Der Traum
Er wußte nicht, wo er sich befand. Er wußte nicht, warum das so war. Er wußte nicht, seit wann das so war. Er wußte nur eines: seine Welt existierte nicht mehr, keine Menschen, keine Umgebung, kein gar nichts. Im Grunde konnte er auch nicht sicher sein, daß er selbst noch existierte, denn auch seine Sinne funktionierten nicht mehr, kein hören, kein sehen, alles nur schwarz und gefühllos, selbst seinen Körper fühlte er nicht. Nur auf eines konnte er sich noch verlassen: sein Bewußtsein lebte, er hörte sich selbst denken, er war sich seiner bewußt, also konnte er nicht tot sein, aber alles andere blieb ein Rätsel.
Er konnte nicht sagen, wohin die Welt verschwunden war. Er konnte sich jedoch genau an den Tag erinnern, an dem die Welt verschwand: Ein ganz normaler Tag, ein ganz normaler Besuch am Grab seiner Tochter, ganz normaler Sonnenschein. Nichts ungewöhnliches, keine Vorwarnung. Dann mußten sie ihn geholt haben, denn plötzlich und meinem einem Schlag verschwand seine Umgebung und mit ihr sein Körper. Er vermochte ihn nicht mehr zu spüren, konnte mit ihm nicht mehr sehen und nicht mehr hören. Nur seine Gedanken hörte er noch, sonst nichts. Es gab zwei Gründe, warum er nicht glaubte tot zu sein. Einmal, weil er noch träumen konnte. Er war der Ansicht, daß man weder im Himmel, noch in der Hölle träumen würde, zumindest nicht ausschließlich. Zum anderen gab es die Schmerzen. Wenn er nicht träumte, bestand sein Dasein aus Schmerz.
Der Schmerz existierte ständig, gleichmäßig und allgegenwärtig, er überfiel seinen ganzen Körper, jedes Organ, jeden Knochen, jeden Winkel. Das fand er sehr merkwürdig: Wieso spürte er seinen Körper nicht, aber den Schmerz?
Er fand keine Antwort, konnte keine finden, weil der Schmerz alles beherrschte, sein Hirn verkleisterte, und das Nachdenken fast unmöglich machte, ein Gedanke brachte zwei zusätzliche Schmerzen und er verfügte nicht über die Kraft, so viele Schmerzen zu bewältigen. Er mußte sich seine Überlegungen gut einteilen. Der Schmerz wäre unerträglich gewesen, schon allein weil er sich nicht bewegen, nicht weglaufen, keine Tabletten nehmen, keinen Arzt rufen konnte, denn eigentlich war er ja körperlich gar nicht mehr da, konnte dem Schmerz nicht weglaufen, mußte ihn unbeweglich aushalten.
"Wäre unerträglich gewesen" deshalb, weil der Schmerz, der ständig versuchte, ihm das Gehirn zu verbrennen, ihm nicht überallhin folgen konnte. Es gab Hoffnung, sogar Rettung. Die Hoffnung hieß Traum. Denn wenn er träumte, gab es keinen Schmerz mehr, und er träumte sehr viel; und wenn er aus den Träumen zurückkehrte, träumte er davon, zu träumen. Meistens gelang es ihm, den Traum herbei zu träumen. Fast immer träumte er dann von früher. Von seiner Jugend, als er beliebt und bekannt war in seiner Straße und das hieß etwas, denn seine Straße hatte 345 Hausnummern. Auch seine Frau kam in den Träumen vor, jede Kleinigkeit aus zweiundzwanzig Jahren Ehe kam vor und immer empfand er es als schön. In gewisser Weise verlief sein Leben jetzt schöner als früher, denn er lebte sein Leben in seinen Träumen wieder und wieder mit aller Zeit und Muße, genoß die glücklichen Phasen, übersprang die weniger glücklichen und nie träumte er von dem größten Unglück seines Lebens, nie von den dunklen Jahren.
Das alles machte den unerträglichen Schmerz erträglich, weil er wußte, daß der Schmerz nichts weiter darstellte als eine Art Pause zwischen zwei Träumen und er glaubte an die Weisheit seiner Großmutter, die ihm früher beigebracht hatte, daß man für jeden glücklichen Augenblick eine Rechnung zu begleichen hätte. Nun, insofern fand er das, was mit ihm geschah, angemessen, wenn er auch nicht wußte, wie es zustande gekommen war.
Da er keinen Anhaltspunkt für den Faktor Zeit finden konnte, schätzte er die Zeit, die er mit träumen verbrachte, einfach mit "lange". Zumindest fand er Zeit genug, sein Leben unzählbar oft zu durchleben. In letzter Zeit jedoch mischten sich in seine Träume neue, andere Träume, die mit seinem Leben nichts zu tun hatten, ja stellenweise völlig unverständlich waren und mehr und mehr bedrohlich wurden. Er träumte von jungen Frauen in weißer Kleidung, die um ihn herum standen und sich an ihm zu schaffen machten, er träumte von Schläuchen, die aus ihm herauskamen, von unbekannten Männern, auch sie in weiß gekleidet, aber mit Kugelschreibern und Apparaten bewaffnet. Alle besuchten sie ihn und beobachteten ihn, stumm und kalt.
Eines Tages zerriß der Traum, in dem er gerade voller Freude die Taufe seiner einzigartigen Tochter erlebte, unvermittelt und brutal und er träumte statt dessen plötzlich von zwei Männern, einer in weiß wie all die anderen in den nicht bestellten Träumen und einer in schwarz. Sie standen an seinem Bett und sprachen über ihn. Wieso lag er in einem Bett? Wo war das, wie war er da hin gekommen? Wieso redeten die zwei nicht mit ihm? Keine Antwort, dies war ein Traum, in dem er nicht mit den anderen Beteiligten sprechen konnte. Ihm blieb nur das zuhören. Und was er hörte, verstand er nicht, er spürte nur dumpf, daß eine Bedrohung in den Worten steckte. Er hörte nur Fetzen wie "keine Reaktion", "da ist nichts mehr", "es ist besser für ihn" und "Der schreit immer nur vor Schmerz". Was war denn das für ein Traum? War er etwa nicht allein? Was machten diese Männer in seinem Traum? Wußten sie nicht, daß sie ihn störten? Dann hörte der Traum auf, der Schmerz kehrte zurück, schlimmer als je zuvor, alles kreiste, knirschte und bohrte in ihm. Er spürte ganz deutlich, wie sein Geist an den Rändern abplatzte, wie er sich langsam auflöste. Es ging so schnell, erreichte sein Innerstes, keine Zeit mehr für einen letzten Gruß an seine Träume, an seine Lieben, an sein Leben. Sein Innerstes zerlegte sich in Stücke und er konnte an nichts mehr denken. Der Schmerz hörte erst in diesem Moment auf und mit ihm hörte alles auf.
Der Richter und der Arzt sahen unbewegt zu, wie das Mittel seine Wirkung tat. Dies war seit Inkrafttreten der zweiten Reform des "Gesetztes zur Kosten-neutralen Erlösung unheilbar Kranker über 65" ihr eintausendster Erlösungs-Fall und heute abend würden sie einen trinken gehen.