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Der Tourist - Erste Story - Erinnerungen an Minka
Erinnerungen an Minka
Oma Herta seufzte und blickte von ihrem Strickzeug auf. Sie hatte sich nicht verhört, die langsam vor sich hin tickende Standuhr hatte geschlagen und Oma Herta wusste, dass sie nun das Strickzeug beiseite legen und mit dem Kochen beginnen sollte. Sie erwartete niemanden zum Essen, aber es war ihre Gewohnheit, täglich zu dieser Stunde eine Mahlzeit vorzubereiten. Im Laufe der Jahre hatte sich daran lediglich die zuzubereitende Menge geändert, angefangen mit Essen für zwei, als sie mit ihrem frisch angetrauten Ehemann diese Wohnung bezogen hatte, über Essen für vier, als sie zwei Kinder zur Welt gebracht hatte, über Essen für fünf, als ihr Bruder aus Not eine Weile mit ihnen zusammenwohnte, über Essen für zwei, als die Kinder ihrer eigenen Wege gingen, bis letztendlich zum Essen für eine Person, seit sie verwitwet war und nur noch alleine zu Mittag aß. Sie beendete noch die letzte Reihe Maschen ihrer Strickerei, betrachtete ihr bisheriges Werk und versuchte sich vorzustellen, wie ihre junge Enkelin sich über diesen Pullover freuen würde, wenn er erst einmal fertig war. Ihre Enkelin hatte sich schon immer über die bunt gemusterten Dinge gefreut, die Oma Herta für sie strickte und trug sie mit einem Stolz, wie ihn wohl nur Kinder zur Schau stellen können. Vorsichtig erhob sie sich aus ihrem weich gepolsterten Schaukelstuhl und ging gemächlichen Schrittes am Regal mit den Katzenfotos vorbei zur Küche, um schon mal Wasser zu kochen während sie die Vorräte prüfte.
Der Klang der Türklingel war eine unerwartete Unterbrechung ihrer Routine und auch eine ungewöhnliche, da der Postbote stets nur morgens vorbeikam und anderer Besuch allerfrühestens gegen Nachmittag. Sie legte ein Schälmesser und eine halb geschälte Kartoffel zur Seite, wischte sich die Hände an der Schürze ab und betrat den Flur. Wer mochte sie zu dieser Uhrzeit sprechen wollen? Durch die farbigen Milchglasscheiben in der Wohnungstür konnte sie eine große, dunkle Silhouette erkennen, es schien sich also um einen Mann zu handeln. Leise vor sich hin murmelnd gab sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass derjenige vor ihrer Tür kein Vertreter war, da sie sich ein wenig schwer damit tat, solche Leute loszuwerden, vorzugsweise ohne dabei Geld auszugeben, das sie nur begrenzt zur Verfügung hatte.
Sie öffnete die Tür, blickte die wirklich sehr dunkel gekleidete Gestalt an ohne sie gut zu erkennen, griff nach ihrer Brille die sie in ihrer Schürzentasche mit sich trug und sagte:
“Ja bitte?”
Die Gestalt antwortete mit einer dunklen, doch nicht unbedingt männlich klingenden Stimme, die einige merkwürdige raue Beigeräusche aufwies:
“Ich grüße dich. Ich möchte dich studieren. Bitte akzeptiere meine Anwesenheit.”
Oma Herta war verwirrt und beschloss, dass sie, bevor sie eine Antwort gab, erst einmal ihre Brille richtig aufsetzte, um zu sehen, wer genau dort vor der Tür stand.
Da sie einen Vertreter erwartet hatte, schreckte sie für einen Moment zurück als sie ihren Besucher erkannte. So nah hatte sie ihn noch nie gesehen und in voller Größe wirkte er völlig anders als die Miniaturausgabe, die sie aus den Nachrichtensendungen kannte. Sein Erscheinungsbild weckte in ihr seit langem schlafende Urinstinkte, die ihr zu schleunigem Fluchtverhalten rieten. Eine Mischung aus Schicksalsergebenheit und Erinnerung an ein paar Fakten hielt sie jedoch davon zurück, so dass sie nur mit einem kurzen Schaudern zusammenzuckte. Sie sagte:
“Du bist doch der, den sie den Touristen nennen, nicht wahr? Du... du... hast ganz schön viel Unordnung gebracht, seit du hier bist!”
Die letzten Worte betonte sie mit erhobenem Zeigefinger und einer tadelnden Handbewegung, wie sie sie üblicherweise nur ihrer Enkelin zukommen ließ. Dabei musterte sie den Touristen von oben bis unten und wunderte sich etwas über den kurzen Schub Mut, der sie gerade überkommen hatte.
Er sah wirklich genau so aus wie in den Fernsehbildern, die sich Oma Herta in Erinnerung rief.
Seine beiden Arme und Beine waren im Verhältnis zu seiner Größe etwas länger als man es bei einem Menschen erwarten würde, er war etwas schlanker und sehniger gebaut als ein Mensch und trug nichts außer einer mattschwarzen schmuck- und knopflosen Weste aus einem undefinierbaren Material und einer ebensolchen kurzen Hose, die ihm nicht ganz über die Knie reichte. An einem Gurt aus gleichem Material waren zwei halbmeterlange schwarze Stangen befestigt, über deren Natur und Bedeutung viel spekuliert wurde aber niemand genaueres wusste. Dieses Outfit hatte Oma Herta schon immer an einen Motorrad-Rocker erinnert. Sie mochte keine Motorrad-Rocker, aber an dem Touristen wirkte die Kleidung anders. Auf seltsame Art passte sie zu dem dichten, kurzen, glatten und pechschwarzen Fell, das seinen gesamten Körper bedeckte und auf dem gerade ein paar von draußen einfallende Sonnenstrahlen glimmernde Reflektionen erzeugten, und harmonierte ebenso mit seinen übergroßen mandelförmigen Augen, die keine Pupillen aufwiesen sondern ebenfalls durchgehend schwarz waren. Zusammen mit seinem Schädel, dessen Form irgendwo zwischen Großkatze und Wolf liegen mochte, erinnerte sein Gesicht Oma Herta vage an die Porzellanfigur eines chinesischen Drachen, die sie mal besaß, abgesehen von seinen großen nach hinten oben spitz zulaufenden Katzenohren, die seinem Kopf eine dreieckige Form gaben. Ähnlich wie die Porzellanfigur strahlte er jedoch eher ruhige Weisheit als animalische Gefährlichkeit aus. Als er nun sprach sah sie, dass sogar seine Zähne von einem sehr dunklen Anthrazit waren. Sie erinnerte sich, dass er sie im Fernsehen, aus der Weite aufgenommen, oft an einen wandelnden Tintenfleck erinnert hatte.
“So werde ich oft von Euch genannt, mein eigentlicher Name ist...”
Die nachfolgende Mischung aus seltsam betonten Knurr-, Jaul- und Belltönen entzog sich Oma Hertas akustischem Verständnis, ganz zu schweigen von ihrer Fähigkeit diese Laute selber zu artikulieren. Glücklicherweise fügte der Tourist hinzu:
“... aber du kannst mich Chaal nennen, diese für euch aussprechbare Lautkombination ist eine akzeptable Näherung an meine Bezeichnung. Die Unordnung, von der du sprichst, habe aber nicht ich gebracht, sondern die einzelnen Menschen, die auf mich unnötig hysterisch reagierten. Ich selber wandere nur umher, nehme Sinneseindrücke auf und spreche mit Leuten.”
“Chaal.” wiederholte Oma Herta den für sie seltsamen Laut, der mit dem gleichen kehligen Ton begann, mit dem das Wort ‘Bach’ endete.
“Darf ich hereinkommen?”
“Habe ich eine Wahl?”
“Bezüglich meiner Anwesenheit nicht, aber bezüglich der Art, wie du auf sie reagieren willst.”
“Dann putz dir bitte die Schuhe... die Füße ab, wenn du hereinkommst. Ich koche gerade Mittagessen. Willst du auch etwas abhaben? Du kommst ja viel rum, bist du da nicht hungrig?”
