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Der Tote von Genua
Für Carlo
„Punk Bestia“, so nennen sie Dich. Sie sagen, Du hättest den Tod verdient, seist selber Schuld, denn Du hast sie ja angegriffen. Mit einem Feuerlöscher in der Hand bist Du auf ihr Auto losgestürmt, und Marco aus Kalabrien, noch drei Jahre jünger als Du, hat auf Dich geschossen. Da lagst du dann, in einer riesigen Lache Blut.
Du hättest ein glückliches Leben führen können. Deine Eltern waren nicht arm und bei den Mädchen warst du beliebt, und du hattest viele Freunde. Aber Du hast auch über Deinen Tellerrand hinausgeschaut. Nur weil Du glücklich warst, ging es eben nicht allen Menschen auf der Erde gut, und das wußtest Du. Du hast im Fernsehen gesehen, wie Kinder in Äthiopien starben, wie Kriege für Öl geführt wurden und in deinem Heimatland Italien ein rechtskräftig verurteilter, reicher Krimineller mit den Neofaschisten zusammen die Regierung übernehmen konnte. Andere haben das still mitangesehen, Du aber hast Dich engagiert. Das liegt wohl in der Familie, dein Vater ist ja ein Gewerkschaftsfunktionär. Solidarität war Dir wichtig, das hast Du in den Diskussionen mit deinen Freunden in den Cafés von Rom immer wieder erklärt. Als Du von dem G8-Gipfel in Genua hörtest, war für Dich sofort klar, das dies deine Chance war, für deine Ideale einzustehen, Seite an Seite mit jenen, denen du dich wie deiner Familie verbunden fühltest. Es konnte Dich auch nicht abhalten, das der Ministerpräsident deines Landes massiven Polizeieinsatz für die Dauer des Treffens ankündigte und sogar die Luftabwehr in Bereitschaft versetzte. Es ging Dir um die gerechte Sache, jedem Individuum auf diesem Planeten ein würdiges Leben zu ermöglichen. Du wolltest Deiner Sorge Ausdruck verleihen, das die Großen Acht über die Köpfe der Kleinen hinweg die Zukunft aller Menschen verspielen könnten.
Als Du in Genua ankamst, war ein Teil der Stadt abgeriegelt „wie ein Konzentrationslager“, wie ein anderer später den Journalisten in die Blöcke diktieren sollte. Die Menschen konnten ihre Wohnungen innerhalb der Absperrung nicht verlassen. Sie durften nicht heraus, und Ihr durftet nicht hinein. Überall bewaffnete Carabinieri. Mißtrauisch sahen sie Dich an, einige mit unverhohlenem Haß in den Augen, die zwischen Helm und Schild hervorstierten. Du hast keinen Helm getragen, denn Du wolltest nicht kämpfen. Du konntest diesen Haß nicht verstehen. Warum verstanden sie nicht, das Du nur das Beste wolltest, und das nicht einmal für Dich, sondern auch für sie?
Diese Menschen sahen in Dir nicht den „lieben Jungen“, den Deine Eltern, Freunde und sogar die Pfarrer deiner Heimatgemeinde kannten, sondern einen unerwünschten Störfaktor. Dein Ziel war es, deine Botschaft zu Gehör zu bringen – ihre Aufgabe war es, Dich daran zu hindern. Immer wieder Kontrollen und Sperren, die Dir den Weg zum Ziel versperren sollten. Immer wieder wurden Kameraden von Dir festgenommen, und Du konntest Dir nicht erklären, was sie getan hatten. Sie wollten doch dasselbe wie Du. Schlußendlich habt Ihr es geschafft, bis zur letzten Absperrung vorzudringen. Ihr wart viele, und so habt ihr versucht, die Absperrung zu durchbrechen. Mit massivem Einsatz drängten sie Euch von der blauen Barriere zurück und begannen, Euch knüppelschwingend und in Keilformation vor sich her zu treiben. Ohne Ansehen der Person schlugen sie neben Dir selbst Frauen und Minderjährige blutig. Du fühltest Dich ohnmächtig, als du zusehen mußtest, wie sie zusammenbrachen und weggeschleift wurde. Einige Deiner Kameraden suchten sich Knüppel oder Steine und griffen ihrerseits massiv an. Plötzlich hattest Du auch etwas in der Hand. Es war ein Feuerlöscher. Du bist losgestürmt. Ob du sie nur verjagen wolltest oder den Feuerlöscher wirklich durch die Scheibe geschmissen hättest, wird sich nie mehr klären lassen. Dein Gegenüber fühlte sich durch Deinen Ausbruch ebenso in die Enge getrieben wie Du zuvor. Er dachte vielleicht nicht einmal nach, bevor er schoß. Nachdem Du tot am Boden lagst, brach die Welle der Gewalt über deine Kampfgenossen her. Den ganzen Tag über und die Nacht hindurch folgte man in Genua nicht mehr den Regeln der westlichen Zivilisation, und es gab keinen deiner Mitstreiter, der nicht die Wut der entfesselten Carabinieri zu spüren bekam.
Trotz dieser Gewaltexzesse rächte man sich nicht, zumal es an Gelegenheit mangelte. Nach Deinem Tode hatte man das Gefühl, in ganz Genua gebe es keine Polizisten mehr. Viele waren bei deiner Beerdigung, sie haben deinem Vater versprechen müssen, auf Gewalt zu verzichten. Noch mehr waren auf der Piazza Gaetano Alimonda, die sie Dir zu Ehren für einen Tag in die „Piazza Carlo Giuliani“ verwandelten. Aus dem Schlachtruf „Ihr G8 – wir sechs Milliarden“ wurde „Ihr G8 – wir 5.999.999.999“. Überall nur friedliche, unschuldige Trauer und Mitgefühl selbst mit dem Täter. „Er tut mir leid“, murmelte ein rothaariger Punk nachdenklich in die Mikrofone.
[ 01.05.2002, 13:41: Beitrag editiert von: Mad Scientist ]