diskutierten Doktor Steins war.
„Was, Lara ist seine Tochter?!“, mit diesem Gedanken verließ ich hastig die Wohnung.
***
Mein Appartement lag nur einige Gehminuten von der Praxis des Doktors entfernt. Auf dem Fußweg musste ich unwillkürlich an meine Bekanntschaft oder wohl eher Freundschaft mit dem Doktor denken.
Ich war 26 Jahre alt als ich den lieben Doktor kennenlernte. Zum damaligen Zeitpunkt war ich Kettenraucher und hatte bereits so ziemlich alles probiert, um mit dem Rauchen aufzuhören. Jedoch ohne Erfolg.
Durch den Artikel eines Kollegen erfuhr ich schließlich von Doktor Stein und seinen doch eher ungewöhnlichen Methoden. Die lange Wartezeit störte mich dabei nur wenig, da sie mir eine Entschuldigung für das Weiterrauchen bot.
Doktor Stein war ein bemerkenswerter Mann, weit über 60 Jahre, kugelrund und kahlköpfig. Er strahlte viel Energie und Lebensfreude aus und gewann sofort mein Vertrauen. Bei ihm fühlte ich mich geborgen und bei jedem unserer Treffen ergriff mich eine friedliche Ruhe und Zuversicht. Geduldig und verständnisvoll hörte er sich mein Anliegen an. Als ich zum Ende gekommen war, ertönte plötzlich sein schallendes Lachen:
„Haha, dann wollen wir mal gemeinsam dem Rauchen ein schnelles Ende setzen!“
„Wie schnell?“, fragte ich neugierig.
„Heute noch“, antwortete er mit einer absolut überzeugten Stimme. „Jetzt, gleich.“
„Ok, klasse“, meine Stimme klang ein wenig skeptisch, doch der Doktor lachte erneut.
Nach einer kurzen Vorbereitungsphase begann er mir diverse Fragen zu meiner Person, meinen Gewohnheiten und meiner Art zu Leben zu stellen. Meinen Antworten hörte er aufmerksam und interessiert an, nickte verständnisvoll und machte sich gelegentlich Notizen. Schließlich legte er seinen Block beiseite und griff nach einem dicken Buch. Der alte braune abgegriffene Ledereinband des Buches ließ darauf schließen, dass es sich um ein sehr altes Buch handelte. Doktor Stein schlug das Buch auf und begann daraus vorzulesen.
Ich kann mich nur noch an den Klang seiner Stimme erinnern, die mich wie eine dichte, dunkle, jedoch warme Wolke umschloss und davontrug, so dass ich in einen Trancezustand verfiel. Auf einmal fand ich mich in einem kahlen und völlig stillen Raum wieder. Die Wände des Raumes waren transparent und er war mit einer unzähligen Menge an Türen ausgestattet. Jede Tür unterschied sich von der anderen, da sie in Farbe, Form und Alter differierten. Als ich mich umdrehte, erkannte ich die Gestalt des Doktors, der mir ein ermutigendes Lächeln schenkte und anschließend ein Zeichen gab ihm zu folgen.
Offenbar war Doktor Stein bereits des Öfteren an diesem Ort gewesen, denn er bewegte sich sicher und zielstrebig durch den Raum. Er führte mich zu einer Tür, die aus milchigem Glas bestand und einen Türknauf aus Edelstahl besaß. Er bat mich hindurchzutreten. Vorsichtig öffnete ich die Tür und ein helles wunderschönes Licht strömte durch den Türspalt hindurch und umgab mich schließlich als ich die Tür vollständig geöffnet hatte. Das Licht war sehr angenehm und seine Wärme durchströmte meinen Körper, wurde allerdings stärker und stärker, bis es mich schließlich dazu zwang die Augen zu schließen.
