Der Traum
Der Traum
Sommer im Freien ist das Schönste. Die Natur steht in ihrer wundervollsten Pracht. Alles blüht, alles grünt, Seen locken zum Baden, abends lange draußen sitzen bei einem Wein oder einem Bier. Sterne gucken, dabei auf einer Wiese liegen und tief einatmen. Alles zusammen genommen einfach nur wohl fühlen, besonders wenn man Ferien hat und sich gehen lassen kann.
Wie die meisten meiner Freunde, ging ich noch in die Schule. Wir waren eine kleine Clique mit 12 Mann, wirkliche Freunde? – das liegt bei jedem selbst, jedenfalls verstanden wir uns recht gut. Zickereien gab es natürlich auch, aber wo ist das nicht der Fall? Alles in allem kamen wir gut miteinander aus. Wir hatten die verschiedensten Charaktere bei uns, Musiker oder solche die sich dafür hielten, Spaßmacher, Mitläufer die man erst entdeckte wenn sie aufstehen mussten um zur Toilette zu gehen und ganz normale Leute. Die jüngsten von uns waren erst in der 8. Klasse, die ältesten hatten bereits ein Auto und waren bei der Armee oder machten grade ihr Abitur. Alles in allem ein bunter Haufen.
Wenn es irgendwie ging, waren wir jedes Wochenende zusammen. Wir saßen beieinander und hörten Musik aus einem grenzwertigem Kassettenrekorder, machten ein Feuerchen, tranken mal mehr und mal weniger und philosophierten über Dinge die uns geradewegs einfielen. Ab und zu zelteten wir auch. Ein besonderes Gefühl sich einfach in die freie Natur zu hauen und völlig ungestört zu sein, eben unter sich.
Eines Tages kam ein Freund mit der Idee, doch mal in der Nähe eines Dorfes zu zelten, welches nach und nach von seinen Einwohnern im Laufe der Jahre verlassen wurde. Ein näherkommender Kreidetagebau war der Grund dieser „Flucht“. Es standen dort nicht mehr als vier bewohnte Häuser, die sich an einer Kopfsteinpflasterstrasse in ziemlicher Entfernung zueinander anschmiegten. Dazwischen immer mal wieder ein leerstehendes Haus. Diese Dinger sind allein schon gruselig aber eines von ihnen hatte einen besonderen Charme. Es lag etwas abseits der Straße und war durch Bäume und Sträucher schon fast verdeckt. Ein beinahe zugewachsener Weg führte kerzengerade darauf zu. Aber alte Autos konnte man auch dazu benutzen, die sich alles einverleibende Natur in ihre Schranken zu verweisen. Und so fuhren wir geradewegs den Weg ahnend durchs Gestrüpp zu dem Platz, der immer in meiner Erinnerung bleiben sollte. Endlich angekommen, entstiegen wir den Autos und befanden uns auf dem ehemaligen Hof. Dinge sind vergänglich und das Haus mit seinen Ställen und Schuppen war es auch. Ein ganz besonderes Flair, ein besonderer Geruch der in der Luft hing. Der Geruch von Altem. Geschichte zum Greifen nahe! Aber welche Geschichte hier zum Greifen nahe war, sollte ich noch früh genug erfahren.
Nach einer kurzen Visite des alten Gebäudes führte uns unser Freund vom Haus weg in ein Dickicht aus Gestrüpp. Die Frage drängte sich mir geradezu auf, wo diese Reise wohl enden solle. Aber ich wurde positiv überrascht. Wir betraten ungefähr 40 Meter weiter eine wunderschöne Lichtung. Zu unserer Linken war eine kleine Öffnung zwischen den Büschen wodurch ich ein Feld erkennen konnte. Geradewegs zu die Lichtung, vielleicht zehn Meter breit, dahinter Dornenbüsche. Zur Rechten ein kleiner Augenöffner. Ein wunderschöner See, der sich als Heimat einen alten Kiestagebau ausgesucht hatte. Das gegenüberliegende Ufer ragte bestimmt 30 Meter in die Höhe, von unserer Seite aus waren es kaum drei Meter.
Die Zelte wurden sofort aufgebaut, die Feuerstelle war schnell errichtet, das Wochenende konnte beginnen.
Den genauen Ablauf dieses Tages zu schildern würde zu lange dauern. Kurzum, einige badeten, dann saßen alle zusammen, tranken Bier oder sonstiges Zeug, aus dem Hintergrund Musik aus dem besagten Kassettenrekorder, den ich mittlerweile schon fast lieb gewonnen hatte auch wenn seine Qualität eher danach verlangte, ihm eine würdige „See-Bestattung“ mit einem einfachen Handwurf zu ermöglichen.
Wir lachten sehr viel an diesem Abend unter Sternen, alleine in der Natur, alles pechschwarz um uns herum, das verlassene Haus immer im Hinterkopf. Ein wenig ängstlich war mir schon bei diesem Gedanken.
