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Der Traum ist aus
Ich habe es mir gerade auf der Couch gemütlich gemacht, als mein Handy klingelt. Lustlos gehe ich ran. „Hallo Tantchen!“, höre ich meine Nichte ins Telefon flöten und weiß sofort, dass sie etwas von mir will. „Kannst du mal nachsehen, ob meine Tasche noch bei dir steht? Sie müsste im Flur sein. Ich bin gerade bei einer Freundin und wir wollten noch in die Stadt …“
„Moment eben.“ Ächzend erhebe ich mich und schleppe mich in den Flur. „Ja, hier ist sie. Du kannst sie abholen.“
„Äh, eigentlich wollte ich dich fragen, ob du sie nicht hier vorbeibringen kannst.“ Ich will ihr erklären, dass ich müde bin, weil ich den ganzen Tag gearbeitet habe, dass sie gefälligst besser auf ihren Kram aufpassen soll, dass ich außerdem Besseres zu tun habe, als ihr Zeug durch die Gegend zu schleifen und dass ich überhaupt keine Lust habe, draußen herumzulaufen. Stattdessen höre ich mich zu meiner Verwunderung sagen: „Kann ich machen. Ich wollte ohnehin noch etwas an die frische Luft.“ Bevor ich mich fragen kann, was mit mir los ist, bedankt sich meine Nichte überschwänglich, nennt mir die Adresse und legt auf.
Während ich meine Schuhe anziehe, brumme ich vor mich hin: „Ich wollte noch an die frische Luft! Wann bin ich je freiwillig an die frische Luft gegangen? So ein Mist! Dabei fängt in zehn Minuten meine Lieblings-Serie an!“
Wütend auf mich selbst packe ich mir die Tasche und verlasse mit einem sehnsüchtigen Blick zurück meine Wohnung.
Anfangs stapfe ich übellaunig vor mich hin, aber nach und nach beginne ich tatsächlich die Luft zu genießen. Ich durchquere einen kleinen Park. Ich lache mit einem Mann über die Luftsprünge seines Hundes. Ich habe schon ewig nicht mehr mit jemandem gelacht. Vielleicht sollte ich mir einen Hund zulegen? Aber nein, ich hätte gar keine Zeit für ihn.
Gut gelaunt erreiche ich das Haus, in dem die Freundin meiner Nichte lebt. Ich gebe die Tasche ab und erhalte zum Dank einen Kuss. Als ich wieder gehen will, fühle ich mich beobachtet.
Ich drehe mich um und entdecke in der Tür des Nachbarhauses einen jungen Mann, der mich anstrahlt, als wollte er sagen: „Da bist du ja endlich.“ Eigentlich will ich gleich lospoltern: dass ich es mir verbitte, so angestarrt zu werden und dass ich ja nun wirklich zu alt für ihn bin. Eigentlich. In Wirklichkeit macht sich in mir ein warmes Gefühl breit und ich bin nicht in der Lage auch nur einen Ton herauszubringen. Sein Lächeln vertieft sich noch. „Hi“, sagt er mit einer rauen, warmen Stimme.
Ich kann nur schwer erklären, was ich empfinde. Es ist, als hätte ich meinen lange verschollenen Bruder wieder gefunden. Nur habe ich gar keinen lange verschollenen Bruder. Der junge Mann kommt mir nicht nur bekannt, sondern vertraut vor und ich möchte am liebsten zu ihm gehen und ihn in die Arme schließen. Rein platonisch natürlich.