“Ich werde gerne alles probieren, was du mir anbietest, aber du brauchst mich nicht zu verpflegen.”
Im Hereinkommen setzte der Tourist die Tatzen seiner Hinterläufe, nein, die Spitzen seiner Füße, auf die Hausmatte und wischte sie wie verlangt zwei mal ab. Oma Herta konnte sich nicht an seine Beinanatomie gewöhnen, entweder konnte man es so sehen, dass der Tourist extrem lange Füße hatte und ständig auf den Zehen lief oder dass er ein zweites Paar Knie hatte, die nach hinten gerichtet waren. Sie beschloss, ihn als Zehenspitzenläufer einzuordnen, da ihr die andere Variante ein leichtes Gefühl von Übelkeit bescherte.
Der Tourist folgte ihr durch den Flur in ihre Küche und erzeugte auf dem Linoleumboden Geräusche, die sie schmerzlich an ihre kürzlich verstorbene Katze Minka erinnerten. Immer wenn sie Minka hier gehört hatte, musste sie aufpassen, dass diese beim Herumlaufen nichts aus den Regalen warf. Oma Herta fiel etwas ein und schaute an den Knien des Touristen entlang. Sie sagte:
“Pass bitte mit deinem Schweif auf, in den Regalen stehen viele Dinge, die mir wertvoll sind und die herunterfallen könnten.”
Chaal legte seinen Kopf ein wenig schief und schien von dieser Anweisung überrascht zu sein.
“Mein Schweif ist seit langem ein Teil von mir und ich kann dir versichern, dass ich ihn stets genau so unter Kontrolle habe wie meine Beine und Arme.”
“Oh, ich wollte Dich nicht verärgern, ich habe mich nur daran erinnert, dass Minka mir öfter Sachen aus dem Regal geworfen hat. Minka, das war meine Katze. Nebenan habe ich Bilder von ihr. Du kannst sie anschauen wenn Du magst.”
Der Tourist verzog seine Gesichtszüge zu einem seltsam anmutenden aber eindeutig als solchem identifizierbaren Lächeln und sagte:
“Man kann mich nur unter sehr ungünstigen Umständen verärgern, also keine Sorge. Dennoch bin ich keine Katze, ich bin Chaal. Erinnere ich Dich an sie? Später werde ich mir sehr gerne deine Bilder anschauen und Ähnlichkeiten prüfen aber jetzt ist noch nicht die Zeit dazu.”
Chaal nahm eines ihrer Keramikfigürchen aus dem Regal und betrachtete es eingehend. Es handelte sich um einen Engel mit großem Kopf und kleiner Harfe, der mit dicken Fingern an seinem Instrument zupfte und den Mund weit aufgerissen hatte. Erst jetzt fiel Oma Herta auf, dass der Tourist zwar auf Tatzen lief aber dennoch Finger und Daumen hatte, auch wenn ihre Form und Anordnung nicht der einer menschlichen Hand entsprach. Momentan drehte er das Figürchen abwechselnd um verschiedene Achsen.
Sie erinnerte sich an die Fernsehübertragungen und daran, dass tatsächlich noch nie jemand den Touristen verärgert hatte. Nicht einmal der wütende Mob, der ihn einmal auf seinem Weg abgefangen hatte, hatte es geschafft, eine solche Emotion bei ihm zu bewirken. Die Bilder hatten Oma Herta damals schockiert und beschämt. Menschen schlugen wie in Raserei mit Knüppeln und anderen Dingen auf ihn ein und bewarfen ihn mit Steinen, doch seine einzige Reaktion bestand darin, anzuhalten und sich die Szenerie mit anscheinend großem Interesse anzuschauen. Die Schläge schienen keinen Einfluss auf ihn zu haben und so zogen sich die Leute nach und nach zurück, entweder weil sie durch umherfliegende Dinge verletzt worden waren oder weil sie am Ende ihrer Kräfte frustriert vom Touristen abließen. Einer der Angreifer war am Ende zu erschöpft, um fortzugehen. Auf wackeligen Beinen stand er vorm Touristen und stützte nach Atem ringend die Hände auf die Knie. Auf dem Boden rollte die fallengelassene Metallstange, die er vorher voller Hass geschwungen hatte. Bevor Chaal weiterging, beugte er sich zu dem Mann herunter und sagte ihm etwas ins Ohr, woraufhin sich dessen Gesichtszüge leidend verzogen. Nachdem der Tourist sich aufgerichtet hatte und bereits einige Meter entfernt war, fiel der Mann auf die Knie und begann zu schluchzen. Wie sich später herausstellte, war er arbeitslos und kurz zuvor von seiner Frau verlassen worden. Der Tourist hatte zu ihm gesagt:
“Die Unerträglichkeit deines Schicksals hat nichts mit mir zu tun.”
Mittlerweile hatte Chaal das Engelsfigürchen wieder an seinen Platz gestellt und war zu der Holztruhe in der Ecke des Raumes gegangen. Mit einer fließenden Bewegung hockte er sich mit seinen Hinterläufen auf den Truhendeckel, verharrte in dieser Position und schien Oma Herta anzusehen. Oma Herta sagte:
“Was passiert jetzt? Soll ich irgend etwas machen?”
“Lebe so wie sonst auch, beachte mich einfach nicht. Du sagtest, dass du gerade kochst. Lass dich dabei nicht stören.”
“Wie soll ich denn eine zwei Meter große schwarze Katze, die redet und nicht von dieser Welt stammt nicht beachten? Ich bin ja schon nervös, wenn ich dich nur in einem Bericht im Fernsehen sehe, was meinst du wie es mir jetzt geht, wo ich dich auf meiner Familientruhe hocken sehe? Was tust du dort eigentlich?”
“Ich bin keine Katze.”
“Dein Fell ist wie das von Minka.”
“Das ist kein schlüssiges Argument.”
Oma Herta seufzte.
“Bitte, ich bin doch nur eine alte Frau. Was erwartest du von denn mir? Wenn du mit jemandem hochwissenschaftlich diskutieren willst, solltest du einen Professor besuchen oder einen Politiker vielleicht!”
“Es liegt mir fern, dir Unwohlsein zu verursachen, dennoch bin ich nicht gekommen, um bei einem Politiker oder Wissenschaftler zu sein, sondern bei dir. Warum das so ist, weiß ich selber nicht, vielleicht wären diese Leute zu vorhersagbar in ihrem Verhaltensmuster.”
Oma Herta schaute Chaal verständnislos an.
“Moment, du weißt nicht genau, warum du gerade bei mir an der Tür geklingelt hast?”
“Doch.”
“Und warum?”
“Es schien richtig zu sein. Nenne es Instinkt wenn du möchtest, das beschreibt meinen Entscheidungsprozess recht genau. Übrigens habe ich dich vorhin in deiner Tätigkeit unterbrochen, daher möchte ich dich darauf aufmerksam machen, dass dein Topf schon länger auf dem Herd steht als vorgesehen.”
“Du liebe Zeit!”
Oma Herta eilte zum Herd, schob den Topf von der Flamme, drehte diese klein und hob den Deckel, woraufhin sich eine beachtliche Dampfwolke in der Küche ausbreitete. Kurzerhand nahm sie einen kleineren Topf und goss mit ihm kaltes Wasser in den großen nach. Danach stellte sie den großen Topf wieder auf die Flamme.
“So. Und jetzt habe ich einen Vorschlag”, sagte sie zum Touristen, während sie sich wieder der Kartoffel und dem Schälmesser zuwendete.
“Was genau schlägst du vor?”