Als ich meine Augen wieder öffnete, befand ich mich wieder in der Praxis des Doktors. Auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches saß Doktor Stein und sah mich voller Zufriedenheit an. Das alte Buch legte er sorgsam zur Seite und fragte mich freundlich:
„Wie fühlen Sie sich, Martin?“
Diese Frage war gar nicht so leicht zu beantworten, denn obwohl ich nach wie vor in demselben Raum saß, war ich irgendwie verändert. Das spürte ich ganz deutlich. Als ich meinen Körper nach Veränderungen abtastete, spürte ich etwas Spitziges in meiner Hosentasche. Meine Hände ergriffen den rechteckigen Gegenstand und zogen ihn aus der Tasche.
„Richtig, das Rauchen“, beim Anblick der kleinen roten Zigarettenschachtel fiel mir wieder der Grund meines Besuches ein. Doch zu meinem Erstaunen ergriff mich weder das Verlangen noch ließ sich in meinen Gedächtnis die Erinnerung an Zigarettengenuss wiederfinden.
„Ich bin Nichtraucher!“, verkündete ich euphorisch.
„Genauso ist es!“, lachte der Doktor schallend und herzlich.
Fragen Sie mich nicht nach Details. Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, wie er es gemacht hat. War es Hypnose oder gar das magische alte Buch? Er hatte mir es nie verraten.
„Zu Ihrer Sicherheit“, wie er sagte. Tatsache ist, dass ich von diesem Tag an nicht einmal im Ansatz daran gedacht zu hatte, eine Zigarette zu rauchen. Die einzige Information, die der Doktor preisgab, war, dass es sich bei mir wohl um eine besonders geeignete Person für diese Methode gehandelt hätte.
***
Zwei Jahre nach diesem Ereignis erhielt ich einen Anruf des Doktors. Er bat mich, wie bereits einige Male zuvor, an einem kleinen Experiment teilzunehmen. Da ich zum einen zu diesem Zeitpunkt nicht viel zu tun hatte und zum anderen den Doktor mittlerweile sehr gern mochte, sagte ich zu.
So traf ich ihn an dem darauffolgenden Morgen in seinem Labor, welches sich direkt unter seiner Praxis in einem alten Keller befand. Dort bat mich der Doktor auf einem alten verstaubten Ledersessel Platz zu nehmen. Seine Erklärung zum Experiment beschränkte sich auf den Hinweis, ich solle mich entspannt zurücklehnen. Da es nicht das erste Experiment war, machte mich der Mangel an Informationen nicht mehr nervös und ich ließ mich entspannt in den Sessel zurücksinken.
Doktor Stein griff nach einem alten Buch und schlug es auf. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um das Buch meiner Rauchabgewöhnung handele. Jedenfalls sah es genauso alt aus. Er begann mir aus dem Buch vorzulesen, wobei ich mich, wie bei meiner ersten Erfahrung, weder an den Inhalt noch an die Art des Textes erinnern kann. Lediglich die Tonlage seiner tiefen Stimme, die Wärme und himmlische Ruhe sind mir in Erinnerung geblieben.
Blitzartig fiel ich wieder in einen Trancezustand und befand mich wiederum in dem Raum mit unzähligen Türen. Wiederum leistete mir Doktor Stein in diesem Raum Gesellschaft und wählte eine Tür. Diesmal aber gingen wir zusammen hindurch. Durch das helle Licht gelangten wir in einen anderen Raum, der dem vorherigen allerdings sehr ähnlich war. Er war kahl, hell und seine Wände schienen transparent zu sein. Der einzige Unterschied lag in dem Bestand der Türen. Daraufhin wählte der Doktor erneut eine Tür, durch die wir hindurchtraten. Dieses Spiel wiederholte sich bis mich der Doktor vor der dritten Tür bat alleine hindurchzugehen. Das Licht aus dem dahinterliegenden Raum strahlte mir mit solch einer Intensität entgegen, dass ich die Augen schließen musste.
Als ich meine Augen öffnete, saß ich wieder in dem alten Ledersessel, der sich in dem Labor des Doktors befand. Alles schien unverändert. Doktor Stein legte mir seine tellergroße Hand auf die Schulter und lachte. Dann bedankte er sich herzlich und fragte:
„Martin, erinnern Sie sich noch an den Weg? Ich meine, die Reihenfolge der Türen, die wir passierten.“
„Ja. Ja, tatsächlich“, antwortete ich erstaunt, „Ja, Herr Doktor, ich bin mir ganz sicher, dass ich den Weg auch ohne Sie finden würde.“ Ich sah die Türen mit unglaublicher Klarheit vor meinem geistigen Auge, obwohl ich ihnen in meinem Trancezustand nur wenig Beachtung geschenkt hatte.