„Magst du reinkommen? Wir sitzen im Garten“, bietet er an. Selbstverständlich gehe ich nicht in das Haus eines fremden Mannes! Denke ich. Aber in meinem Kopf taucht ein Bild von einer Wiese auf. An einem großen Holztisch sitzen drei junge Männer und ich. Einer von ihnen ist der, der gerade vor mir steht. Das Bild strahlt soviel Glück und Harmonie aus, dass ich wie hypnotisiert nicke und zu ihm gehe. Er führt mich wortlos durchs Haus, das mir nicht bekannt vorkommt. Kaum treten wir aber auf die Terrasse, als das Bild aus meinem Kopf Wirklichkeit zu werden scheint. Ich sehe eine große Wiese, die auf der dem Haus gegenüber liegenden Seite ohne Begrenzung in Felder übergeht. An dem Holztisch sitzen zwei Männer. Einer etwa im gleichen Alter, wie der der mich hereingeführt hat, der andere etwas älter. Ich habe das Gefühl, endlich, nach einer langen, verzweifelten Suche, zu Hause angekommen zu sein. Die beiden Sitzenden sehen mich an, als würden sie ähnlich empfinden. „Setz dich“, sagt der Ältere einfach. Ich nehme Platz, während es in meinem Kopf rattert. Ich war schon einmal hier, da bin ich sicher. Nur wann und aus welchem Anlass? Ich kenne die drei Männer, aber woher und wer sind sie? Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass ich sie liebe. Aber kann man denn jemanden lieben, an den man sich nicht wirklich erinnern kann? Während ich all diese Fragen überdenke, habe ich nicht das geringste Bedürfnis, meinen Gastgebern eine davon zu stellen. Ich bin hier und es ist wunderbar! Entspannt lehne ich mich zurück und stelle mein Gedankenkarussell ab.
Weder das Aussehen, noch die Namen der drei Männer spielen eine Rolle. Um sie besser unterscheiden zu können werde ich sie im Folgenden also X, Y und Z nennen. X ist derjenige, der mich in der Einfahrt angesprochen hat. Y ist der Jüngere und Z der Ältere der beiden, die mich auf der Terrasse erwartet haben.
Sie sehen alle auf ihre spezielle Weise gut aus. Jeder von ihnen hat etwas, das mich bei Männern anzieht. Trotzdem kann ich mir ebenso wenig vorstellen, mich in einen von ihnen zu verlieben, wie in meinen Bruder.
X hat ein faszinierendes, leicht schiefes Lächeln. Ich bin sicher, er bring damit reihenweise Frauenherzen zum Schmelzen. Y sieht jungenhaft und verschmitzt aus, als würde er ständig einen Streich aushecken, was er vermutlich auch häufig tut. Z ist auf den ersten Blick nicht der Mann, der einer Frau schlaflose Nächte bereitet. Er wirkt ernsthaft, vielleicht sogar ein wenig bieder und hat eine ruhige Art. Das Besondere an ihm sind seine Augen. Es kommt mir vor, als hätten sie schon alles gesehen und würden alles verstehen.
Mit diesen drei sitze ich also an einem Tisch. Im Hintergrund läuft leise ‚Der Traum ist aus‘ von Ton Steine Scherben. Früher habe ich diesen Song geliebt, aber irgendwie ist er mir in Vergessenheit geraten.
Minutenlang sehen wir uns nur an. Das ist schön. Ihre Blicke haben nichts Lauerndes, Beobachtendes oder gar Wertendes. Sie sind einfach nur liebevoll und sagen: „Ich bin froh, dass du da bist.“ Ich weiß nicht, ob ich mich jemals so wohl und angenommen gefühlt habe. Als Kind vielleicht? Bestimmt bei meinen Eltern und auf jeden Fall bei meiner Oma.
X zeigt sein berühmtes Lächeln und fragt: „Bier?“ Ich trinke nie Bier. Schon ewig nicht mehr. Aber jetzt ist das herbe Getränk genau das, worauf ich Lust habe. Ich lache leise. „Ja, gerne!“
Erst jetzt fällt mir auf, dass bereits drei angefangene Bierflaschen auf dem Tisch stehen. Als X hinein geht, stellt Y dessen Flasche unter den Tisch. Auf meinen fragenden Blick antwortet Z trocken: „Er kann nicht anders. Selbst im erhabensten Moment muss er seine Späße machen.“ Normalerweise finde ich so etwas albern, aber heute ist nichts normal und ich muss tatsächlich kichern. Auch weil ich mich freue, dass noch jemand außer mir den Moment erhaben findet.
