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Der Traum des Fremden
Der Traum des Fremden
Draußen vor dem Fenster ziehen dichte Nebelschwaden. Das Licht der Straßenlaternen durchdringt nur mühsam die beinahe undurchdringlichen Schleier des Nebels. Seltsam, daß ich mich gerade jetzt, im tiefsten Winter, an jene Reise nach Italien erinnere, die ich an einem jener schwülen Sommertage unternommen habe, an denen eine undurchlässige Dunstschicht über dem Meer liegt, die feuchtwarme Luft das Atmen schwer macht und die Sonne den ganzen Tag nicht die Kraft findet, die dünne Wolkendecke zu durchbrechen.
Ich war damals schon einen ganzen Tag unterwegs gewesen, hatte die Berge längst hinter mir gelassen, die Fahrt nur einmal kurz unterbrochen, um zu Mittag zu essen und vor mir breitete sich die weite Ebene aus. Die Landschaft, die an mir vorbeiflitzte hatte sich seit Stunden nicht mehr verändert und langsam brach die Dämmerung herein. Das lange Sitzen im Auto hatte mich müde gemacht und ich beschloß, in einem der nächsten kleinen Orte anzuhalten und in irgendeinem kleinen Lokal einen Kaffee zu nehmen.
Es war schon fast dunkel, als ich in dem Dorf, das nur aus wenigen Häusern bestand, eine Gaststätte fand die einladend genug aussah, um dort einzutreten. Die Bar war beinahe leer und nur ein kleiner elektrischer Leuchtbalken über dem Tresen, der mit dem Schriftzug eines alkoholischen Getränkes beschriftet war, warf ein wenig Licht in den Raum. Ganz hinten, in einer Ecke, die unbeleuchtet war, saß ein älterer Mann, der in sein fast leeres Glas starrte. Der Kellner hinter der Theke, der bemerkt hatte, daß ich den Mann beobachtete und sich verpflichtet fühlte, mich zu unterhalten, meinte, indem er mit dem Kinn in Richtung des stillen Zechers zeigte: Das ist ein komischer Kauz, hier aus dem Ort. Er kommt jeden Tag hierher, setzt sich in sein Eck, trinkt still seinen Wein und spricht mit niemandem. Nur wenn sich ein Fremder in die Bar verirrt, glaubt er, dem seinen Traum erzählen zu müssen.“
Es dauerte auch nicht lange, da erhob sich der Gast, kam auf mich zu und ohne sich lange mit einem Gruß aufzuhalten sprach er mich an: „Sie habe ich hier noch nie gesehen, wo kommen sie denn her?“ Da ich an keiner langen Unterhaltung interessiert war, antwortete ich kurz angebunden, drehte mich zur Seite und glaubte so einem Gespräch aus dem Weg gehen zu können. Das konnte ihn nur kurz aufhalten, denn nach einer kurzen Pause murmelte er, wobei es nicht sicher war, ob er nun zu sich selbst sprach, oder ob er sich an mich wandte:
„So viele Menschen sind heute unterwegs, reisen von einem Ort zum anderen; ob die alle wissen, wo sie hin wollen?“ Eine Weile schwieg er dann und setze schließlich, wie in Gedanken versunken fort: „Viele erreichen ihr Ziel nie, andere kommen zu spät.“ Der Mann mußte ein nachdenklicher Philosoph oder ein Narr sein, denn ich verstand ihn nicht, wußte nicht, was ich mit diesen Sätzen anfangen sollte, erkannte keinen rechten Sinn in seinem Gerede und wollte ihn nicht weiter beachten, aber da begann er auch schon zu erzählen:
„Ich bin ein alter Mann, bin nie von hier weg gekommen, habe nicht viel gesehen von der Welt, hab nicht viel gehalten vom Reisen.“ Dann schwieg er eine Weile und fuhr dann fort. „ Diese Kneipe ist meine Welt. In dieser Kneipe sitze ich jeden Abend, und trinke meinen Wein; das tu ich schon sehr lange und früher hatte ich immer Gesellschaft. Da war es oft recht heiter – hier. Aber jetzt ist für mich alles anders geworden, seit mich dieser Traum quält. Heute bleibe ich, bis mich der Wirt hinauswirft und keiner will sich mehr mit mir unterhalten, niemand glaubt mir meine Geschichte.
