Der Traum - Auszug aus Erwachen
Der Traum
Auszug aus Erwachen
Es ist ein wunderschöner Tag. Die Sonne steht hoch am Himmel und eine leichte Brise weht durch seine kurzen, braunen Haare. Hier und da wird das strahlende blau des Himmels durch kleine Wolkenfetzen unterbrochen. Gemütlich schreitet er auf einem Pfad dahin, der sich zwischen herrlich duftenden, gelben Feldern und grünen Hügeln bis in die Unendlichkeit erstreckt. Auf den Feldern tummeln sich tausende und abertausende von bunten Schmetterlinge und anderen Insekten. Ein melancholisches und unendlich warmes Gefühl breitet sich in ihm aus. Hier würde er am liebsten die Ewigkeit verbringen. Und doch...
Irgendetwas stimmt nicht. Es ist zu perfekt. Er kann es fühlen. Das Licht ist zu hell. Die Gerüche zu intensiv. In seinen Augenwinkeln beginnt sich die Welt um ihn herum zu verändern. Sie scheint sich aufzulösen, zu zerfließen, sich zu verzerren. Jedoch... sobald er genauer hinsieht, ist wieder alles wie vorher.
Er geht weiter, getrieben von einer Macht vor ihm, die er nicht beschreiben oder in einen Gedanken pressen kann. In der Ferne kann er etwas erkennen. Zuerst noch undeutlich. Es sieht wie ein Strich aus, der in dieses abstrakte Gemälde der Wirklichkeit, in dem er sich befindet, hineingemalt wurde. Auch der Strich scheint endlos in den Himmel empor zu steigen.
Als er sich dem Strich nähert, erkennt er, dass die Welt um ihn herum wirklich ein abstraktes Bild sein muss: Der Strich ist ein kleiner Bach, etwa einen Meter breit, der Senkrecht nach oben in den Himmel fließt. Er kann einige Fische darin erkennen. Bei diesem Anblick wird ihm ganz schwindelig und schlecht. Zu seinen Füßen fließt der Bach am Boden weiter in ein Feld und verschwindet im nichts.
Da war es wieder: Dieses kurze zerfließen der Welt in seinen Augenwinkeln. Wie kurzes aufleuchten eines Blitzes bei rabenschwarzer Nacht, der die Umgebung erhellt und so die schrecklichen Kreaturen die sich im Schutz der Dunkelheit verstecken, preisgibt.
Er blickt hinter sich. Auf dem Pfad sind seine Fußspuren zu erkennen, obwohl er selbst eigentlich nicht sehr schwer ist und er auf einem Steinpfad wandelt. Und plötzlich passiert es... seine Fußspuren, erst schemenhafte Abdrücke seiner selbst, werden immer deutlicher, fast schwarz und von ihnen breitet sich eine gleichmäßige Welle des Todes aus. Sie verschlingt alles, den Stein, das Gras, das Wasser, die Luft... das Leben. Und was es dafür hervorbringt ist für ihn wie ein Schlag ins Gesicht: Es ist die grausame Wirklichkeit, hinter der schönen Fassade, die Maske fällt und hervor kommt die schreckliche Fratze des Wahnsinns. Er kann nicht beschreiben was er sieht, was er fühlt. Seine Gedanken laufen Amok. Er greift sich an den Kopf und fällt schreiend um und...
...fühlt plötzlich nichts mehr. Er öffnet die Augen. Vor ihm steht ein Kind und sieht auf ihn herab direkt in seine Augen. Er richtet sich auf. Das Kind dreht sich um und läuft weg, bevor er etwas sagen kann. Es schreit etwas, es hört sich Englisch an, jedoch mit einem sehr alten Dialekt. Er sieht sich um. Er steht in mitten eines kleinen Dorfes. Hier und da stehen ein paar Häuser, die sehr alt wirken. Einige davon sind schon ziemlich verfallen. Anzeichen einer modernen Zivilisation kann er nicht erkennen.