X kommt mit meinem Bier zurück und stellt es vor mich. Sein Blick fällt auf den Platz, wo eben noch seine Flasche stand und er gibt Y einen Klaps auf den Hinterkopf. Ohne ein weiteres Wort setzt er sich und lächelt sein fabelhaftes Lächeln. Y seufzt, bückt sich und stellt das Bier zurück auf den Tisch. „Du kennst mich einfach zu gut“, murmelt er. „Vielleicht solltest du dir neue Freude suchen“, schlägt X vor. „Neue Freunde?“, fragt Y gespielt entsetzt. „Wo soll ich die denn finden, bei meinem Ruf?“ X und Z lachen und ich stimme mit ein, obwohl ich rein gar nichts über Ys Ruf weiß. Die beiden foppen sich noch eine Weile, was ich sehr amüsant finde. Plötzlich stuppst etwas gegen mein Bein. Ich schaue hinunter und sehe in ein Paar wunderschöne Hundeaugen, das mich flehentlich anschaut.
„Hey, Kleiner Mann!“, sage ich unwillkürlich und merke, wie es am Tisch still wird. Als ich aufsehe, werfen sich die drei bedeutungsvolle Blicke zu. Ehe ich darauf reagieren kann, stuppst der Hund erneut mein Bein an. Ich beuge mich hinunter und streichle ihn hingebungsvoll. Zum Dank schleckt er meine Hand ab und legt sich seufzend zu meinen Füßen nieder. Ich weiß sofort, dass sich das so schon öfter abgespielt hat. „Das ist sein Name, oder? Kleiner Mann?“, frage ich einer plötzlichen Eingebung folgend. Die drei Jungs, wie ich sie im Stillen nenne, strahlen mich an und nicken. Ich will sie fragen, wieso ich den Namen des Hundes weiß und wieso mir sie und die Terrasse so bekannt vorkommt, aber dann merke ich, dass es keine Rolle spielt. Ich liebe die Jungs, ich liebe Kleiner Mann, ich liebe diesen Ort und alle scheinen meine Liebe zu erwidern. Warum sollte ich etwas so Wunderbares hinterfragen?
Erneut lehne ich mich zurück und nehme einen Schluck von meinem Bier. Die drei sehen mich an, als seien sie stolz auf mich. Ich habe keine Ahnung warum, aber es fühlt sich gut an.
Wir plaudern noch eine Weile. Nichts Wichtiges oder Tiefschürfendes. Auch kein: „Wie heißt du und was machst du beruflich?“ So etwas ist in dieser Runde nicht von Bedeutung. Auf einmal fällt mein Blick auf eine kleine Tätowierung seitlich an Zs Handgelenk. Es sind die Umrisse einer etwa stecknadelgroßen Rose. Stängel, Blätter und eine gerade erblühende Knospe. Ich spüre ein sehnsüchtiges Ziehen. Etwa so, als ob man einen Ex-Freund wiedersieht, den man nicht zurückhaben will, der aber Erinnerungen an schöne Zeiten wachruft. Unwillkürlich beuge ich mich vor und streiche sanft mit dem Zeigefinger über das Tattoo. „Ich erinnere mich daran“, murmele ich mit belegter Stimme. Die Reaktionen darauf sind erstaunlich. Z nickt mit leicht gequältem Blick. Kleiner Mann springt auf und läuft zur Terrassentür. X und Y folgen ihm eilig. „Wir gehen Gassi“, sagt einer von ihnen und schon sind sie verschwunden. Irritiert sehe ich Z an, der meinen Blick ernst erwidert. „Was ist denn los?“, will ich wissen. „Der Hund muss raus“, antwortet er lakonisch. Endlich geht mir ein Licht auf. „Oh, die beiden denken, dass du und ich …“
„Schon möglich“, murmelt Z. „Aber wie kommen die darauf? Nur weil ich dein Handgelenk berührt habe? Mir scheint, da haben sie leicht überreagiert, oder etwa nicht?“ Ich sehe ihn verzweifelt an. Mit einer einzigen Geste habe ich alles verdorben! Und Z hat doch nicht etwa Gefühle für mich? Das wäre eine Katastrophe und würde alles noch viel schlimmer machen! Da er schweigt, versuche ich mein Verhalten zu erklären. „Ich wollte doch nicht …“ Mir kommen die Tränen. „Du wolltest nicht?“, fragt Z so hoffnungsvoll, dass ich den Gedanken, er könne mich auf andere als platonische Weise lieben sofort verwerfe. „Nein, ehrlich. Ich habe das nur aus einem Impuls heraus getan. Wenn ich einen von euch anbaggern wollte, würde das anders aussehen.“ Nach einer Weile füge ich kläglich hinzu: „Glaube ich jedenfalls.“ Jetzt lacht Z. Sein Lachen gefällt mir. Es ist ein leises, dunkles Grollen, das tief in seinem Innern zu entstehen scheint.
„Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Ich meine das alles hier ist ja schon seltsam. Aber ihr seid wie Brüder für mich oder wie gute Freunde, nichts weiter.“
„Bist du dir da wirklich sicher? Beim letzten Mal war es nicht so“, meint Z. ernst.
„Es hat also ein letztes Mal gegeben?“, will ich wissen.
„Natürlich. Nicht nur eines. Das hast du doch gespürt.“
„Ja, das stimmt.“ Ich denke eine Weile nach. „Und ich habe mich an dich rangeschmissen?“ Vor Verlegenheit werde ich rot. „Nun ja, nicht nur an mich würde ich sagen.“ Z. ist es sichtlich peinlich, darüber zu reden, aber nicht so peinlich wie mir. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. „Oh mein Gott!“, rufe ich und lasse meinen Tränen nun freien Lauf. Ich spüre, wie sich Z. neben mich setzt und eine Hand auf meinen Rücken legt. „Kein Grund zu weinen! Sei mal ehrlich, wir sehen alle verdammt gut aus, also kann dir niemand einen Vorwurf machen.“ Jetzt muss ich gleichzeitig schluchzen und kichern. Z lächelt mich an und ich habe augenblicklich das Gefühl, alles ist wieder gut. „Es tut mir wirklich leid, wenn ich mich daneben benommen habe.“, sage ich kleinlaut. „Oh, das hast du nicht. Weißt du, wir waren ja alle ein wenig verwirrt. Immer, wenn du hier warst, fühlten wir uns irgendwie ganz, als ob uns sonst immer etwas gefehlt hätte. Anfangs haben wir das alle für Verliebtheit gehalten. Aber jedes Mal, wenn du einem von uns Avancen gemacht hast, bist du bald darauf verschwunden. Es ist also nie etwas passiert.“
„Verschwunden?“, frage ich verblüfft. „Wie kann ich denn verschwinden?“
„Oh, das. Hast du schon einmal davon gehört, dass Dinge, die man im Traum erlebt eigentlich real sind? Das man wirklich an andere Orte geht, echten Menschen begegnet? Menschen die vielleicht auch träumen?“
„Jaaa“, antworte ich gedehnt. „Davon habe ich gehört. Selbst wenn es so etwas gibt, man nimmt doch seinen Körper nicht mit, oder?“
„Nein. Nicht den, der zu Hause im Bett liegt. Wenn man träumt, befindet man sich in einem Traumkörper. Und das war bei uns vieren der Fall.“
„Dann haben wir uns also immer im Traum getroffen? Ist das hier dann auch ein Traum?“, will ich irritiert wissen.
„Nein, ziemlich sicher nicht.“ Z. grinst. „Schließlich bist du durch die Tür gekommen.“
„Wie bin ich denn sonst hergekommen?“, frage ich neugierig.
„Übers Feld. Deshalb haben wir auch den Zaun entfernt. Du kannst nicht besonders gut klettern.“ Ich merke, wie ich rot werde. „Willst du damit sagen, ich bin über einen Zaun geklettert, habe dabei ein jämmerliches Bild abgegeben und anschließend versucht euch der Reihe nach zu verführen?“ Erneut verstecke ich mein Gesicht in den Händen. „Oh Gott, ist das peinlich!“
Z. nimmt sanft meine Hände in seine und sieht mich ernst an. „Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest. Wir haben uns anfangs alle nicht mit Ruhm bekleckert.“
„Nur dass ihr euch daran erinnern könnt und ich nicht!“, jammere ich.