Es glaubt mir keiner meinen Traum, den ich jede Nacht träume, der mich quält, weil ich nicht verstehe was er bedeutet, weil er mich beunruhigt, mir Angst macht und ich weiß nicht was er mir sagen will. Jeden Tag träume ich ihn, sobald mich der Schlaf in meinem Bett überfällt und ich habe Angst vor dem Einschlafen, vor der Nacht. Nur deshalb bleibe ich bis zu Sperrstunde hier, nicke ein Wenig ein, denn nur hier finde ich ein wenig Ruhe im Schlaf, denn kaum bin ich zu Hause in meinem Bett, fängt er wieder an - dieser Traum, immer der Selbe.“
Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, bestellte er sich beim Barmann noch ein Glas Wein und begann zu erzählen.
„Immer beginnt es damit, daß ich auf einer Anhöhe stehe und vor mir geht es steil bergab. Es sieht aus wie eine Enge Bucht und ich stehe dort, wo dieser Meereseinschnitt endet, starre hinaus aufs Meer. Ein Dunstschleier hat sich über diese Bucht gelegt und ich ahne, mehr als ich es sehe durch den dichten Schleier des Dunstes, wie sich ein Schiff nähert.
Neben mir parkt ein Auto. Der Ort, an dem ich stehe, muß wohl ein Parkplatz auf einem Aussichtspunkt sein. Der Fahrer des Wagens beobachtet so wie ich das Herannahen des Schiffes. Auf den hinteren Sitzen seines Wagens kauert eine alte Frau, vielleicht seine Großmutter, eingewickelt in eine dicke Decke. Ich höre wie der Mann murmelt:: „Die Spritze war umsonst., das Fieber ist gestiegen und der Tank ist leer. Wie soll ich rechtzeitig dort sein?!“
Im Traum ist es ist stockdunkle Nacht und man sieht kaum die eigene Hand vor den Augen. „Wo finde ich nur Benzin?“ murmelt der Mann. Ich sehe, während ich träume, wie er dann losfährt, sehe wie er an eine Kreuzung kommt, wie er kurz überlegt, nicht weiß, wie er sich entscheiden soll und wie er dann die Straße, die nach oben führt, nimmt.
Der Erzähler unterbrach sich und meinte dann nachdenklich: - „Was hat ihn wohl zu dieser Entscheidung geführt, frage ich mich -“
„Diese Straße, auf der er jetzt fährt ist schmal und eng. Im Licht der Scheinwerfer erkennt er einen alten, ein wenig verkommenen Bauernhof. In keinem der Fenster ist Licht. Trotzdem klopft er ans Tor. Ein Greis mit weißem Haar öffnet ihm und der Mann bittet ihn um Benzin. „Haben sie ein Gefäß?“ fragt der alte Mann mürrisch. „Nein“ „Ich suche eines“ antwortet er und verschwindet im Haus und kehrt bald mit einem Tintenfaß zurück.“
„Da nehmen sie, das reicht“ meint der Greis kurz angebunden und schließt hinter sich das Tor. Jetzt nimmt der Mann das Tintenfaß und schüttet den Inhalt in den Tank. Er schüttet und schüttet. Erst als der Tank voll ist, ist auch das Tintenfaß leer.“
„Ein Tintenfaß – und der Tank ist voll!“ unterbrach er neuerlich seinen Bericht „Ich frage sie, wie komme ich nur dazu, so einen Unsinn zu träumen, hat das irgendeine Bedeutung für mich?“
„Danach startet der Mann in meinem Traum den Wagen, fährt los und erreicht, nachdem er einen Tunnel durchquert hatte schließlich einen kleinen Hafen, der offenbar sein Ziel gewesen war. Dort angekommen, stürzt er aus dem Wagen, sieht eine Frau mit schwarzem, gekräuseltem Haar, die ein rotes Kleid trägt. Er hastet auf sie zu: „Ist das Schiff angekommen?“ keucht er. „Welches Schiff?“ erwidert sie – „In diesem Hafen ist schon seit zwanzig Jahren kein Schiff mehr angekommen!“ antwortet sie.