“Du kannst bleiben und mich beobachten. Ich werde auch mit dir reden und dir Fragen beantworten. Aber ich möchte nicht, dass du mich wie eine Laborratte behandelst und dich wie ein Verhaltensforscher benimmst. Ich finde, dass du mir ein bisschen gutes Benehmen schuldest, wenn du in meiner Wohnung bist. Also wirst du von der Kiste steigen - auf so eine Idee wäre ja nicht mal meine Enkelin gekommen! - und dich wie ein Gast benehmen, denn mit Gästen kenne ich mich aus. Da weiß ich, was ich zu tun habe und dann bin ich auch sicher nicht mehr so nervös, als wenn du dich benimmst wie ein verrücktes Wesen aus einer anderen Welt! Und als mein Gast darfst du mich übrigens gerne Oma Herta nennen, wie es alle anderen auch tun.”
“In meiner jetzigen Position würde ich dich am wenigsten in deinem Tagesablauf behindern, dir am wenigsten zur Last fallen und könnte trotzdem den Großteil deiner Wohnung beobachten, aber dein Vorschlag enthält gute Argumente und ist akzeptabel, Oma Herta”, sagte der Tourist, stieg von der Kiste und setzte sich auf einen Stuhl an den Küchentisch. Seinen Schweif schob er dabei beiläufig durch die Lücke in der Lehne und schlang ihn um ein Stuhlbein.
“Ich vermute, dass dies ein angemessenes Verhalten für einen Gast ist.”
Oma Herta nickte und schälte die Kartoffel zu Ende.
“Ein netter Gast unterhält übrigens auch die Frau des Hauses während sie kocht. Magst Du mir vielleicht etwas erzählen?”
“Was möchtest du hören, Oma Herta?”
“Naja, wer du bist und woher du kommst und was du so erlebt hast. Wie ist es so bei dir zu Hause?”
“Diese Dinge sollten dir bereits bekannt sein, du weißt wer ich bin und woher ich komme. Es sei denn, du möchtest die Raumkoordinaten meiner Heimat kennen, was ich nicht vermute. Was ich nennenswertes erlebt habe, hat alles auf dieser Welt stattgefunden und wurde in euren Medien so oft berichtet, dass du sicher alles mitbekommen hast. Als Wanderer ist mein zu Hause dort, wo ich gerade bin, daher brauche ich es dir nicht zu beschreiben, denn du weißt, wie dein Lebensraum aussieht.”
Oma Herta blickte von dem Sellerie auf, den sie mittlerweile angefangen hatte zu zerschneiden.
“Du bist aber ein schwieriger Gesprächspartner. Habe ich das richtig verstanden, du bist das erste mal als Tourist unterwegs und dabei direkt bei uns auf der Erde gelandet?”
“Nicht ganz, aber die anderen Orte die ich bisher aufgesucht habe, waren Welten ganz ohne oder mit nur wenigem unspektakulären Leben. Es war schön dort, aber der Unterhaltungswert eurer Welt ist von ganz anderer Art.”
“Da fällt mir ein, es gibt etwas was ich überhaupt nicht verstehe. Wie hast du es eigentlich geschafft, dass dir alle Regierungen weltweit gestattet haben, zu gehen wohin du willst und dir alles anzusehen, was dich interessiert? Das sind doch sonst immer so Geheimniskrämer, die lieber die Leute erschießen, als dass ihre Informationen in fremde Hände fallen. Das hab ich zumindest im Fernsehen gesehen.”
“Du weißt aber, dass Übertreibung und Dramaturgie Kernelemente eurer Medien, insbesondere des Fernsehprogramms, sind? Nicht alles, was du im Fernsehen siehst, ist wahr, Oma Herta.”
“Ich bin doch nicht dumm. Natürlich weiß ich das!”
“Dein Unterbewusstsein nimmt diese Informationen aber dennoch auf und kann sehr schlecht zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden.”
“Aha? Hm, das wusste ich noch nicht.”
Oma Herta überlegte und wusste tatsächlich nicht mehr, ob das, was sie eben gesagt hatte, aus einem Film oder einer Dokumentation stammte. Rasch schüttelte sie den Gedanken ab und sagte:
“Aber was ist mit meiner Frage? Warum darfst du das tun, was du tust?”
“Das wurde auf der großen Konferenz kurz nach meiner Ankunft entschieden.”
“Aber die lassen dich doch nicht einfach so hier herumstöbern. Was hast du gemacht, um sie zu überzeugen?”
“Dasselbe, was jeder Reisende für das Besuchen eines Reiseziels tut: Bezahlen. Im Gegenzug für meinen Aufenthalt habe ich allen Regierungen eine feste, bevölkerungszahlabhängige Rohstoffmenge angeboten, sowie einen Besuchsbonus wenn ich mich auf ihrem Hoheitsgebiet aufhalte.”
”Und für Rohstoffe gewähren sie dir Einsicht in ihre geheimsten Geheimnisse? Das kann ich mir nicht vorstellen! Dann würde nämlich nicht so ein großes Geheimnis darum gemacht, was damals bei der großen Konferenz genau geschehen ist.”
”Das stimmt und es gibt auch noch einen zweiten Grund, aber mir wurde nahegelegt, dass ich über ihn nicht sprechen sollte. Diese Bitte war sehr dringlich und basierte auf guten Argumenten, weshalb ich ihrer entspreche und auch weiterhin entsprechen werde.”
“Hm, jetzt hast Du meine Frage beantwortet und doch nicht beantwortet. Eigentlich bin ich jetzt genau so schlau wie vorher. Kannst du mir nicht irgend etwas erzählen, das ich noch nicht aus den Nachrichten weiß?”
Oma Herta rührte ein letztes Mal das Essen um, stellte Teller und Besteck auf den Tisch und begann, dem Touristen Gemüse auf den Teller zu füllen.
“Nicht soviel bitte, Oma Herta. Ich möchte nur probieren und das Essen war schließlich nur für dich alleine gedacht.”
“Blödsinn, wenn du mein Gast bist, dann isst du auch anständig. Ich werde uns auch gleich noch ein paar Schnittchen machen, dann werden wir schon satt werden.”
“Wie du meinst. Das riecht interessant, Oma Herta. Beginnen wir nun sofort oder möchtest du noch eine rituelle Handlung vor dem Essen vornehmen?”
Oma Herta sah ihn verständnislos an.
“Wie bitte?”
“Ein Mann, den ich in Bangladesh besucht habe, hat vor jeder Mahlzeit eine Viertelstunde meditiert. Ich habe viele weitere Zeremonien zur Nahrungsaufnahme beobachten können.”
“Guten Appetit!” sagte Oma Herta und lächelte dabei. Der Tourist lächelte zurück (zumindest nahmen seine Gesichtszüge wie schon vorher einen Ausdruck an, der bei seiner Anatomie einem Lächeln vermutlich am nächsten kam) und sah zu, wie Oma Herta den ersten Bissen nahm.
“Guten Appetit”, sagte auch er, nahm das Besteck ein wenig ungeschickt zur Hand und begann zu essen. Nach dem ersten Happen hielt er kurz inne und seine Ohren bewegten sich ein wenig nach hinten, dann wieder nach vorn in die Ausgangslage.
“Faszinierend”, sagte er.
“Danke. Glaube ich”, sagte Oma Herta mit einem Schmunzeln. Mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass ihr Besucher doch ganz angenehme Gesellschaft sein könnte.
“Um auf deine Bitte von gerade eben einzugehen - die meisten Regierungen haben sich bestimmte Isotope von Uran, Wasserstoff oder Helium gewünscht. Das wissen nicht viele Menschen.”
“Aha. Und was kann man mit diesen Isodings machen?”
“Atom- und Fusionskraftwerke betreiben. Oder Massenvernichtungswaffen bauen.”
Oma Herta erbleichte ein wenig und sah ihn groß an. Die gute Laune des Touristen blieb ungetrübt, doch Oma Herta machte sich besorgte Gedanken. Den Rest des Mittagessens über wechselte sie kein Wort mehr mit Chaal.
Als Oma Herta das Geschirr abspülte, wichen langsam die dunklen Gedanken von ihr und sie begann leise vor sich hin zu summen, wie sie es oft beim Spülen tat. Sie vergaß sogar kurz Chaals Anwesenheit, der noch immer am Tisch saß und ihr nun interessiert zusah und zuhörte. Nach dem Spülen ging Oma Herta in Richtung Wohnzimmer, blickte Chaal an und sagte:
“So, nach dem Spülen setze ich mich immer ins Wohnzimmer. Magst du mitkommen?”