„Wir könnten dir alles erzählen“, schlägt Z. vor. „Bitte nicht!“, flehe ich. „Ich kann heute nicht noch mehr Peinlichkeiten ertragen!“ Z. legt den Arm um mich und zieht mich an sich. „Ich könnte zur Abwechslung ein paar von unseren Peinlichkeiten preisgeben.“ Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. „Klingt nach einer guten Idee. Lass uns das aber auf später verschieben. Ich habe gerade das Gefühl, genau da zu sein, wo ich hingehöre.“ Ich merke, wie er sich versteift und lächle in mich hinein. „Dann solltest du diesen Ort vielleicht jetzt besser verlassen. Ich höre die anderen zurückkommen“, sagt er und klingt bitter dabei. „Keine Sorge. Ich will mich nur an dich lehnen und dich nicht auf dem Tisch vögeln.“ Ich spüre sein Lachen eher, als dass ich es höre und bin wunschlos glücklich.
X und Y betreten die Terrasse so vorsichtig und zögernd, als würde dort ein Monster auf sie warten. Als sie uns sehen, wirken sie gleichzeitig erleichtert und verwirrt. „Sie ist noch da“, stellt X wenig geistreich fest. „Sie liegt in deinem Arm“, bemerkt Y ähnlich einfallslos. Z lacht. „Nein. Sie lehnt sich nur an. Gerade hat sie mir erklärt, dass sie nicht die Absicht hat, mich auf dem Tisch zu vögeln.“ Die beiden schauen so dämlich aus der Wäsche, dass ich Mitleid mit ihnen habe. „Nun kommt schon, macht euch locker. Dieses Mal werde ich nicht verschwinden. Selbst wenn, ich weiß ja, wo ihr wohnt.“
Y grinst schon wieder. „Hat sie wirklich ‚vögeln‘ gesagt?“, raunt er Z zu. Doch der winkt nur lachend ab. „Kann sie jetzt wirklich immer herkommen, wenn sie will?“, fragt X in die Runde.
„Da bin ich mir sicher. Und ich werde es auch. Am liebsten würde ich gar nicht mehr weggehen.“ Die drei werfen sich verlegene Blicke zu. Oh, da bin ich wohl zu weit gegangen. „Hey, keine Angst, Jungs, ich habe das nicht wörtlich gemeint.“ Ich merke selbst, wie brüchig meine Stimme klingt.
„Vielleicht sollten wir dir erzählen, wie wir zu diesem Haus kamen“, beginnt Z. „Eines morgens bin ich nach einem Traum hier aufgewacht. Frag mich nicht, wie sich das erklären lässt. Jedenfalls war das Haus unbewohnt und an der Tür hing ein Schild, das es zu vermieten sei. Es kam mir vor wie Bestimmung, deshalb habe ich sofort beim Makler angerufen und ein paar Wochen später hatte ich den Mietvertrag in der Tasche und mein Bruder“, er zeigt auf X, „und ich sind eingezogen. Sein bester Kumpel“, dieses Mal deutet er auf Y, „war ohnehin die meiste Zeit hier und hat sich schließlich ganz hier einquartiert. Es war toll, hier zu leben. Wenn wir draußen waren, hatten wir immer ein bisschen das Gefühl, als wärst du bei uns. Trotzdem haben wir immer gemerkt, dass etwas fehlt.“ Er sieht mich eindringlich an. „Du meinst mich?“, frage ich mit heiserer Stimme. Alle drei nicken. „Heißt das, ihr wollt, dass ich hier einziehe?“, will ich fassungslos wissen. „Es muss ja nicht sofort sein. Du willst uns sicher erst besser kennenlernen …“ Y bricht hilflos ab. „Sicher willst du dir auch erst das Haus in Ruhe ansehen“, fügt X unsicher hinzu, als ich sie nur ungläubig ansehe. „Es ist nur eine Idee. Überlege es dir in aller Ruhe“, wirft Z ein.
