Was ist neu

Der tote Afrikaner

Mitglied
Beitritt
08.02.2011
Beiträge
2

Der tote Afrikaner

Der tote Afrikaner oder Sommer 92

"Da war eine ganz staubige Luft auf dem alten SKET-Gelände, verfallene Teile von Maschinen lagen verstreut. Keiner von uns konnte sagen, ob sie jemals benutzt worden waren. Vielleicht hatte man sie ja, als wäre die Fabrik von einem schrecklichen Wirbelsturm, einem Hurrikan, überrascht worden, einfach liegengelassen, bevor sie jemals irgendeinen Zweck haben konnten. Das musste mit der Wende zu tun haben, meine Mutter sagt, deswegen geht alles den Bach runter. Jedenfalls waren da keine Anderen weit und breit, niemand schien sich für das Gelände zu interessieren. Wenn ich ganz still war, hörte ich außer Daniel und Volker, meinen Freunden aus der 7b, höchstens noch das Grillenzirpen. Das war überall. Selbst die Strasse war schon zu weit weg, da konnte man nichtmal mehr die Autos hören. Wir waren schon zu tief in das Gelände eingedrungen. Das Unkraut stand hoch, es war da über Glas, Metall und Staub gewachsen. Das Zeug wächst es über alles. Volker war auf einen Hügel aus so Eisenteilen geklettert, er verschaffte sich einen Überblick. Daniel war derweil zögerlich hinter uns hergetrottet, er war nicht begeistert von der Idee, hier einzusteigen, um sich mal umzuschauen. Ich rief ihm zu, er solle sich beeilen, eine der Fabrikhallen hatte es mir angetan, ihr Tor war weit offen. Als ich im Eingang stand und mich drinnen umsah, war ich ein wenig enttäuscht. Hier war nichts mehr, einfach gar nichts. Die riesige Halle stand verlassen, ein paar Plastikplanen lagen verstaubt herum, sonst nichts. Nur ein riesiger leerer Raum, in dem einmal etwas Großes, Wichtiges gestanden haben musste. Weiter hinten gab es noch eine Tür, ich rief die anderen beiden, das wollte ich mir genauer ansehen. Daniel und Volker kamen aus unterschiedlichen Winkeln des Geländes getrottet und glotzten ganz ehrfürchtig in den weiten leeren Raum. Zu dritt gingen wir durch die Halle, sie war von der Sonne hell erleuchtet, die riesigen Fenster waren größtenteils zerbrochen, sicher hatte sie jemand mit Steinen zerworfen. Das musste ein Riesenspaß gewesen sein. Unsere Schritte waren laut vom Widerhall, keiner von uns sagte ein Wort. Da hinten musste ein Büro sein, oder ein Waschraum. Oder sonstwas Interessantes. Es stank in der Halle, ein süßer Geruch, unangenehm. "Riecht nach Kotze" sagte Volker und kicherte. Dann kam das Geräusch, ein schnelles Tippeln, wie von vielen kleinen Füßchen. Ich wurde nervös, die andern beiden, glaube ich, auch. "Was, wenn da ein tollwütiger Hund oder sowas ist?". Daniel wollte umkehren, keiner von uns war noch so furchtlos wie vor ein paar Sekunden. Aber Umkehren kam nicht in die Tüte. Wir standen vor dem Raum, das Geräusch war eindeutig von hier gekommen, jetzt war es ruhig. Wir konnten einen Stapel Papier sehen, der wild verstreut auf dem Boden lag, ziemlich verdreckt. Die Tür stand einen Spalt auf, Volker öffnete sie langsam. Aus dem Büroraum schlug uns derselbe Gestank entgegen, nur viel intensiver, ich hielt mir die Hand vor Mund und Nase, es war widerlich. In dem Raum selbst war allerdings nicht viel Interessantes zu sehen, die Reste eines Schreibtischs lagen da, man hatte ihm ein Bein ausgeschlagen, auf nur noch dreien stand er ganz wackelig. Der Boden war voller Glasscherben, obwohl das einzige kleine Fenster intakt war. Jemand hatte in die Ecke gekackt. "Ob es deswegen so stinkt?", ich zeigte auf den Haufen. "Nee, das kommt von dahinten" Volker deutete in den langen Flur, der aus dem Zimmer tiefer ins Gebäude führte. Ich schaute erst den Flur, dann Daniel an. "Da geh ich nicht rein" sagte er. "Musst ja nicht", sagte Volker, und lief entschlossen in Richtung des langen Korridors. Ich blickte von ihm zu Daniel, zuckte mit den Schultern und lief hinterher. Daniel folgte missmutig: "Wir waren doch jetzt drin, das reicht doch − es STINKT hier drin!" Von dem Flur gingen mehrere Türen ab, da mussten noch mehr Büros sein. Volker blickte in das erste, spuckte rein und lief weiter, dann sah er in das zweite ... und erstarrte. "Leute" stammelte er entsetzt und glotzte in das Zimmer. Ich lief zu ihm, mit der Hand hielt ich mir die Nase zu. In dem Raum sah ich zuerst wieder nur einen Haufen Papierfetzen, einen kaputten Stuhl und dann, in der Ecke: Einen Menschen. In sich zusammengefallen, den Kopf noch an die Wand gelehnt, die Hände überm Bauch verschränkt, die Beine weit von sich gestreckt, als würde er ein Nickerchen machen, sah ich den toten Afrikaner."