Irgendwann kam dann die Zeit, die immer bei solchen Treffen und Zusammenkünften am Lagerfeuer kommt, es wurden Gruselgeschichten ausgepackt, ein jeder wie er konnte. Der eine konnte gut, der andere weniger und schaffte uns eher zum Lachen zu bringen oder einfach mit den Augen zu rollen. Dann fing unser Freund an eine Geschichte zu erzählen die sich auf diesen Ort bezog. Eigentlich war dies gar keine Gruselgeschichte, eher ein Tatsachenbericht so seine Worte. Er kannte sie von seinem Vater und dieser wiederum von Seinem. Er fing damit an, dass der See neben uns, als das Dorf noch Einhundert oder mehr Einwohner hatte, gerne von den Kindern im Winter zum Schlittschuh fahren benutzt wurde. Es muss in den 1940er Jahren gewesen sein, als sich ein paar Freunde aufmachten, um eben diesen Winterspaß zu genießen. Es war saukalt an diesem Tag und jeder war dick eingepackt in irgendwelchen Klamotten. Kleine Schlittschuhe um den Hals gehängt, so ging es zum See. Schnell an die Füße mit diesen Dingern und rauf aufs Eis war der einzige Gedanke der Freunde. Niemals in ihrem Leben waren sie so ausgelassen wie heut und niemals wieder waren sie es seit jenem Tag auf dem Eis. Sie veranstalteten kleine Wettrennen, drehten ihre Kreise, purzelten hin und standen wieder auf. Glücklich waren die Freunde trotz dieser schweren Jahre, überglücklich und unbekümmert. Niemand achtete auf die kleine Risse die sich in der Mitte bildeten. War das Eis doch noch nicht so fest? Es war Ende Dezember! Aus den kleinen Rissen bildete sich bald ein größerer der mit ungeahnter Schnelligkeit auf die Freunde zuraste. Seine Zick-zack-Bewegungen sahen aus als wäre er unschlüssig wen er sich holen wolle „Diesen da! – nein diesen – oder doch den anderen?!“ Und dann hatte er sein Opfer erreicht. Eis brach unter dem Jungen, Eis flog durch die Luft, Wasser spritzte, Stimmen riefen und schrien. Nach wenigen Sekunden war alles vorbei. Kleine sich am Eis krallende Hände verloren die Kraft, sanken ganz langsam hinab…hinab in den eiskalten Tod. Die traumatisierten Freunde erreichten das Ufer und Tränen standen ihnen in den Augen. Noch lange sahen sie auf das Eis hinaus und auf das Loch in dem kurz zuvor einer von Ihnen verschluckt wurde, verschluckt von der Kälte, vom eisigen Wasser. Niemals wurde der Junge gefunden. Er lag noch immer dort unten, wo auch immer in der Dunkelheit des tiefen Sees…bis heute und er wird auch noch da liegen, wenn sich keiner mehr an ihn erinnert.
Danke für die schöne Geschichte dachte ich einen Moment später. Ich mochte zwar das Mystische aber dies war anders. Ein Junge bricht im Eis ein und stirbt – passiert jedes Jahr. Aber der Gedanke daran er liege ein paar Meter neben mir auf dem Grund des Sees, war etwas zu viel. Genauso gut hätte ich mein Zelt auf dem Friedhof aufschlagen können. Der Abend war für mich gelaufen. Die anderen fingen wieder an lustigere Dinge zu erzählen oder einfach nur blöd zu quatschen. Ich lachte zwar mit, aber es war mehr gespielt. Die Geschichte ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Gegen zwei Uhr wurden alle langsam ruhiger und Müdigkeit stellte sich ein. Jeder krabbelte in sein Zelt, die Glut des Feuers glimmte noch und dann wurde es ruhig. Ich schlief komischerweise sehr schnell ein und auch zugegeben sehr gut. Dann kamen die Träume. Ihr wisst wie sie sind. In den meisten Fällen der reinste Blödsinn, sehr befremdlich aber zuweilen auch schön. Dieser Traum war es nicht, er war anders. Ich betrachtete eine weiße Winterlandschaft die halb im Nebel lag. Ich spürte die Kälte, ich konnte sie wirklich spüren! Schneebedeckte Bäume, schneebedecktes Gestrüpp, grade vor mir ein zugefrorener See mit steilem Ufer an einer Seite, etwas flacher an der anderen. Ich stand am flachen Teil und blickte auf das Eis. Den Schock als ich das Loch in der Mitte des Sees sah und die gesplitterte Eisoberfläche, konnte ich im Traum fühlen, denn ich wusste wo ich war. Kennen Sie das wenn man im Traum leicht Panik bekommt? So ging es mir grade. Ängstlich schaute ich umher, die Stille war bedrückend, richtig dumpf. Eine Zeit lang passierte nichts und ich fing regelrecht an die Umgebung zu studieren. Dann plötzlich