Der Mann kehrt enttäuscht zum Wagen zurück und erschrickt - die alte Frau, die ich für seine Großmutter gehalten hatte, liegt tot in den Rücksitzen.“
Ich verließ das Lokal, als er geendet hatte und ich müßte lügen, wenn ich behauptete, daß mich seine Geschichte nicht beeindruckt hätte, aber ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte, konnte den Traum nicht deuten. Da der Mann zwar nicht betrunken, aber auch nicht ganz nüchtern war, maß ich der Sache aber keine große Bedeutung bei.
Nach einer langen Fahrt in der Ebene, führte mich mein Weg nun wieder in hügeliges Gelände und ich erreichte eine Anhöhe entlang der Küste. Die Nacht war nun vollends hereingebrochen und das Scheinwerferlicht meines Wagens, das nur einen knappen Ausschnitt der kurvigen Straße ausleuchtete, erschwerte mir die Fahrt durch jene Gegend die ich kaum kannte. Da ich außerdem nicht gerne nachts fahre suchte ich sehr bald einen Parkplatz auf um ein wenig zu rasten und eine Zigarette zu rauchen. Dort parkte in einem dunklen Winkel ein schwarzer Wagen - ein großer, auffälliger Amerikaner der fünfziger Jahre. Ein Mann – es muß wohl der Fahrer gewesen sein - stand vor dem Auto, rauchte und starrte hinaus aufs Meer. Weit draußen in der Finsternis der Nacht erahnte man, fast konnte man es nicht erkennen, die Lichter eines Schiffes. Ich blieb nicht lange und verließ, nachdem ich meine Beine vertreten und meine Zigarette zu Ende geraucht hatte, gleich wieder den Aussichtspunkt. Beim Vorbeifahren an dem Wagen glaubte ich im Fond eine alte Frau zu erkennen. Sie saß, eingehüllt in ihrem Mantel, zusammengekauert in einer Ecke und kam mir sehr blaß vor.
Nach einer kurzen Wegstrecke bemerkte ich, daß der Tank praktisch leer war. Da ich, wie ich schon sagte, die Gegend auch bei Tag nicht sehr gut kannte, beunruhigte mich der Umstand, in tiefster Nacht ohne Benzin da zu stehen, und mir war klar, daß ich so schnell als möglich, eine Tankstelle finden mußte. Ich glaubte mich erinnern zu können, daß ich nach einer kurzen Wegstrecke an eine Kreuzung kommen und mich mein Weg noch eine Weile über die Klippen führen mußte, bevor die Straße zu dem kleinen Hafen hinab führte, der mein Ziel war, deshalb entschied ich mich an der Kreuzung, die ich bald erreichte, für die Strecke, die bergauf führte.
Sie war zunächst eine ganz gewöhnliche, etwas enge, asphaltierte Landstraße, wurde aber bald danach immer enger und wurde schließlich zu einem ländlichen Weg, auf dem ich kaum vorwärts kam und ich mußte erkennen, daß ich mich falsch entschieden hatte. Langsam schlich ich über die enge, geschotterte Straße, auf deren Mitte kleine Büschel Gras wuchsen und, als ich schließlich im Lichte der Scheinwerfer ein Haus und eine Benzinpumpe davor sah - eine Art Tankstelle, wie man sie früher oft auf Bauernhöfen am Land angetroffen hatte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Zwar drang aus keinem der Fenster des Hauses Licht, dennoch klopfte ich an der Türe. Ein alter Mann öffnete. Er war schäbig bekleidet und ging schon ein wenig krumm. Seine Haare waren grau - eigentlich schon weiß und er wirkte nicht gerade freundlich. Ich forderte ihn auf, den Tank voll zu füllen. Übellaunig, vielleicht wegen der späten Störung erwiderte er kurz angebunden: „Voll geht nicht! Aber ich gebe Ihnen genau soviel, daß sie ihr Ziel erreichen.“ Mir war zwar nicht ganz klar, wie der Alte wissen konnte, wie viel Treibstoff ich zur Erreichung meines Zieles benötigte, dachte aber nicht länger darüber nach und fuhr erleichtert weiter und - Gott sei Dank - stieß ich bald wieder auf die Hauptstraße. Jetzt erkannte ich an den Wegweisern, daß ich nach einer kurzen Wegstrecke und, nachdem ich einen Tunnel, an den ich mich von früheren Fahrten erinnerte, durchfahren haben werde, schon die ersten Lichter des kleinen Hafens auftauchen würden und ich mein Ziel bald erreichen würde.