"Junge, das tut mir wirklich leid dass du das ansehen musstest. Wenn du willst kannst du jetzt zu deiner Mutter. Sie wartet draußen. Mach eine kurze Pause, ich ruf dich dann wieder rein, du musst mir noch erzählen, was ihr da überhaupt zu suchen hattet" Der Kommissar hatte den Bericht des Jungen mitgetippt. Viele Details hatte er jedoch ausgelassen, mit dem neuen Computer kam er nicht zurecht. Nachher würde einer aus dem unteren Dienst noch einmal darüberlesen müssen, die Fehler ausmerzen. Der Kommissar seufzte und blickte an die Decke. Dann schloß er die Augen und überlegte, wo er heute zu Mittag essen sollte. Er schwitzte. Nach einer Weile rief er den Jungen, der mit seinen Freunden den toten Afrikaner gefunden hatte, zum zweiten Mal herein


"Volker hatte mich vormittags abgeholt, er machte immer Klingelsturm an der Tür, oder er versuchte, eine Melodie zu klingeln, was von Dr. Alban meistens. Volker wusste, dass meine Mutter nicht da war, die ganzen Sommerferien würde sie tagsüber nicht zu Hause sein, sie hatte keinen Urlaub genommen. Sie meinte zu mir, sie kann sich das jetzt nicht erlauben, denn der neue Chef ist ein Wessi. Ich weiß nicht so genau, was ein Wessi ist, doch ich verstand zumindest, dass ich wohl in den nächsten Wochen jeden Vormittag die Trickfilme im Fernsehn würde sehen können. Und die Werbung. Heimlich war ich dem Wessi dankbar.
Volkers Klingeln schreckte mich auf. Jedes Mal dasselbe, er kam zum Fernsehen vorbei, seine Eltern erlauben ihm nur zwei Stunden am Tag, ausserdem sind sie seit Kurzem beide den ganzen Tag zu Hause. Ich weiß, dass sie sich oft anschreien, auch wenn Volker und ich uns darüber nicht unterhalten. Ich schlurfte also zur Gegensprechanlage, die ist ganz neu und meine Mutter kann nicht mit ihr umgehen, obwohl ich es ihr schon zweimal erklärt habe. "Ich bins, mach mal auf!" Ich drückte den Knopf und öffnete, lehnte mich lässig in den Türrahmen und wartete. Volker würde nicht lange brauchen, um die Treppen bis in den 7. Stock hochzusprinten, das machte er in seinem Zehngeschosser jedesmal so, er meint, das ist ein gutes Training. Vielleicht ist er deshalb der Beste im Fussball. Ich hörte seine schnellen Schritte im Treppenhaus, das Geländer wackelte, weil er sich daran hochzog, die ganze Konstruktion ist miteinander verbunden, manchmal denke ich, wenn man nur lange genug daran rütteln würde, könnte man so das ganze Haus zum Einsturz bringen. "Na, alter Mistkerl!" rief Volker auf den letzten Stufen, da flog gegenüber die Tür auf – Dachsmann. Unser Etagennachbar starrte erst mich, dann Volker an. Sein Blick war irgendwie so milchig, so indirekt. Auf seiner grauen Jogginghose konnte man alte und neue merkwürdige Flecken erkennen. Dachsmann hatte die Tür mit einem enormen Ruck aufgeschleudert, jetzt stand er regungslos da und stierte. Ich hatte Angst, hatte den Mann nur früher manchmal gesehen, aber schon oft nachts gehört, wie bei ihm die dünne Neubauholztür auf- oder zugeschlagen wurde. Manchmal hab ich auch ein merkwürdiges Geschrei gehört, aber immer nur nachts. Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass Dachsmann jetzt allein wohnt und dass man dem nicht frech kommen sollte. Ich hatte ihn sowieso nur ein paar Mal gesehen, und das war schon eine Weile her, deshalb war ich immer mit einem mulmigen Gefühl und so schnell wie möglich, mit gezücktem Schlüssel, an seiner Tür vorbeigelaufen. So hatte ich Dachsmann aber ganz und gar nicht in Erinnerung: Er war unrasiert und irgendwie eingefallen, wirkte orientierungslos und böse zugleich. Einige Sekunden vergingen, in denen mir ein ekelhafter Alkoholgeruch aus Dachsmanns Wohnung und von ihm selbst in die Nase stieg. Ich konnte ein wenig hinter ihn blicken, da standen keine Möbel. Auch die Wand in seinem Flur war ganz kahl, ohne Tapete, aber voller Poster, auf denen nackte Frauen waren. Mein Herz raste, Dachsmann blickte mich finster an. Er nuschelte etwas, die Worte kamen glucksend von tief aus seinem dicken Bauch. Ich verstand "Früher" und "sowas wie euch", dann fing er an zu grinsen und krächzte: "Freie deutsche Jugend, bau auf" oder so, und dann lachte er ganz dreckig, und dann wurde aus dem Lachen ein Husten. Er schlug die Tür wieder zu. Volker blickte mich fragend an, er lächelte, als er mein verstörtes Gesicht sah: "Komm, mach dich fertig, wir treffen uns in ner halben Stunde auf dem Messtron-Platz mit Daniel und den anderen. Fussball!"

Der Messtron-Platz ist so ein heruntergekommenes Vereinsgelände, man muss über einen verrosteten Zaun klettern und sich durch meterhohe Brennesseln schlagen, ehe man auf den Ascheplatz kommt. Der ist aber auch voll mit Löwenzahn und so Unkraut. Die Tore sind eigentlich nicht mehr als ein braun schimmerndes Eisengestänge, das eine neigt sich weit nach hinten, weil, glaub ich, mal jemand versucht hat, es aus dem Boden zu reißen. Überall liegen da Scherben von zerbrochenen Bierflaschen im Gras um den Platz herum, hinter dem Tor ist viel Gebüsch und ein Haufen verrottender Möbel, die vor Jahrhunderten jemand dort abgeladen haben muss. Wenn ein Ball am Tor vorbei geht, wird es gefährlich. Regelmäßig gibt es dann Diskussionen darum, ob nun der Torwart oder der Schütze sich in das Dickicht aus Unkraut und Scherben wagen soll, um ihn zu holen. Oft haben wir deshalb lieber einen handfesten Streit, als uns in kurzen Hosen in den Dschungel zu wagen.
Normalerweise haben wir den Messtron-Platz für uns allein, für den interessiert sich keiner mehr, nur heute war es anders. Volker und ich kletterten über den Zaun und sahen schon die Gruppe Jugendlicher in der Mitte des Platzes zusammenstehen, sie konzentrierten sich auf irgendetwas in ihrer Mitte. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie vorgehabt, hier Fussball zu spielen. Einige von ihnen trugen Bomberjacken, die sind außen schwarz und innen orange. Ihre Haare waren entweder sehr kurz oder sehr fettig. Als wir sie sahen, hielten Volker und ich an, blickten stumm zu uns, dann wieder zu der Gruppe. Einer der Jugendlichen drehte sich um und bemerkte uns: "Ey, noch welche, herkommen!"