“Gerne.”
Der Tourist wand sich geschmeidig aus dem Stuhl und folgte Oma Herta zügig, aber ohne Hektik. Sie fühlte sich wieder an ihre Katze erinnert, die stets eine gewisse Würde wahrte, selbst wenn sie quer durch die Wohnung flitzte. Ihr Blick fiel auf die Fotos, die im Wohnzimmerregal standen, und sie sagte:
“Sieh mal, das ist meine Minka. Findest du nicht auch, dass ihr Fell aussieht wie deins?”
Chaal blickte auf die Bilder im Regal, von denen die meisten eine fast ganz schwarze Katze in verschiedenen Zeiten ihres Lebens zeigten, vom kleinen jungen Pelzknäuel in der Hand einer jüngeren, liebevoll dreinblickenden Oma Herta, bis hin zu einer alten Katzendame, die vor den Rippen eines Heizkörpers lag, den Kopf und Schwanz würdevoll erhoben. Zwei ihrer Pfoten waren weiß und ein Strich auf ihrem Kopf ebenso. Chaal sah zu Oma Herta, die die Bilder fast ebenso liebevoll ansah, wie es ihre jüngere Version mit der kleinen Katze auf dem Foto tat.
“Ich verstehe deine Assoziation, unser Fell sieht bei oberflächlicher Betrachtung tatsächlich ähnlich aus, abgesehen von den weißen Elementen. Dennoch finde ich nicht, dass ich Minka sehr gleiche. Unsere Gesichtszüge sind sehr unterschiedlich.”
Oma Herta ging zu ihrem Schaukelstuhl hinüber, setzte sich mit einem Seufzen langsam hinein und sagte:
“Früher sprang Minka immer nach dem Mittagessen auf meinen Schoß und ließ sich kraulen. Dann hat sie geschnurrt, das war immer wunderschön. Weißt Du wie es klingt, wenn eine Katze schnurrt?”
“Ja, das habe ich bereits gehört. Ich weiß auch, dass es sich beim Katzenschnurren um einen Ausdruck des Wohlbehagens handelt. Erstaunlicherweise gibt es bei meinem Volk ein ähnliches Verhalten in gleichem Zusammenhang, obwohl ich - wie gesagt - keine Katze bin.”
Chaal blickte weiter auf die große Menge Bilder, die im Regal standen. Sie zeigten nicht nur Minka, sondern auch einige Personen, die Oma Herta ähnlich sahen. Chaal schloss daraus, dass es sich um Verwandte von ihr handeln musste. Oma Herta war währenddessen in Erinnerungen an frühere Zeiten mit Minka versunken und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Chaal nahm ein Bild in die Hände, das eine junge Frau und einen jungen Mann zeigte sowie zwei kleine Kinder. Die Frau und die Kinder hatten große Ähnlichkeit mit Oma Herta. Er blickte zu ihr herüber.
“Du hast mehr Bilder von diesem Geschöpf als von deinen Familienmitgliedern. Steht die verschiedene Anzahl der Bilder in Zusammenhang mit der Bedeutung, die du den Abgebildeten zumisst?”
“Bitte? Manchmal drückst du dich wirklich seltsam aus. Ach, ich verstehe was du meinst! Aber nein, so ist das doch nicht gedacht. Meine Kinder leben doch noch und besuchen mich auch ab und zu. Minka ist leider fort und ich habe von ihr nur noch die Bilder. Das ist alles und heißt nicht, dass ich meine Familie weniger lieb hätte als meine Katze!”
Oma Herta zeigte wieder den erhobenen Zeigefinger mit der tadelnden Handbewegung, diesmal aber mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
“Aha. Ich denke, die Phrase ‘die Erinnerung lebendig halten’ passt zu deiner Auswahl an Bildern.”
“Ja, das stimmt wohl.”
Chaal sah die Bilder weiter an, blickte sich dann im Raum um und stellte fest, dass ein weiteres einzelnes Bild etwas versteckt neben dem Sofa auf einem kleinen Tischchen stand. Es zeigte das Gesicht eines Mannes, der ihm unbekannt war, da er nicht auf den anderen Bildern erschien.
“Wer ist das?”, fragte Chaal, während er sich vor das Tischchen hockte und das Bild ansah.
“Das ist Ernst, mein Ehemann. Das ist das letzte Bild, was von ihm aufgenommen wurde bevor er starb”, antwortete Oma Herta mit einer Stimme, in der Trauer und Verlust mitschwangen.
“Er sieht sehr gesund und vital aus, gar nicht so als ob es ihm schlecht ginge. Habt ihr lange Zeit vor seinem Tod keine Bilder mehr von ihm gemacht?”
“Er starb letztes Jahr bei einem Unfall, das Bild ist wenige Wochen davor entstanden.”
“Ich verstehe. Aber warum steht von ihm nur das eine Bild hier während du von deiner Katze so viele hast?”
“Minka hat ihr Leben gelebt und ist in hohem Alter an Schwäche gestorben. Von ihr konnte ich mich verabschieden. Mein Mann wurde mir auf einen Schlag entrissen! Er hätte noch viele Jahre vor sich gehabt, mit mir an seiner Seite. Es tut weh, sich daran zu erinnern, zu wissen, dass es anders hätte sein können! Verstehst du das denn nicht?”
Oma Hertas Gesicht hatte sich zu einem Ausdruck von Leid und Trauer gewandelt. Sie nahm ihre Hände vors Gesicht und schluchzte so sehr, dass ihr Oberkörper erzitterte. Chaal stand auf, ging zu ihr herüber und hockte sich links von ihrem Schaukelstuhl hin. Er erinnerte sich, dass trauernde Menschen Trost durch Nähe empfanden und hoffte, auf diese Weise Oma Hertas emotionales Gleichgewicht wiederherzustellen, dass er offensichtlich durch seine Fragen empfindlich gestört hatte. Er schien sehr überrascht zu sein, als Oma Herta sich nach links neigte und den Kopf an seine Schulter lehnte, wich aber nicht zurück. Zwischen den Schluchzern sagte sie durch ihre Hände, die sie immer noch vors Gesicht hielt, hindurch:
“Er fehlt mir so sehr!”
Chaal wartete, bis sie sich etwas beruhigt und ihre Tränen mit einem bestickten Taschentuch getrocknet hatte. Dann sagte er:
“Ich möchte dir keinen Schmerz zufügen. Entschuldige, dass ich dich an ihn erinnert habe. Bitte fahre mit deinem normalen Alltag fort und sei nicht mehr traurig.”
Oma Herta brauchte noch einen Moment, um sich weiter zu beruhigen. Dann sagte sie:
“Ist schon gut, eigentlich muss ich mich ja entschuldigen, dass ich dir etwas vorheule. Vor anderen ist mir das immer furchtbar peinlich. Sollen wir jetzt etwas fernsehen?”
“Natürlich, bitte handle wie es dir beliebt. Ich werde mich nebenbei noch ein wenig umsehen. Habe ich dich richtig verstanden, dass dir deine Trauer vor mir nicht peinlich ist?”
Während Chaal aufstand und das Sofa untersuchte, kramte Oma Herta die Fernbedienung des Fernsehers zwischen einigen Wollknäueln und ihren Stricksachen hervor und schaltete ihn ein. Zu Chaal sagte sie:
“Du bist irgendwie anders, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in deiner Achtung sinke, wenn du mich weinen siehst.”
“Das stimmt, Oma Herta. Ist es so, dass Menschen in der Achtung ihrer Umgebung sinken, wenn sie beim Weinen beobachtet werden?”
“Ehrlich gesagt weiß ich das gar nicht. Wenn ich es recht bedenke, kann man das wohl nicht so allgemein sagen.”
“Warum ist es dann bei dir so?”
“Ich glaube, weil ich erzogen wurde, immer stark zu sein. Wer weint, ist nicht stark. Früher war es immer sehr wichtig, eine starke Person zu sein.”