„Das ist sehr wichtig, Martin“, der Doktor schaute mir tief in die Augen und sein Gesichtsausdruck wurde ernst, „lebenswichtig.“
Ich verstand nicht im Geringsten, was er damit meinte, doch der Weg war wie eingemeißelt in meinem Gedächtnis.
Das war vor einem Jahr und das letzte Mal, dass ich den Doktor gesehen hatte.
Jedoch war ich mir sicher, dass der Doktor mich freudig empfangen und mit der Aufklärung meines Traumes helfen würde.
Ich stand vor der Praxis, die seit dem letzten Besuch unverändert schien. Allerdings trug das Schild eine andere Aufschrift:
Dr. der Quanten-Heilkunde: Lara Stein
„Lara? Wo war ihr Vater? Wo war Doktor Frank Stein?“ Verwirrung und Angst ergriffen mich. Sofort klingelte ich an der Tür.
***
„Da bist du endlich!“, begrüßte mich Lara und gab mir einen Kuss.
„Endlich?“, mein Kopf war wie leergefegt.
„Komm, wir wollen gleich weitermachen.“
„Womit?! Und wo ist dein Vater, Doktor Stein?“
Lara runzelte die Stirn.
„Martin, ist alles klar mit dir?“
„Gar nichts ist klar!“, schrie ich laut. Die Leute auf der Straße starrten mich an.
„Ich glaube, du kommst lieber erst einmal rein“, sagte Lara ruhig und zog mich am Ärmel hinein. Die Praxis war leer.
„Heute ist Sonntag“, erklärte Lara als sie merkte, dass ich mich verwundert im Wartesaal umsah. Dabei inspizierte sie mich ganz genau und setzte eine besorgte Miene auf.
Wir gingen in den Keller hinunter, in dem sich immer noch das alte Labor befand. Es hatte sich nicht verändert. Ich erkannte die schweren alten Massivholzmöbel sowie den abgenutzten Ledersessel wieder. Wie bei meinem letzten Besuch sollte ich auch nun in diesem Platz nehmen. Lara sah mir besorgt in die Augen.
„Martin, was ist los mit dir? Ich merke, dass dich etwas belastet. Du musst mir alles erzählen. Jede Kleinigkeit ist wichtig.“
„Auch Träume?“, fragte ich und schaute sie verunsichert an.
„Alles. Und Wort für Wort, bitte“, erwiderte Lara todernst.
Also erzählte ich ihr alles Wort für Wort und Lara hörte aufmerksam zu ohne mich nur ein einziges Mal zu unterbrechen.
„Bin ich verrückt geworden?“, fragte ich besorgt. „Mir fehlen exakt 11 Jahre meines Lebens. Eine Lücke. Nichts. Kannst du mir das erklären?“
„Beruhige dich, Martin. Es hat alles einen Sinn, glaube mir.“ Lara schaute mir tief in die Augen. „Das kann ich dir versichern.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
„Martin, das hier ist kein Traum. Ich weiß, es klingt unglaublich, aber es ist so.“
Und so begann sie mir ihren Teil der Geschichte zu erzählen. Genau wie ihr Vater war Lara Quantenheilerin. Ihr Vater hatte sehr viele Experimente auf diesem Gebiet angestellt. Außerdem hatte er alte Schriftstücke gesammelt und sich sehr für den Bereich der Alchemie interessiert. Jedoch war der Doktor vor drei Jahren ganz plötzlich spurlos verschwunden. Nach seinem Verschwinden kehrte Lara sofort aus Indien zurück, wo sie in ihrer eigenen Praxis tätig war und forschte. Seitdem untersuchte sie gemeinsam mit mir den Fall des Doktors. Gemeinsam suchten wir nach einer Spur, durchsuchten dabei das gesamte Labor, die Praxis und schauten alle erdenklichen Unterlagen und Patientenakten durch.