Müde suchte ich mir ein kleines Hotel, nahm ein Zimmer und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Tag erwachte ich sehr spät, ging in den Speisesaal und bestellte ein Frühstück. Eine schlanke Kellnerin mit gelocktem, schwarzem Haar, die ein rotes Kleid trug brachte mir das Frühstück. Sie schien bedrückt und sagte schließlich: „Haben Sie von dem schrecklichen Unglück gehört, das heute Nacht geschehen ist?“ Dann erzählte sie von einem Schiff, das heute Nacht, ganz in der Nähe gesunken war. Es gab viele Tote und Verletzte, aber wie das Unglück geschehen konnte, wußte man noch nicht.
Im Ort herrschte eine bedrückte Stimmung. Es hatte zu regnen begonnen - und deshalb - und vielleicht nicht nur deshalb, wollte ich diesen Ort so bald als möglich verlassen. In aller Eile erledigte ich schnell meine Geschäfte. Am Rückweg zum Hotel nahm ich eine Gasse, die am hinteren Ausgang des Hotels vorbei führte und traf dort auf zwei Männer, die einen Sarg aus dem Haus trugen. Ich fragte sie, was denn geschehen sei und sie erklärten, eine alte Frau sei gestorben, heute Nacht. Sie sei erst gestern angekommen.
Die Ereignisse, die ich auf dieser Fahrt erlebt hatte, berührten mich sonderbar. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Traum des Fremden und meiner Fahrt hierher oder war das alles nur Zufall? Würde ich, besuchte ich auf der Rückfahrt das Lokal noch einmal, eine Erklärung dafür finden?
Ich war froh, diesen Ort verlassen zu können, machte noch einmal den Tank voll und fuhr los. Jetzt, bei Tag, hoffte ich das Dorf wieder zu finden, in dem ich gestern den Zecher mit dem sonderbaren Traum kennen gelernt hatte. Ich hatte mir zwar den Namen des Ortes nicht gemerkt, glaubte aber, ihn sicher wiederzuerkennen. Als ich die ersten Häuser der kleinen Ortschaft erreichte, war ich mir sicher, sie wiedererkannt zu haben. Ich stellte mein Fahrzeug auf einem Parkplatz ab und durchstreifte den Ort auf der Suche nach dem Lokal, in dem ich gestern jenen eigenartigen Mann kennengelernt hatte. Bald fand ich jenes Haus, das dem Lokal benachbart war und erkannte es an den ungewöhnlichen architektonischen Besonderheiten, die mir schon gestern aufgefallen waren. Aber von dem Haus, in dem ich gestern das Lokal aufgesucht hatte, fand ich keine Spur. Im Gegenteil: An dieser Stelle klaffte eine häßliche Baulücke.
Ich konnte mir die Erlebnisse der letzten beiden Tage nicht erklären. Hatte es das Ereignis mit dem Zecher gar nicht gegeben oder hatte es vielleicht woanders stattgefunden und ich hatte das Dorf verwechselt, war ich diesem Mann in einer anderer Gegend begegnet, der dieser ähnelte? Oder hatte ich das alles in jener Nacht in dem kleinen Hafen, in dem ich genächtigt hatte nur geträumt, obwohl ich davon überzeugt gewesen war diese Nacht traumlos verbracht zu haben? War alles nur Einbildung gewesen. Ich werde darauf wohl nie eine Antwort bekommen.
Es hatte aufgehört zu regnen, die mediterrane Sonne brannte wieder vom Himmel und ich trat verwirrt die Heimreise an.
Seither ist viel Zeit vergangen und ich denke kaum noch an diese Reise. Es ist Winter und draußen vor dem Fenster ziehen wieder dichte Nebelschwaden, die vom Licht der Straßenlaternen nur mühsam durchdrungen werden können - oder sind das wieder die Lichter eines Schiffes, das irgendwo da draußen im Meer versinkt?