“Mußt du auch heute noch immer stark sein, Oma Herta? Ich habe bisher die Erfahrung gemacht, dass das von Menschen deines Alters nicht mehr erwartet wird.”
“Das stimmt, aber ich habe mich wohl daran gewöhnt, für alle stark zu sein.”
“Für mich mußt du nicht stark sein. Sei einfach du selbst und laß dich von mir nicht stören.”
Oma Herta sah den Touristen mit einem seltsamen Gefühl an. Obwohl sie ihn erst ein paar Stunden kannte, hatte sie nicht nur keine Angst mehr vor ihm, sie hatte sogar das vage Empfinden, ihm vertrauen zu können. Sie wandte sich dem Fernseher zu, doch es fiel ihr schwer, sich auf ihre Lieblingsserien zu konzentrieren.
Abends bereitete Oma Herta sich ein paar Scheiben Brot und etwas Obst zu, bevor sie zu ihrem Schaukelstuhl zurückkehrte. Chaal hatte mittlerweile angefangen, das vierte Buch aus ihrem Regal durchzublättern und hatte ihr Angebot, etwas mitzuessen dankend abgelehnt. Im Fernsehen hatten die Nachrichten angefangen, die Oma Herta nur am Rande hörte. Immer noch grübelte sie darüber nach, welches seltsame Empfinden Chaal in ihr weckte. Dann jedoch erregte eine Meldung ihre Aufmerksamkeit und auch Chaal wandte seinen Kopf dem Fernseher zu. Der Nachrichtensprecher verkündete gerade:
“... auch heute gibt es keine neuen Informationen, wo sich der Tourist momentan aufhält. Das seltsame außerirdische Wesen hat sich vor drei Tagen wieder einmal der Beobachtung durch die Medien entzogen und wir können nur spekulieren, wo es sich momentan aufhält. Experten zufolge lässt das Muster seiner Wanderungen momentan mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass es sich in Nordafrika, genauer in Algerien oder Libyen aufhält. Führende Boulevardblätter in beiden Staaten haben hohe Belohnungen auf konkrete Hinweise auf seinen Standort ausgesetzt und die Verkaufszahlen von Einmalkameras sind sprunghaft angestiegen. Damit zu den Börsenmeldungen mit meiner Kollegin...”
Oma Herta sah zu Chaal, der zu lächeln schien. Sie lächelte auch verschmitzt und sagte:
“Ich fasse es nicht. Es macht Dir Spaß, alle an der Nase herumzuführen?”
“Ja, irgendwie schon. Außerdem benehmen sich die Menschen anders, wenn sie glauben, mir innerhalb der nächsten Tage begegnen zu können. Sie sind dann so hysterisch.”
“Ich verstehe was du meinst. Mir ist es auch lieber, wenn niemand weiß, dass du hier bist. Eine Horde von Pressefritzen könnte ich nie und nimmer in meiner Wohnung ertragen und vorm Haus will ich die auch nicht haben!”
Gut gelaunt schaute Oma Herta noch einen Kriminalfilm und strickte dabei. Sie hatte darin viel Übung und brauchte daher nur ab und an auf ihr Strickzeug zu schauen. Chaal beobachtete sie dabei, sagte aber nichts. Am Ende des Films schaltete Oma Herta den Fernseher aus und fragte:
“Magst du Krimis? Ich schaue sie sehr gerne. Das war wieder sehr spannend heute!”
“Ich bin mir nicht sicher. Die Logik und das Vorgehen der Ermittler zu verfolgen war sehr angenehm, aber dennoch bin ich froh, dass mein Volk die gezeigten Konflikte vor langer Zeit abgelegt hat. Alles wurde viel schöner danach.”
“Beneidenswert”, sagte Oma Herta, stand auf und ging in Richtung Bad.
Chaal folgte ihr ins Bad, sah sich dort um und fragte einige Dinge, die Oma Herta immer als sehr nebensächlich erschienen waren. Als sie ihn bat, das Bad zu verlassen, kam er dem nach und widmete sich einem weiteren Buch. Kurz darauf ging Oma Herta in ihr Schlafzimmer und begann sich umzukleiden. Seltsamerweise machte es ihr nichts aus, dass Chaal mit im Zimmer stand, aber er schien ohnehin mehr an dem Buch interessiert zu sein als an ihr oder dem Zimmer. Vielleicht lag es auch an seiner Fremdartigkeit, schließlich hatte es ihr auch noch nie etwas ausgemacht, sich vor ihrer Katze umzuziehen. Kurz bevor sie sich ins Bett legte, fiel ihr noch etwas ein. Sie hatte Chaal die ganze Zeit mit Minka verglichen und darüber völlig vergessen, dass er nun mal keine Katze war und sich dementsprechend wohl kaum im Katzenkörbchen, das immer noch in einer Zimmerecke stand, zusammenrollen würde. Sie sagte:
“Ach, entschuldige bitte! Ich habe ganz vergessen, dich zu fragen wo du schlafen möchtest! Soll ich dir das Gästebett aufstellen?”
“Danke Oma Herta, aber das ist nicht erforderlich. Ich schlafe nur sehr selten und meist nicht in einem Bett. Außerdem wäre die unbenutzte Seite deines Bettes völlig ausreichend für mich, du bräuchtest also kein zusätzliches aufzustellen.”
Oma Herta sparte sich Erklärungen, warum sie lieber alleine im Bett liegen wollte und fragte nur:
“Was wirst du dann heute Nacht tun? Wenn du noch lesen möchtest, geh bitte ins Wohnzimmer. Ich möchte zum Schlafen das Licht ausschalten.”
“Ich werde mich noch ein wenig umschauen und dir später beim Schlafen zusehen. Keine Sorge, ich kann sehr leise sein und werde dich nicht wecken.”
“Wie du meinst. Dann sehen wir uns morgen früh, oder?”
“Ja, ich werde da sein.”
“Dann gute Nacht, Chaal.”
“Gute Nacht, Oma Herta.”
Oma Herta legte sich unter ihre Decke, schaltete das Licht aus und hörte noch, wie sich die Schlafzimmertür bewegte. Chaals Schritte waren unhörbar, aber sie glaubte noch das Rascheln von Papier wahrzunehmen. In dieser Nacht schlief sie schnell und mit Ruhe im Herzen ein, selbst ihre Träume waren angenehm. Sie war ein kleines Mädchen und feierte ihren Geburtstag mit ihren Freunden. Auch Chaal war da und ließ sie auf sich reiten, nachdem sie die Kerzen auf der Torte ausgepustet hatte. Sie kuschelte sich in sein Fell und ritt um den Kuchen, während ihre Freunde lachten und sie anfeuerten.
“Guten Morgen, Oma Herta”, hörte Oma Herta wenige Sekunden nachdem sie erwacht war.
Sie rieb sich die Augen, setzte sich auf und sah Chaal an, der mit einem Buch in der Hand an einer Wand lehnte. Einen Moment lang war sie von der schwarzen Gestalt irritiert und dachte, dass sie noch immer träumte, dann aber erinnerte sie sich an gestern und daran, dass der Tourist tatsächlich bei ihr war.
“Guten Morgen, Chaal. Wie war die Nacht?”
“Faszinierend. Die Figuren, die du im Küchenregal stehen hast, haben alle ein paar geometrische Gemeinsamkeiten, die in unterschiedlichen Variationen und Gewichtungen vorkommen. Die einzige Ausnahme ist die Skulptur eines Turmes.”
“Den hat mir meine Enkelin geschenkt. Alle anderen habe ich mir selbst ausgesucht. Du hast meinen Geschmack was Figuren angeht also auf geometrische Muster reduziert? Das ist irgendwie ernüchternd.”