Die Jugendlichen lächelten uns an, das sah erst freundlich aus, dann, als wir näher kamen, immer gruseliger. Sie öffneten ihren Kreis, in der Mitte lag, winselnd und verdreckt: Daniel. "Scheiße" dachte ich, mein Herz begann zu rasen, da packte mich einer am Oberarm: "Na, willste auch spielen? Auf unserm Platz?" Ich guckte zu Volker, auch ihn hatte einer der Typen gegriffen, aber er blickte starr und ausdruckslos vor sich auf den Boden. Dann sah ich zu Daniel. Mit verheulten Augen lag er da, das T-Shirt völlig verdreckt, er musste schon eine Weile auf dem staubigen Platz herumgetreten worden sein. In der Händen hielt er den Ball umklammert, aber der war ganz unförmig, hatte keine Luft mehr. "Biste schwul oder was?" Der Größte aus der Gruppe ging einen Schritt in meine Richtung, er hatte meinen Blick zu Daniel bemerkt. In seiner Hand sah ich etwas funkeln. "Wir ham dich was gefragt!" Der Typ schob seinen Kopf ganz nah vor meinen, seine Stirn berührte meine, ich roch Zigaretten und Bier und noch ekelerregendere Sachen, versuchte auf den Boden zu sehen, um bloß um Himmels Willen nicht seinen Blick zu treffen und ihn noch mehr zu provozieren.
"Scheiß Gymmischwein, oder was?" haucht mich der Typ an. Er war gut einen Kopf größer als ich. "Ich biete dir nen fairen Kampf an.", sagte er todernst, dann schubste er mich nach hinten, meine Füße fanden keinen Halt, ich stolperte und fiel auf den Boden. Die Gruppe begann zu johlen. "Ey Leute, muss das sein?" Die Frage kam unerwartet. Alle blickten Volker an, der jetzt irgendwie nervös aussah. Er hatte einen Fehler gemacht. Der Anführer wandte sich von mir ab, ging seelenruhig auf Volker zu, in der linken Hand hob er das Messer. "Du kleiner Scheißer" sagte er, holte aus und schlug Volker mit einem satten Haken der Rechten zu Boden. Volker landete im Gras, hielt sich die Hand vors Gesich, Blut quoll darunter hervor. Da begann Daniel zu schluchzen, erst leise, dann immer lauter, er heulte und winselte. Der Anführer der Gruppe sah voller Ekel zu ihm, dann zu Volker, der sich mit blutender Nase langsam wieder auf die Knie rappelte. "Verpisst euch, ihr Weicheier!" bellte er uns an. "Ihr armseligen Opfer." Dann zog er er durch die Nase Luft ein und spuckte einen riesigen Batzen in Richtung Volker. Ich stand auf, und auch Daniel hatte sich berappelt, so schnell und unprovokativ wir konnten schlichen wir davon. Volker hielt sich die Nase, Daniel den zerstochenen Ball. Die Gruppe lachte uns hinterher. Keiner von uns wagte es, sich noch einmal umzudrehen.

Natürlich waren wir wütend, zunächst liefen wir nur schweigend nebeneinander her, ab und zu griff Volker sich ein paar Steine und warf sie nach Spatzen und anderen Vögeln, die in den Gebüschen am Strassenrand herumwuselten. "So eine Scheiße", sagte er. Einmal erwischte er eine Amsel, die rannte zwar noch weg, aber zeterte dabei wie verrückt. Wahrscheinlich hatte Volker ihren Flügel zerschmettert.
Mehr zufällig kamen wir dann nache einer Weile am SKET-Gelände an. Wir waren schon einige Minuten an der langen Backsteinmauer entlanggelaufen, die Blicke finster auf den Boden gerichtet. Vor dem großen Tor blickten wir durch die Eisenstangen, sahen auf das riesige, brachliegende Areal. "Wart ihr schonmal drin?" Volker blickte uns fragend an, Daniel schüttelte den Kopf. "Da steht "Betreten verboten"", meinte er mutlos. "Na und, ist doch schon ewig keiner mehr hier, stört doch keinen" meinte Volker, und, um uns zu überzeugen, deutete er auf das verlassene Zöllnerhäuschen neben dem Tor. Darin stand zwar noch ein Schreibtisch mit einer Tasse drauf, als hätte jemand seinen Kaffee nicht ausgetrunken oder ihn vielleicht nur kurz zum Abkühlen abgestellt. Aber die zerschlagenen Fensterscheiben und die Schmierereien an den Wänden verrieten uns, dass sie wohl niemand mehr abholen würde. "Na los", brummte ich, blickte mich auf der Strasse um und, als kein Auto zu sehen war, kletterte ich auf das Tor und schwang mich rüber. Die anderen folgten mir. So war das."