„Ich muss nichts überlegen und ich brauche keine Zeit und muss auch das Haus nicht sehen! Ich liebe euch und ich liebe Kleiner Mann und ich liebe das Haus und die Wiese und den nicht vorhandenen Zaun! Nichts auf der Welt würde ich lieber tun, als mit euch zusammenziehen!“, bricht es schließlich aus mir heraus. Die Jungs strahlen mich an. Z drückt mich enger an sich und X und Y erheben sich, offensichtlich um mich zu umarmen. „Halt!“, rufe ich. „Es gibt eine Bedingung! Niemals wird einer von euch ungefragt auch nur ein Wort darüber verlieren, was mein Benehmen bei den Treffen vor heute Abend angeht!“ Y lässt sich auf seinen Stuhl zurückfallen und sagt mit Grabesstimme: „Dann halt nicht.“ X verabreicht ihm eine Kopfnuss, worauf er sich lachend wieder erhebt. „Schon gut. Man kann es ja mal versuchen.“ Dann umarmt er mich und feixt: „Keine Sorge, Schwester, ich werde nie erwähnen, was für eine unglaublich lächerliche Figur du gemacht hast als du über den Zaun geklettert bist. Oder sollte ich eher sagen: als du über den Zaun geplumpst bist?“ Ich stoße ihm unsanft den Ellenbogen in die Seite und raune ihm zu: „Du lebst gefährlich, Bruder!“ Er zuckt vor Schmerz zusammen, hebt die Hände und sagt: „Hab Erbarmen mit einem armen Burschen, der sein Mundwerk nicht im Zaum halten kann!“ Spielerisch zerzause ich sein Haar.
Auch X umarmt mich liebevoll und sagt mit seinem unnachahmlichen Lächeln: „Herzlich willkommen in der Familie! Endlich sind wir komplett.“
Z schließt mich nun ebenfalls in seine Arme. „Ich möchte mich nie wieder so verloren fühlen, wie in den Zeiten zwischen unseren Treffen. Ab jetzt will ich immer, wenn du weggehst, sicher sein, dass du hierher zurückkommst.“ Damit spricht er genau das aus, was ich meinen Jungs gegenüber fühle.
Seit diesem Abend sind nun mehr als zwei Jahre vergangen. Wir wohnen immer noch zusammen in unserem Haus. Mein Leben hat sich auf unglaubliche Weise verändert. Ich habe mir eine Halbtagsstelle gesucht und meinen ungeliebten Job gekündigt. Täglich gehe ich mit Kleiner Mann an die frische Luft und lache oft mit anderen Herrchen und Frauchen. Ein paar Freunde, die meine neue Lebenssituation nicht akzeptieren konnten, habe ich verloren, aber viele neue hinzugewonnen. Meine leibliche Familie steht zum Glück, wie immer, hinter mir. Vor allem meine Nichte ist begeistert von ihren drei neuen 'Onkels', wie sie liebevoll nennt.
Kürzlich fragte mich eine Freundin: "Stört es dich nicht, dass Y so furchtbar chaotisch ist?" Meine verwunderte Antwort lautete: "Wie könnte mich das stören? Wenn er nicht so furchtbar chaotisch wäre, wäre er doch nicht mehr Y!" Ja, ich liebe meine Jungs genau so wie sind und das beruht zum Glück auf Gegenseitigkeit.
Eine Frage, die uns bis zum Erbrechen gestellt wird ist: "Was geschieht, wenn sich einer von euch verliebt und mit dem oder derjenigen zusammenziehen möchte?" Bisher haben wir immer geantwortet: "Na was schon? Er zieht mit ihm oder ihr zusammen. Wir haben ja keine Besitzrechte aneinander. Wir genießen einfach unser Zusammensein, solange es währt."
Jetzt können wir eine andere Antwort geben, mit der wir bisher selbst nicht gerechnet hätten: "Sie ziehen zusammen bei uns ein."
Denn tatsächlich hat Z seit einigen Monaten eine feste Freundin, die auch unsere Freundin geworden ist. Ab nächsten Monat vervollkommnet sie unsere WG. Wir können unser Glück kaum fassen, denn natürlich hätten wir Z schmerzlich vermisst, wenn er ausgezogen wäre. Wobei Y behauptet, wir hätten sein Auto mehr vermisst.
Es könnte der Eindruck entstanden sein, dass mich mit Z eine tiefere und innigere Beziehung verbindet, als mit X und Y, aber das täuscht. Wir haben einfach nur einen anderen, ernsthafteren Umgang miteinander.