Oma Herta zog einen Bademantel über, deckte das Bett auf und öffnete das Fenster weit zum Lüften. Als sie sich umdrehte erschrak sie und ein heißer Schauer lief ihr den Rücken herunter. Chaal stand mitten an der weißen Wand, die dem Fenster gegenüber lag. Jeder, der zufällig hereinschaute, würde ihn dort stehen sehen! Schnell zog sie die Gardine vor das geöffnete Fenster und sagte:
“Geh bitte da weg, man kann dich doch durchs Fenster sehen!”
“Na gut”, sagte Chaal ohne den Blick aus dem Buch zu heben. Er ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. Genau wie am Tag zuvor schlang er seinen Schweif um ein Stuhlbein.
Oma Herta begann mit ihrer Morgentoilette und wunderte sich über ihre heftige Reaktion. Noch immer schlug ihr Herz schneller als normal. Was befürchtete sie? Selbst wenn jemand in ihr Schlafzimmer geschaut hätte, hätte kaum jemand den schwarzen Flecken an ihrer Wand sofort als den Touristen identifiziert. Auch dann wäre nicht viel passiert. Wenn dem Augenzeugen jemand geglaubt hätte, hätte sie noch immer alles abstreiten können. Presseleute konnten zwar lästig sein aber mussten sich an Regeln halten. Durch ihre Gardinen hätte man nichts erkennen können und die Türklingel und das Telefon konnte sie abschalten. Über kurz oder lang hätten sie aufgegeben, zumal der Tourist ohnehin in einem anderen Land sein sollte. Zu ihrem Erstaunen erkannte Oma Herta, dass sie befürchtete, man könnte ihr Chaal wegnehmen und vor allem, dass sie das nicht wollte, da sie seine Gesellschaft als angenehm empfand. Als sie in die Küche kam, sah Chaal sie an.
“Es scheint dir sehr wichtig zu sein, dass mich niemand bei dir sieht. Fürchtest du die Medien so sehr? Außerdem wird mich ohnehin jeder sehen, der dich besuchen kommt.”
“Wenn ich es vermeiden kann, will ich die Presse nicht hier haben. Das wäre zu viel Aufregung für mich. Außerdem bekomme ich nur selten Besuch, du bist seit zwei Wochen der erste.”
“Du hast doch Verwandte und vermutlich auch Freunde, besuchen die dich nicht? Danke, Oma Herta, ich möchte kein Brötchen essen.”
Oma Herta hatte sich und dem Touristen Teller und Messer hingestellt und ein Brötchen auf seinen Teller befördert. Jetzt ging sie zum Kühlschrank herüber.
“Ach nimm doch wenigstens eines. Möchtest Du Wurst oder Käse oder Marmelade dazu? Ich koche auch noch Eier, isst du eines mit?”
“Ein Ei probiere ich gerne, ansonsten nehme ich das, was du nimmst”, sagte Chaal aber sah Oma Herta weiterhin erwartungsvoll an.
Sie seufzte leise. Anscheinend kam sie um dieses Thema nicht herum. Sie sagte:
“Meine Freundin Kuni ruft ab und zu an, aber sie kann nicht mehr gut laufen und kommt nur zu Besuch wenn ich Geburtstag habe. Meine Kinder wohnen etwas weiter entfernt und besuchen mich nicht so oft, die Fahrt dauert ja auch. Sie haben nicht viel Zeit, aber einmal im Monat schauen sie vorbei. Das nächste mal will ich dann auch den Pullover fertig haben, an dem ich noch stricke.”
“Du sagst das so, als gäbe es weitere Gründe, weshalb deine Kinder dich nur selten besuchen. Besteht ein Konflikt zwischen Euch?”
“Nein, nein. Gestritten haben wir uns noch nie, wir wissen nur nicht mehr so recht, was wir dem anderen sagen sollen. Wir haben mittlerweile ganz unterschiedliche Interessen und uns irgendwie auseinandergelebt. Nur meine Enkelin freut sich immer, mich zu besuchen. Es ist doch so, junge Leute sind jung, sie wissen mit alten Menschen wie mir nicht viel anzufangen. Das wissen nur alte Menschen, verstehst Du?”
“Nein, aber das erwarte ich auch nicht. Schließlich bin ich kein alter Mensch.”
Oma Herta lächelte.
“Ein Mensch bist du wirklich nicht, aber ein junger Spund scheinst du mir auch nicht mehr zu sein. Sag doch mal, wie alt bist du eigentlich?”
“Das kann ich dir nicht beantworten, denn ich bin anders als ihr. Ein Mensch reift innerhalb eines gewissen Zeitraumes aus einzelnen Zellen heran und entwickelt währenddessen Bewusstsein. Der Ablauf meiner Existenz fing völlig anders an und es dauerte eine ziemlich lange Zeit bis ich meine jetzige finale Wesenheit erreicht hatte. Ich könnte den Zeitpunkt des Hinzufügens meines letzten Aspektes als Moment meiner Geburt zugrunde legen, wenn ich also ab damals rechne, bin ich nach eurer Zeitrechnung... hmm...”
Chaal legte den Kopf schief und überlegte. Oma Herta unterbrach ihn:
“Sag mir doch einfach, wie alt du dich fühlst. Das finde ich viel wichtiger als irgendwelche Zahlen.”
“Das ist einfach. Ich fühle mich jung, denn ich bin glücklich.”
“Glücklich?”
“Ja, denn ich bin auf Reise und besuche interessante Orte. Bist Du nicht glücklich, wenn Du auf Reise bist?”
“Ich war schon lange nicht mehr auf Reise”
“Auch früher nicht?”
Oma Herta stellte zwei gekochte Eier in Eierbechern auf den Tisch.
“Doch schon, aber ich kann nicht behaupten, dass das Reisen mich glücklich gemacht hat. Ich habe mich in jedem Urlaub entspannt und vom Alltagsstress erholt, aber glücklich war ich durch meine Lebensumstände, nicht durch die Reise.”
“Ich denke, dass mich auch die Umstände meiner Existenz glücklich machen. Dann bin ich also sozusagen doppelt glücklich.”
Chaal lächelte Oma Herta an und zeigte auf das Ei.
“Guten Appetit, Oma Herta. Wie isst man das?”
Über den Morgen erklärte Oma Herta dem Touristen nicht nur, wie man ein gekochtes Ei köpft und auslöffelt, sondern folgte einer spontanen Eingebung und erzählte ihm alles wissenswerte über die Lebensmittel, die sie momentan im Kühlschrank hatte. Mit dem Argument, dass das eigene Ausführen einer Tätigkeit eine viel intensivere Erfahrung wäre als reines Beobachten, brachte sie ihn außerdem dazu, ihr beim Vorbereiten des Mittagessens zu helfen. Chaal stellte sich äußerst geschickt beim Gemüseschneiden an und lächelte, als Oma Herta ihn dafür lobte. Nach dem Mittagessen putzte Oma Herta noch die Küche, während er ihre Putzutensilien inspizierte und entgegen ihres Rates auch probierte. Danach begab sie sich ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher an und nahm ihr Strickzeug zur Hand, während sie sich fragte, wie man nur den Geschmack von Essigreiniger, Scheuermilch, Allzweckreiniger und Flüssigseife ertragen konnte, ohne dabei auch nur die Miene zu verziehen.
Chaal nahm wieder ein Buch zur Hand, schlug es aber nicht auf, sondern setzte sich Oma Herta gegenüber hin und beobachtete sie eine Weile.
“Oma Herta?”, fragte er nach zehn Minuten.
“Oh, kannst du noch einen Moment warten? Es ist gerade so spannend! Gleich ist aber Werbeunterbrechung, frag mich doch dann, ja?”
Chaal sah zum Fernseher, wo gerade eine der vielen nachmittäglichen Seifenopern lief. Ein reicher, verheirateter Mann hatte soeben der sehr jungen Tochter seiner Haushälterin seine Liebe gestanden, welche daraufhin sofort zu überlegen begann, wie sie diesen Umstand zu ihrem Vorteil ausnutzen könnte.
“Tss, so ein kleines Biest!”, sagte Oma Herta zu sich selbst.
Der Tourist legte den Kopf ein wenig schief, wartete aber geduldig, bis die Serie unterbrochen wurde und Oma Herta den Blick vom Fernseher abwandte.
