Der Traum
Ich öffne die Augen und richte mich auf. Bedeckt mit Blättern, um mich herum ein Wald mit alten hohen Bäumen. Von Blättern begraben aufgewacht, ich muss schon lange hier gelegen haben. Ich schaue hoch, sehe Blätter in der Luft kreisend langsam herunterfallen. Die Wolken sind grau, leicht schwarz, es riecht nach Abend. Ich schaue umher, weiss nicht wo ich bin. Ich rufe um Hilfe, höre meine Stimme nicht.
Neben mir raschelt es, ich blicke zu Boden. Unter einem Haufen von Ahornblättern kriecht behutsam eine Schildkröte hervor. Sie sieht schon alt aus, muss an die 100 Jahre alt sein. Auf ihrem Panzer tragen einige Platten regenbogenartige Farben, die je nach Sichtweise wechseln. Sie sieht mich traurig an. Ich knie mich zu ihr nieder und streichle sie . Ihre Platten fangen nun an zu leuchten. Sie lächelt mir mit silbernen Tränen in den Augen entgegen. Nun kommt von allen Seiten her Musik. Ich kenne dieses Lied. Es ist „My Weakness“ von Moby. Sie fängt an zu gehen. Ich folge ihr.
Barfuss, bekleidet mit Unterhosen und einem T-Shirt folge ich dieser wunderschönen Schildkröte durch den dunklen Wald. Wohin führt mich dieses Wesen? Gemeinsam stapfen wir durch dieses grüne, traurige Paradies. Nach einiger Zeit erreichen wir einen Pfad. Ich weiss immer noch nicht, wo wir sind. Es grollt leise am Himmel, aber Tropfen sind noch keine zu spüren. Die Luft ist kühl und feucht. Meine Nase ist kalt, ich spüre den feuchten Boden an meinen nackten Füssen. Es geht etwas bergauf, man spürt, dass nach dieser Steigung uns etwas erwartet.
Wir erreichen das Ende der Steigung und kommen in einen Nebel, der aber nur ganz unwahrscheinlich dünn ist. Da erscheint vor uns ein Schimmel mit silberner Mähne. Er steht genau auf einer Wegkreuzung, wohin auch unser Pfad führt. Er sieht sehr geheimnisvoll aus in diesem leichten Nebelschleier. Als wir bei ihm ankommen, fängt er an zu sprechen: „Wo deine Gedanken erklingen, wird die Zeit mit dir singen. Du kannst immer wählen, welchen Weg du gehen willst.“ Ein leichter Wind weht durch die Bäume. Die Äste wiegen fast als Bejahung zu den Worten des Schimmels im Wind. Der Schimmel steht zur Seite und vor mir sehe ich eine Art Lichtung. Links und rechts geht es tiefer in den Wald hinein. „Die Wahrheit führt dich ans Licht. Willst du dich vor der Wahrheit verstecken?“ Der Schimmel redet auf mich ein.
Schlussendlich gehe ich nach vorne und betrete die Lichtung. Das muss der Waldrand sein, denke ich. Es sieht eher aus, wie ein schöner grosser Garten. Weiter hinten stehen ein paar Leute, welche, mir den Rücken zugewandt zusammen vor einem Mann stehen , der zu ihnen spricht. Sie sind alle schwarz gekleidet. Ich nähere mich den Leuten, sie hören mich aber nicht kommen. Der Mann, der vor ihnen steht muss ein Pfarrer sein, er liest aus der Bibel vor. Hier ist wohl eine Beerdigung im Gange. Ich schaue die Leute an. Mit Schrecken stelle ich fest, dass sich meine ganze Familie hier an dieser Beerdigung befindet. Ich sehe meine Mutter mit Tränen in den Augen, sehe meinen Onkel, der sie stützt. Auf der anderen Seite steht meine Grossmutter, die immerzu fassungslos den Kopf schüttelt, und ständig mit dem Taschentuch die Augen abtupft. Der ganze Rest der Familie blickt, in Schweigen gehüllt zu Boden. Warum seid ihr hier, rufe ich. Sie hören mich nicht. Ich schreie, ich winke, stampfe auf den Boden. Sie sehen mich nicht. Wo sind wir hier? Warum seid ihr hier?! Und vor allem, wo bin ICH?
Ich schaue am Pfarrer vorbei, sehe ein Grab, mit schönen frischen Blumen darauf. Und auf dem Grabstein steht mein Name. Ich kann es zuerst nicht glauben. Da steht mein Name. Ich liege unter diesem Grab. Ich stehe doch hier! Niemand aber sieht mich. Ich strecke meine Hände gen Himmel, Tränen pressen sich aus meinen Augen. Ich schreie, höre mich aber selbst nicht, genauso wenig wie die anderen um mich herum. Es grollt von neuem am Himmel. Dicke Regentropfen fallen nun auf die Trauergesellschaft. Unbeirrt schauen sie alle nach unten, weinen, schütteln den Kopf. Ich liege, inzwischen vor Verzweiflung zusammengebrochen am Boden. Meine Tränen und die Tränen der Wolken fallen hier zusammen herunter.
Ich bin tot.
Sie sehen mich nicht. Ich kann mich nicht verabschieden. Durchnässt frierend liege ich zwischen ihnen und schreie: Warum, warum, warum?! Ich fuchtle mit den Armen in der Luft herum, lasse sie schliesslich erschöpft sinken und liege einfach da. Neben mir erscheint nun langsam die Schildkröte wieder. Ich schaue sie an, sie holt tief Luft und schreit mit der Stimme meiner Mutter: „MIKE!!!“
Meine Mutter steht im Zimmer und öffnet das Fenster. „Schon wieder muss ich dich wecken! Kannst du nicht von selbst aufstehen? Du bist doch nicht mehr 12!!“ Das Lied, welches ich im Traum gehört habe, klingt noch nach als ich die Augen aufmache und auf den Wecker sehe. 07:10! Wieder hat ein neuer Tag begonnen.