Dabei stießen wir auch auf meine Akte, die den Behandlungsverlauf meiner starken Kurzsichtigkeit beschrieb. Lara reichte mir das Papier während sie mit ihren Erklärungen fortfuhr. Ungläubig betrachtete ich das Dokument und versuchte mich an die Behandlung zu erinnern – vergebens.
„Damals lernten wir uns kennen“, erklärte Lara mit liebevollem Ton und legte mir sanft ihre Hand auf meine Schulter.
Nun waren wir bereits seit einem Jahr auf der Suche nach einer Lösung des unerklärlichen Verschwindens des Doktors, jedoch ohne Erfolg.
„Bis heute“, sagte Lara und ergriff nun meine Hand. „Martin, mein Vater lebt. In einer anderen Dimension, aber er lebt! Er hat dich aus einer anderen Dimension zu mir geschickt, verstehst du?“
„Aber, das ist unmöglich!“
„Du bist so süß! Du denkst wie die meisten Menschen“, sie lächelte und küsste mich. „Du hast jetzt zwei Leben, Martin. Zwei, von denen du etwas weißt. Jedoch existieren noch viel mehr Varianten deines Selbst, unendlich mehr. Wir selbst erschaffen durch unser Bewusstsein eine der unendlichen Möglichkeiten und machen sie somit für uns real.“
Lara sah aufregend schön aus und ich spürte, wie sehr ich sie liebte.
„Martin, wir haben nur sehr wenig Zeit um zu handeln und meinen Vater zurückzuholen. Du kannst dich doch noch an die Experimente meines Vaters erinnern?“
„Ja, das kann ich. Auch wenn mir ihr Sinn stets ein Rätsel war.“
Lara schmunzelte. „Mein Vater stieß in einem sehr alten Buch auf eine Methode, die es ihm ermöglichte sich zwischen unterschiedlichen Dimensionen seines Selbst und seiner Umgebung zu bewegen. Nach und nach gelang es ihm immer besser seine eigene Person sowie sein Umfeld zu verändern und diese Veränderungen durch die Auswahl bestimmter Dimensionen bewusst zu steuern. So war es ihm beispielsweise möglich dich von deiner Kurzsichtigkeit zu heilen. Er wählte eine andere Variante deines Selbst aus einer der vielen Dimensionen.“
„Das heißt, es gibt mich mehrmals? Dann ist das alles also kein Traum, sondern mein Bewusstsein hat sich auf eine andere Variante meines Selbst fixiert?“
„Ganz genau, mein Vater fand einen Weg, sich zwischen den verschiedenen Varianten, die parallel existieren, zu bewegen. So gibt es einen Martin der raucht, einen der kurzsichtig ist, einen den ich liebe und einen der schon Tod ist. Martin! Das ist die Lösung. Mein Vater wählte bei einer seiner Reisen eine Variante, in der er schon gestorben war, so dass er nun nicht mehr zurück kann. Du hast mir doch erzählt, dass du mit ihm unterschiedliche Dimensionen besucht hast. Du musst den Weg zurück in eine dieser Dimensionen finden und ihn warnen!“
Ich gab mir sehr viel Mühe um das alles zu verstehen, doch in meinem Kopf drehte es sich.
„Du meinst diese Türen? Waren das die Zugänge zu den unterschiedlichen Dimensionen?“
„Ja, kannst du dich noch an diesen Weg erinnern?“
„Ich glaube schon“, antwortete ich mit einem mulmigen Gefühl.
Ich beobachtete Lara, wie sie hastig eine Schublade aufzog und das alte Buch, welches ich das letzte Mal in den Händen meines alten Freundes gesehen hatte, hinauszog. Plötzlich erstarrte sie mit dem Buch in der Hand und schaute mich traurig an.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wirst du das für mich tun?“ Ihre Augen glänzten. Sie wusste, dass es bei der Wahl einer anderen Dimension keine Garantie für unsere Liebe gab. Auch meine Augen füllten sich mit Tränen und ich küsste sie zärtlich zum Abschied. Ich wusste nicht mehr was real und was Fantasie war, aber ich wusste mit Sicherheit, dass ich in Lara verliebt war und alles tun würde, um diese Frau glücklich zu machen.