“Entschuldige, Chaal. Was wolltest du gerade von mir?”
“Mir war aufgefallen, dass das Stricken bei dir eine ähnliche körpersprachliche Reaktion hervorruft wie meditative Trancezustände bei anderen Menschen. Empfindest du das tatsächlich so?”
Oma Herta machte große Augen. Sie sagte:
“Ich weiß nicht, ich war noch nie in einem meditativen Trancezustand. Also, zumindest nicht, dass ich wüsste. Aber das Stricken beruhigt mich, es ist so schön gleichmäßig und man sieht auch, was man geleistet hat. Außerdem hat man ein neues Kleidungsstück, wenn man fertig ist.”
“Das werde ich mir merken, Oma Herta. Vielleicht lag ich mit meiner Schlussfolgerung auch falsch, möglicherweise war die Ursache der von mir beobachteten Reaktionen auch durch das Fernsehprogramm begründet. Strickst du eigentlich immer, wenn du nachmittags fernsiehst?”
“Nein, nicht immer. Momentan möchte ich aber den Pullover fertig stricken, deswegen arbeite ich daran, so oft ich kann.”
“Dann werde ich auf eine Gelegenheit warten, wenn du nachmittags fernsiehst ohne zu stricken. Dann kann ich meine Beobachtungen vergleichen.”
“Ich wundere mich ja wirklich, dass du so etwas spannend findest.”
“Nun, ehrlich gesagt geht es mir mit dir ähnlich. Ich wundere mich sehr, dass du dich derart für diese Fernsehserie begeisterst.”
“Tatsächlich? Wieso denn?”
“Nun, ist die dort gezeigte Abfolge von Ereignissen nicht sehr unwahrscheinlich? Außerdem habe ich oft bemerkt, dass die Personen dort seltsam abgehackt reden und schlagartig von einem in den anderen Gemütszustand wechseln. Ich finde das seltsam befremdlich, da das gezeigte keine Kunstart sein sondern die Wirklichkeit simulieren soll, dies aufgrund der Darstellungsart aber nicht tut. Die meisten Menschen, denen ich begegnet bin, verhalten sich anders.”
“Naja, sie ist vielleicht günstig hergestellt und die Schauspieler sind noch unerfahren, aber ich mag die Serie trotzdem.”
“Aber wieso?”
“Sie macht mich irgendwie glücklich. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, wie alle gemeinsam daran arbeiten, alles wieder gut zu machen, was schief geht, und wenn ich sehe, wie nach ein paar Folgen doch alle wieder glücklich und zufrieden sind. Das habe ich mir oft auch für mein Leben gewünscht.”
“Dann bist du nicht zufrieden mit deinem Leben? Fehlt dir etwas von diesen Dingen?”
“Ach, es geht. Eigentlich habe ich keinen Grund, zu klagen. Manche Sachen hätten aber schon anders sein können. Weißt du, das Zusammenarbeiten, von dem ich gerade geredet habe, ist etwas, das eigentlich gut funktionieren würde, aber oft an den Köpfen der Menschen scheitert. Oder an dem, was darinnen ist. In Wirklichkeit schert sich kaum jemand um den anderen und dann kann es auch keine Zusammenarbeit geben. Am wenigsten scheren sich die Leute wohl um die Belange einer alten Frau, daran habe ich mich aber schon fast gewöhnt. Was ich nur wirklich bedaure ist, dass auch meine Kinder und ich uns in dieser Art entfremdet haben. Sie besuchen mich nicht sehr oft, wie du weißt, und wenn sie mal zu Besuch kommen, habe ich meistens das Gefühl, dass sie es nur lustlos und missmutig tun und ich nicht mehr als eine Last für sie darstelle.”
“Das ist eine schlechte Basis für eine gemeinschaftliche Existenz so wie du sie dir wünschst. Ich verstehe, dass du diesen Umstand belastend findest und dir besseren Kontakt zu deinen Mitmenschen und deiner Familie wünschst.”
“Tatsächlich? Aber du bist doch alleine hier, da kann dir doch Gemeinschaft mit anderen deiner Art gar nicht so wichtig sein!”
Chaal lächelte sie an. Oma Herta schien es, als ob der Hauch eines verschmitzten Glitzerns in seinen Augen zu sehen sei.
“Ja, es ist klar, dass es dir so erscheinen muss. Aber auch wenn es nicht so aussieht, bin ich meinem Volk immer sehr nahe und könnte mir eine Existenz ohne seinen starken Zusammenhalt nicht vorstellen. Er ist wesentlich für mich und die Quelle meiner Kraft und meines Glücks. Daher bin ich sehr froh, dass ich dein Schicksal nicht teilen muss, kann mir aber deinen Schmerz um so besser vorstellen und dadurch mit dir fühlen.”
“Das ist nett von dir, danke”, sagte Oma Herta, zögerte einen Moment lang und sah den Touristen sehr ernst an. Sie merkte, dass sie ein Thema angesprochen hatte, das ein grundlegendes Geheimnis um das Wesen des Touristen beinhaltete und dass sie darüber bereits mehr als die meisten anderen Menschen erfahren hatte.
“Weißt du, dass du seltsam bist? Es tut gut, mit dir zu reden, aber ich weiß nicht einmal genau, warum ich dir all das erzähle. Zum Teil sind das Dinge, die ich nicht mal mit Kuni teile. Warum also mit dir?”
Chaal lächelte wieder und sagte:
“Ich weiß es ebenfalls nicht, aber vielleicht ist das einer der Gründe warum ich bei dir bin.”
“Wenn dem so ist, hast du einen wirklich ungewöhnlichen Instinkt.”
Chaal schaute sie nun wieder ernster an, legte den Kopf ein wenig schief und verlagerte seine Sitzposition.
“Oma Herta, oft erhoffen sich Personen, die anderen Einblick in ihre tieferen Gefühle geben, von diesen anderen einen Rat oder wenigstens einen aufbauenden Kommentar. Falls ich dir einen solchen geben soll, würde er lauten, dass das Flüchten in Phantasien dir zwar kurzfristige Linderung deiner unangenehmen Empfindungen gewährt, aber keine Lösungen liefert.”
Oma Herta wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, mit einem Fremdweltler ihr Innerstes zu diskutieren. Was Chaal bis jetzt gesagt hatte, machte allerdings Sinn, daher entschied sie sich dafür, dass es nicht schaden könnte, ihm einfach mal zuzuhören und seine Meinung zu erfahren.
“Was würdest du mir denn vorschlagen, wie ich meine Situation verbessern könnte?”
“Wenn niemand weiß, wie du empfindest, kann sich an deiner Lage nichts ändern. Wechsle von der passiven in die aktive Position. Rede mit den Personen, die dir wichtig sind. Sage deinen Kindern, dass es dich belastet, wenn sie offensichtlich nur ungern zu Besuch kommen. Frage sie, wie man das ändern könnte. Allerdings kann dieser Weg auch bedeuten, dass du unangenehme Antworten bekommst oder gezwungen sein wirst, eigene Fehler einzugestehen. Im schlimmsten Fall werdet ihr im Streit auseinander gehen, das scheint wohl in der Natur des Menschen zu liegen. Ob du das Risiko eingehen willst und wie hoch du es einschätzt, ist natürlich deine Entscheidung.”
Oma Hertas erster Gedanke war zwar, Chaal zu sagen, dass er keine Ahnung von Menschen und insbesondere ihren Kindern hätte, dann aber dachte sie sich, dass er vielleicht doch Recht haben könnte und sie sich nur vor dem Gespräch mit ihren Kindern scheute. Schließlich sagte sie:
“Ich denke mal darüber nach. Vielleicht sollte ich sie wirklich anrufen. Momentan sind sie auf Reise, dann kann ich mir noch ein paar Tage lang überlegen, ob ich mit ihnen rede und vor allem, was ich ihnen genau sage, wenn sie wieder da sind.”
“Dann wünsche ich dir damit viel Erfolg.”