traute ich meinen Augen nicht mehr, oder soll ich sagen ich traute dem Traum nicht mehr? Es war alles so real auf einmal, das Gefühl mit inbegriffen. Am anderen Ufer stand er da, der Junge von damals, der Junge den der See zu sich geholt hatte. Seine Kleidung war komplett durchnässt, die Glieder steif, Hände und Gesicht kreidebleich, und die kleinen Schlittschuhe baumelten um seinen Hals nach vorne herab. Ein Gefühl von Abscheu und Ekel überkam mich. Mit ausdruckslosem Gesicht schaute er auf das Loch in der Mitte des Sees bestimmt einige Minuten, so kam es mir jedenfalls vor. Ich wollte wegrennen aber wohin rennt man in einem Traum? Er starrte auf dieses Loch. Fast hätte ich meinen können, dass sein Gesicht irgendwie traurig aussah doch als er es langsam hob und auf mich richtete, erkannte ich keinen Ausdruck darin. Es war das Gesicht eines Toten. Kalte Augen bohrten sich in meinen Kopf, trafen mich, ich verfiel in größere Panik, hatte Angst, wollte weg aber ich konnte nicht. Ich musste ihn mir ansehen. Dann setzte er ein Bein nach vorne, zog das andere hinter sich her und langsam, sehr langsam kam er auf mich zu. Er schlürfte über das Eis, näher, noch näher. Ich weinte, weinte im Traum, wollte schreien aber nichts passierte. Näher, näher! Noch zehn Meter, noch fünf … er hatte mich fast erreicht. Sein kleiner steifer Körper bewegte sich halb kriechend, halb kletternd den kleinen Hang zu mir hoch. Und hört es sich bescheuert an wenn ich sage, ich konnte ihn riechen? Der Geruch von Altem. Geschichte zum Greifen nahe! ICH war zum Greifen nahe. Ich stand ihm gegenüber und sah in seine toten Augen, sein aufgedunsenes bleiches Gesicht, keine Regung, kein Geräusch, Stille, Nerven zerreißende Stille. Ich fühlte mich genauso tot, fühlte die Kälte. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnellte sein steifer Arm auf mich zu und ich schrie, ich konnte schreien! Als ich mit einem Schreck aufwachte und die letzten Töne meines Schreies noch in der Luft lagen, wusste ich sofort wo ich war. Ich war im Zelt. Mein Blick richtete sich sofort zum offenen Reißverschluss und ich hätte schwören können und würde es noch immer, dass eine kleine weiße Hand ins Dunkel der Nacht hinausschnellte.
Was mir hier passiert ist, werde ich nie verstehen, möchte vielleicht auch gar nicht, dass ich es verstehe. Es hat mein Leben von Grund auf verändert. Ich erzählte nie jemandem davon und versuchte mir nie etwas anmerken zu lassen. Ich versuchte einfach ein ganz normales Leben zu führen.
Das alles ist nun schon mehr als 20 Jahre her. Ich liebe die Natur nach wie vor, liebe es mit meiner kleinen Tochter durch die Wälder zu spazieren, die ersten Frühlingsdüfte einzuatmen und zu sehen wie alles wieder zu Leben erwacht, der sommerlichen Hitze durch ein Bad im nahe gelegenen See zu entfliehen, im Herbstlaub zu spielen und uns gegenseitig damit zu bewerfen und Laubburgen zu bauen in denen sie sich immer versteckt, Schneeballschlachten und durch die weißen Winterwälder zu spazieren. Es gibt kein größeres Glück auf Erden als das fröhliche, unschuldige Gesicht meiner kleinen Tochter, ihr Lachen, ihre Lebensfreude, ihre Unbeschwertheit.
Doch dann sehe ich ihn in der Ferne. Er steht dort und starrt mich an. Er starrt mir direkt ins Herz, starrt mir in den Kopf mit seinen kalten Augen, keine Bewegung, kein Zucken der Lider, die Augen auf mich gerichtet. Ich kann seinem Blick nicht standhalten. Nie! Seine nassen Kleider kleben an seinem steifen Körper, die Lippen blau, das Gesicht und die Hände weiß wie der Schnee. Keine Bewegung, kein Zucken. Die kleinen Schlittschuhe um den Hals gehängt, so steht er da. Dann hebt er seine rechte Hand und winkt mir zu. Die kleine weiße Hand bewegt sich hin und her, langsam, langsam. Sein Gesicht hält mich im Bann, ich kann nicht wegsehen. Und dann erkenne ich, oder ich bilde es mir ein, ein Lächeln. Die kleinen Mundwinkel gehen sanft nach oben, er lächelt und winkt mir zu. Ich schaffe es meine Augen zu schließen. Wird er weg sein wenn ich sie öffne? Eine Träne fließt über meine Wange, heiß und kalt zugleich. Meine Tochter fragt: „Mutti, was´n los?“ und ich antworte: „Mama träumt nur vor sich hin.“