„Lies bitte vor“, sagte ich.
***
Mit ruhiger Stimme las Lara aus dem Buch vor und wie bereits bei meinen letzten Erfahrungen umhüllte mich Wärme und Zufriedenheit wie Nebel und durchströmte schließlich meinen ganzen Körper. Kurz darauf befand ich mich in dem kahlen Raum, der mir noch aus meiner Erinnerung bekannt war. Lara hatte ihn als Raum der Möglichkeiten bezeichnet. Eine Hand ergriff die meine. Als ich aufblickte, sah ich in Laras strahlenden Augen, die mich zuversichtlich anblickten.
Schließlich schaute ich mich in dem Raum um und musterte die unzähligen Türen. Wider all meiner Befürchtungen erkannte ich sofort die Tür, durch die mich Dr. Frank Stein geführt hatte. Ich öffnete die Tür und sofort strahlte uns ein helles Licht entgegen. Lara griff fester nach meiner Hand und ich erwiderte ihren Druck. Gemeinsam betraten wir den nächsten Raum und das Licht wurde langsam schwächer, so dass sich unsere Augen entspannten und die neue Umgebung betrachten konnten. Der Raum glich dem ersten bis auf die Ausstattung der Türen. Auch in diesem Raum gelang es mir mühelos die gesuchte Tür zu finden. Wir passierten auch diese Tür gemeinsam und befanden uns, wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, in dem letzten Raum. Sogleich fiel mein Blick auf die schwere dunkle Holztür und ich erkannte ihre filigranen Holzschnitzereien an ihrem äußeren Rand wieder. Es handelte sich dabei um Blumenranken, die sich um feine Äste schlangen.
Da ich es nicht ertragen konnte Lara ein letztes Mal zu sehen, drückte ich ihre Hand noch fester und machte mich auf den Weg zur Tür. Beim Öffnen dieser Tür strahlte uns ein so helles Licht entgegen, dass ich sofort die Augen schließen musste. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Laras Hand aus meiner glitt. Verzweifelt versuchte ich sie fest zu halten, doch ich verlor immer mehr den Halt und sie schien sich aufzulösen.
„Lara!“, schrie ich verzweifelt.
„Geh weiter“, ertönte Laras sanfte Stimme, wie aus weiter Ferne. Dann wurde es still und das Licht verschwand.
Vorsichtig öffnete ich die Augen und erkannte das Labor des Doktors. Wie bereits vor meiner Reise in den Raum der Möglichkeiten befand ich mich in dem alten Ledersessel.
„Lara“, schoss es mir sogleich in den Kopf und ich schaute mich panikerfüllt im Raum um.
„Alles in Ordnung, Martin?“
Auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches saß Doktor Frank Stein, der mich einen kurzen Moment lang mit einem durchdringenden Blick beobachtete. Jedoch entspannte sich sein Gesichtsausdruck sogleich, so dass ich in sein gewohnt freundliches Gesicht sah.
Aufgeregt stammelte ich: „Doktor ich habe wichtige Informationen an Sie...aus der anderen Dimension...von ihrer Tochter Lara.“
Das Gesicht des Doktors blieb unverändert freundlich.
„Erzählen Sie mir davon, Martin“, erwiderte er ruhig und lächelnd.
Ich warnte den Doktor vor der zukünftigen Reise und versuchte die Erklärungen Laras so genau wie möglich wiederzugeben. Doktor Stein hörte aufmerksam zu, wobei er das Lächeln die ganze Zeit über beibehielt. Ich pausierte.
„Übrigens wusste ich gar nicht, dass Sie eine Tochter haben“, fuhr ich schließlich fort. Die Augen des Doktors erhellten und das Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Lara!“, rief der Doktor in Richtung Tür.
Kurz darauf ging die Tür auf und ein blonder Frauenkopf schaute hinein.
„Hast du mich gerufen, Vater?“
„Ja, Lara. Darf ich dir vorstellen, mein besonderer Patient und Freund, Martin Wagner.“