“Hast du vielleicht noch weitere Vorschläge?”
“Wenn du jeden Tag so zubringst wie gestern und heute, hast du nur wenige Möglichkeiten, über gemeinsame Interessen oder ungewöhnliche Geschichten Leute für deine Gesellschaft zu interessieren. Du könntest versuchen, aus dieser Routine auszubrechen.”
“Und wie soll ich das tun? Soll ich etwa anfangen Skateboard zu fahren?” fragte Oma Herta.
“Wenn das etwas ist, was du schon immer mal tun wolltest und wozu du körperlich in der Lage bist, ja. Suche dir diese und weitere solche Aktivitäten.”
“Das war doch nur ein Scherz, ich werde mich bestimmt nicht auf eines dieser Rolldinger stellen. Kannst du mir nicht wenigstens eine konkrete Sache vorschlagen, bei der ich mir nicht alle Knochen brechen würde?”
Chaal sah zu dem Bücherregal hinüber.
“Du hast einige Bücher in deinen Regalen. Liest du sie nicht? Das könntest du tun, anstatt fernzusehen. Das wäre noch keine große Veränderung, aber ein Anfang.”
“Ach, das Lesen strengt mich mittlerweile zu sehr an. Außer der Tageszeitung lese ich nicht sehr viel. Außerdem gehörten die meisten Bücher meinem Mann, viele handeln vom Angeln und von Holzbearbeitung, das interessiert mich einfach nicht.”
“Dann könntest du sie verkaufen. Ich habe in einem Buchgeschäft Bücher gesehen, die so ähnlich aussahen und einen höheren Preis als andere Bücher hatten. Benötigst du Geld? Ich erinnere mich daran, dass du besorgt warst, ich könnte ein Vertreter sein, der dir Dinge verkauft, für die du kein Geld hast. Davon abgesehen würdest du mit mehreren dir noch unbekannten Menschen interagieren und dadurch deinen Erfahrungsschatz erhöhen.”
Oma Herta war verblüfft. So etwas hatte sie zum Touristen gesagt als er bei ihr geschellt hatte? Sie erinnerte sich nicht mehr genau, aber aus irgendeinem unbestimmten Grund war ihr plötzlich etwas unwohl.
“Nein, das geht nicht, das sind Erinnerungsstücke, die mir viel bedeuten, und außerdem habe ich mich daran gewöhnt, dass sie dort stehen. Ich würde sie vermissen wenn sie fort wären.”
“Ich verstehe, sie erfüllen für dich also einen ähnlichen Zweck wie die Bilder, obwohl sie dafür eigentlich nicht gedacht sind. Ich erkenne, dass du von vielen Erinnerungen aber wenig Gesellschaft umgeben bist.”
“Chaal, ich möchte doch noch ein wenig fernsehen und stricken. Meine Serie geht bereits weiter und ich möchte mein Leben nicht von jetzt auf sofort umstellen. Lass mich einfach noch ein wenig darüber nachdenken, ja?”
“Natürlich, Oma Herta.”
Abends bereitete Oma Herta sich, wie schon am Vortag, Brote und Obst vor und setzte sich wieder vor den Fernseher, um die Nachrichten zu schauen und dabei zu stricken. Während sie dem Abendprogramm weiter folgte und sich einen Liebesfilm ansah, stellte Chaal ein weiteres gelesenes Buch in das Regal zurück und setzte sich an den Schreibtisch, der einst Oma Hertas Ehemann gehört hatte, nahm die einzelnen Gerätschaften aus den Schubladen und betrachtete sie genau. Oma Herta mochte es eigentlich nicht, wenn fremde Leute Ernsts Dinge ansahen und erst recht nicht, wenn sie seinen Schreibtisch durchwühlten, doch sie wußte, dass der Tourist ihr keine Unordnung machen und später alle Gegenstände wieder genau dort hinlegen würde, wo er sie vorgefunden hatte. Auch mit ihren Figürchen und den Büchern verhielt es sich nicht anders, es war fast so, als hätte Chaal sie niemals von ihrem Platz bewegt.
Der Film war zum großen Teil sehr langatmig und so schlummerte Oma Herta schon kurz nach der Hälfte ein. Sie erwachte von einem Geräusch des Fernsehers und hörte aus Richtung Schreibtisch, wie Ernst leise in einer Schublade kramte. Sie setzte bereits zur Frage an, wie lange sie geschlafen hatte, als sie die Augen aufschlug und Chaal dort sitzen sah, der sich Schnitzmesser und einen Wetzstein ansah. Da er die Gegenstände genau so aneinander hielt wie Ernst es immer tat, fiel es ihr schwer, in die Realität zurückzukehren. Einen Augenblick darauf war die Vision jedoch vorbei. Chaal sah zu ihr herüber, schien aber mit dem Ausdruck auf Oma Hertas Gesicht nichts anfangen zu können. Er fragte:
"Ist alles in Ordnung, Oma Herta? Du warst kurz eingeschlafen."
"Ja, es ist alles in Ordnung."
"Das freut mich."
"Weißt du, wenn ich sonst am Fernseher einschlafe ist nie jemand da, wenn ich aufwache. Dann fühle ich mich immer allein. Jetzt gerade war das anders, ich hatte erst gedacht, dass Ernst am Schreibtisch sitzt und über mich wacht. Ich habe mich immer sehr geborgen gefühlt, wenn er dort saß und bastelte. Nein, nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen, das ist schon in Ordnung. Im Gegenteil, ich habe mich für einen Moment sehr wohl gefühlt, so als wäre Ernst noch bei mir."
"Das ist gut, Oma Herta. Dann ist dir meine Gesellschaft angenehm?"
"Das ist sie tatsächlich."
Chaal lächelte und nahm ein anderes Schnitzmesser aus der Schublade.
Oma Herta schaltete durch die Fernsehprogramme und schaute schließlich einer Diskussionsrunde zu, ohne wirklich etwas vom Inhalt mitzubekommen. Ihre Gedanken schweiften in der Vergangenheit. Irgendwann sagte sie:
"Ich hatte schon lange keine so angenehme Gesellschaft mehr wie dich. Es ist schön, dich bei mir zu haben."
"Das freut mich, Oma Herta. Ich bin auch gerne hier."
"Chaal, ich weiß, dass du irgendwann weiter möchtest, aber ich glaube, ich würde dich vermissen. Gibt es keine Möglichkeit... Ich meine... ...kannst du nicht für immer bei mir bleiben?"
Chaal sah Oma Herta an und sie ihn. Noch niemand hatte den Touristen gebeten, länger an einem Ort zu bleiben und selten hatte ihn jemand so hoffnungsvoll angesehen. Chaal zwinkerte auf überraschte Art mit den Augen, wandte sich dann wieder der Schreibtischschublade zu und sagte:
"Ich werde darüber nachdenken."
Er nahm weiter verschiedene Schnitzmesser zur Hand und betrachtete sie. Ab und an jedoch blickte er auch zu Oma Herta hinüber und sah aus, als würde er über ihre Worte nachdenken. Kurz darauf sagte er:
"Ich werde dich in sechs Tagen, achtzehn Stunden und fünfundzwanzig Minuten verlassen. Ich weiß, dass es dir dann nichts mehr ausmachen wird."
Aber Oma Herta war mittlerweile wieder in einen leichten Schlummer gefallen und hatte seine Worte nicht gehört. Dennoch wiederholte der Tourist sie nicht. Statt dessen legte er das Schnitzmesser zur Seite und kniete sich seitlich von Oma Hertas Schaukelstuhl hin. Er beugte sich vor, legte seinen schweren raubtierartigen Schädel vorsichtig auf Oma Hertas Schoß und schloss die undurchschaubaren, völlig schwarzen Augen, als sie aus einem Reflex heraus im Halbschlaf die Hand auf seinen Kopf legte und ihn zwischen den Ohren kraulte. Leise begann er zu schnurren.
Oma Herta murmelte ein nahezu unverständliches Wort, aber sie klang dabei sehr glücklich:
"Minka."