Der Traum
Ich will Euch von meinem Traum erzählen. Wichtig ist es dabei zu wissen, daß man Träume nur direkt nach dem Aufwachen zu erzählen beginnen kann. Denn sobald man damit begonnen hat, das Frühstück zu sich zu nehmen, sobald man den ersten Bissen einer z.B. mit Käse belegten und Marmelade bestrichenen Schrippe durch die zermalmende Bewegung des Unter- sowie Oberkiefers seinem unausweichlichem Schicksal zuführt, so versenkt man gleichzeitig auch den Traum. Denn Träume lassen sich nur mit nüchternem Magen erzählen. Jedwede Form der Nahrungsaufnahme - belegte und bestrichene Schrippen genauso wie ein Müsli mit frischen Apfelstückchen - führt zu ihrer Auflösung, ja zur unausweichlichen Zerstörung. So wie der Speichel langsam beginnt, die Schrippe in seine elementaren Bestandteile zu zersetzen, genauso macht es der durch die Nahrungsaufnahme neu erwachende Geist auch mit dem Traum. Der Traum löst sich in seine einzelnen Bestandteile - zwar nicht in Kohlehydrate wie die Schrippe - aber doch in einige Bilder, in einige Gesprächsfetzen, ja manchmal sogar in Empfindungen. Und genausowenig, wie sich Kohlehydrate im Mund wieder - so mir nichts Dir nichts - zu einer Schrippe zusammenfügen, ja genausowenig ergeben die Bilder, Gesprächsfetzen und sogar die Empfindungen wieder den eigentlichen Traum. Ich spreche nämlich vom ursprünglichen, vom wahrhaftigen Traum. Der ist etwas Ganzes, etwas Vollständiges und mehr als die Summe einzelner, separater Erinnerungen.Wenigstens vor dem Frühstück.
Es ist jetzt 10 Uhr am Morgen und ich sitze am Düsseldorfer Flughafen. Gefrühstückt habe ich noch nicht - und das obwohl ich die ganze Nacht statt zu schlafen, gelesen habe. Doch - ein Croissant gab es im Intercity Night von Hamburg nach Düsseldorf. Das muß so auf der Höhe von Essen gewesen sein.
Soll ich den Traum doch erzählen?? Ich sag´s ja nur ungern, aber: ich habe heute doch schon Nahrung zu mir genommen!!! Ist der Traum jetzt schon zersetzt? Hat das Croissant den Traum schon seinem unausweichlichem Schicksal zugeführt??? Andererseits - was soll ein so kleines mit nur einem wenig Schokolade gefüllte Croissant schon schaden?
Hmm, über das klitze-kleine, in Zellophan frischgehaltene Croissant könnte man doch schließlich hinwegsehen. Ich fange jetzt also an zu erzählen. Was soll das Croissant schon groß anrichten? Höchstens den Zusammenhang zwischen den geträumten Bildern, den Gesprächsfetzen und sogar den Empfindungen nur ein bißchen stören. Kleine Croissants können nur ein kleines Wenig stören. Was soll´s also? Ich will jetzt anfangen zu erzählen.
ABER DIESES GESCHÄFTIGE TREIBEN AN DIESEM ORT HIER, dem Abflugschalter - nein ich muß genauer sein: den 36 Abflugschaltern in dieser Halle. In dieser Halle, die mich mehr an eine erste Anlaufstelle für Asylanten als an einen Flughafen erinnert. Mintgrüne Rohre ziehen sich an der Decke und an den Wänden entlang, der Fußboden ist pflegeleicht, billig und grau, ständig werden Busse mit neuen Menschen herangekarrt und ihrem unsicheren Schicksal in der Halle überlassen. Fußbälle fliegen durch die Gegend und es gibt auch eine Raucherecke. Ein Stimmenwirrwar - mehrsprachig und unkoordiniert - es ist eine Geräuschkulisse wie im Schwimmbad - es h-a-l-l-t.
Mal ist es knackevoll, dann leert es sich wieder. Gerade ist es angenehm ruhig und leer - wenn da nicht die Frau mit den bunten Klamotten und dem zehnjährigen Jungen neben mir wären. Mann, Mann, Mann, Mann, Mann. Was machen die für einen Bohey. Die Beine habe ich übereinandergeschlagen, so liegt der Papierblock besser auf und ich kann in entspannter Haltung schreiben. Ab und zu, nein, sogar häufig, muß ich aber den Fuß des aufliegenden Beines in Richtung Sitzbank drehen. Halt wegen der Leute, die mit ihrem Gepäck-Buggy unbedingt an meinem Fuß vorbei müssen (Es gibt doch soviele andere Füsse, an denen sie vorbeikönnten). Hmm.
Ach ja. Was den Traum angeht: all das, dieser Bohey, das ständige Wegknicken Müssen des Fußes, die Frau mit den bunten Klamotten, der früh-pubertierende Rotzbengel neben mir - all das hat meinen Traum langsam aber konsequent vollständig zersetzt. Mehr als es ein opulentes Frühstück oder ein klitzekleines Croissant im ICN von Hamburg nach Düsseldorf das hätte tun können!!! So kann ich also doch nicht von meinem Traum erzählen. Schade.
Also, ich hoffe, daß die Zeit noch für einen Kaffee reicht. Und dann geht es auf die abgelegenste, ruhigste, komfortabelste Finca von ganz Mallorca. Da kann man sich bestimmt auch besser an seine Träume erinnern!
[ 07.06.2002, 23:27: Beitrag editiert von: clayton ]