Er steht auf, torkelt noch ein wenig wie ein Betrunkener. Langsam geht er die dreckige und von Schlaglöchern übersäte Strasse entlang, die sich durch das kleine Dorf schlängelt. Vor ihm überqueren ein paar Ratten die Strasse und verschwinden wieder in einem Müllberg. Weiter vorne kann er eine Menschenmenge entdecken, die sich vor einem Haus versammelt hat. Keiner nimmt von ihm Notiz. Er nähert sich ihnen. Alle reden hektisch durcheinander. Er versteht fast kein Wort.
Irgendwie ist er plötzlich im inneren des Hauses. Er steht vor einem Bett, auf dem eine schwangere Frau liegt, die schmerzen hat. Eine Amme ist an ihrer Seite. Sie wischt der Frau mit einem feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn. Am Ende des Bettes steht eine Art Priester, der mit geschlossenen Augen vor sich hinmurmelt und ein Kreuz in der Hand hält. Von dem Kreuz tropft Blut.
Er wird zurückgedrängt, kann nicht mehr erkennen was vor sich geht. Die Menge, die sich immer weiter in das Haus quetscht, nimmt ihm die Sicht. Unter ihnen kann er zwei vermummte Personen ausmachen, die versuchen sich einen Weg durch die schon mittlerweile panischen Menschen zu bahnen. Von den Beiden geht eine ungeheure Kraft aus, die ihm schon fast körperlich weh tut, doch er spürt das diese Kraft gut ist, das sie das Leben ist. Was ist bloß los mit ihm? Was ist er?
Seine Gedanken werden von einem lauten Babygeschrei unterbrochen. Noch bevor die Mutter das Kind in die Arme nehmen kann, wird es von den beiden Fremden der Amme aus den Händen gerissen und sie stürzen Hals über Kopf aus dem Haus. Er sieht ihnen nach und...
...fühlt sich plötzlich klein und einsam. Es ist kalt. Es ist dunkel. Es ist hart. Er liegt auf einem unebenen Steinboden in einer feuchten Höhle. Das Licht der spärlichen Fackeln wirft gespenstische Schatten gegen die Wände. Er kann sich nicht bewegen. Ein dunkles, monotones Summen erfüllt die Höhle und wird von den Wänden zurückgeworfen. Tausend Stimmen gleichzeitig scheinen zu sprechen.
Er sieht an sich herab. Seine Füße, viel zu klein. Seine Beine, viel zu kurz. Er hört Schritte. Leises Schlurfen und Getrappel welches immer näher kommt.
Panik. Angst. Er will weglaufen, er kann nicht laufen. Er ist wie festgenagelt. In seinem Augenwinkeln kann er Gestalten erkennen. Schwarze Schemen, alle eingehüllt in Roben und Mänteln. Sie sind die Quelle des immer lauter werdenden Summens. Sie sind die Quelle seiner Angst und Panik. Sie bilden einen Kreis um ihn, fünf an der Zahl. Knien sich nieder, strecken ihre Hände zu ihm aus. Über ihm erscheint ein Gesicht. Er kann es nicht erkennen. Es hält etwas in der Hand, auch das kann er nicht erkennen. Er ist blind vor Angst. Das Summen schwillt zu einem Gesang an. Ein blaues Leuchten füllt die Höhle aus, durchdringt alles. Die Gestalt, welche über ihm gebeugt ist, wird von einer blauen Aura umgeben. Das Licht verbrennt ihn. Er beginnt zu schreien, doch der Schrei geht in dem Gesang der sechs Gestalten unter. Die Gestalt über ihm hebt seine Hände. Es ist ein Dolch, welchen sie in den Händen hält. Er erkennt es jetzt. Der Gesang ist unerträglich laut. Das Blau verschlingt alles. Die Arme der Gestalt bewegen sich. Der Dolch durchdringt seinen Brustkorb. Ein Schmerz. Unerträglich. Dann nichts mehr.
[ 11.07.2002, 13:57: Beitrag editiert von: Seppuku ]