"Gut, ich werd dir wohl nicht erzählen müssen, dass ihr da absolut nichts zu suchen habt, auf dem Gelände... Aber das ist auch Sache eurer Eltern." Der Kommissar sah den Jungen an. "Was ist das eigentlich da auf deinem Arm, hat dich da der Rowdie auf dem Fussballplatz verletzt?"


"Auf dem Gelände gab es für uns viel zu entdecken. Bevor wir beschlossen hatten, uns in der Halle umzusehen, hatte Volker einen Haufen alter Eisenstangen gefunden, sie waren rostig und verbogen, hatten aber genau die richtig Größe, um sie als Schwert mit sich herumzutragen. So liefen wir umher, in der Hand die Stangen, im Bauch die Wut auf die Jugendlichen, die unsern Fußball zerstochen und uns verprügelt hatten. Auf einer freien Fläche, hinter so einem hohen Turm aus Steinplatten, aus denen sicher einmal noch so ein Häuschen hätte gebaut werden sollen, sah ich dann etwas stehen. Es passte nicht in die Gegend, stach heraus aus den Trümmern. Da stand ein buntes Pferd. Aus Keramik. Es war etwas kleiner als ich und stak so im Boden, aus seinem Rücken und Bauch trat eine Metallstange aus, mit der es in die Erde gerammt worden war. Erst später wurde mir klar, dass es einmal zu einem Karussel gehört haben musste. Eine Weile blickte ich das Pferd an, dann rief ich die anderen. "Ich hab was Komisches gefunden!" Mit ihren Eisenstangen in der Hand kamen Volker und Daniel um die Mauer aus Steinplatten herum und stellten sich zu mir. Volker sagte: "Hässlich." Ich sah das bunte Ding an und hatte eine Idee. "Schwul oder was?" rief ich und schlug mit meiner Stange so fest ich konnte auf die Rübe von dem Pferd, ein kleines Stück Keramik platzte heraus, das Tier vibrierte an seiner Stange, Volker kicherte. Auch er packte sein Schwert, schwang es über dem Kopf wie so ein wildgewordener Kreuzritter und hieb dem Pferd auf den Rücken, wieder platzte ein Stück ab, es traf Daniel im Gesicht, in dem immer noch sein eigenes Blut klebte, getrocknet und vermischt mit Dreck und Rotz und Staub. Wie irre begann Daniel zu schreien und stürzte sich tollwütig auf das Keramikpferd, jetzt schlugen wir drei ungebremst auf das Ding ein, die Splitter flogen und es wackelte wie wild an seiner Stange, die es im Boden festhielt, an der es gefangen war, wehrlos gegen Daniel, Volker und mich, und wir waren drei Berserker, holten immer weiter aus mit unseren Stangen, schlugen immer fester zu, einmal erwischte Volker mich am Arm, aber das machte nichts, das machte mich nur noch wütender, ich schrie einen wilden Urwaldschrei und lief ein paar Meter zurück, nahm Anlauf, die Eisenstange über den Kopf nach hinten gehalten rannte ich los, auf das Keramikpferdchen zu, Daniel und Volker machten den Weg frei und ich schlug mit aller Kraft zu, direkt auf den Kopf von dem Ding. Es gab einen Knall und der Pferdekopf fiel vom Keramikrumpf, die Stange vibrierte laut, das kopflose Pferdchen wackelte. Entgeistert blickten Daniel und Volker mich an, ich sah erschrocken auf den vibrierenden Pferdeleib. Dann lachten wir drei und gingen weiter."


"Die drei Jungen, die den Toten gefunden haben, können leider keinerlei Hinweise auf den oder die Täter geben. Zum jetzigen Zeitpunkt können also keine Aussagen, den Mord an Godfried Mgaduobe betreffend, getroffen werden. Vermutet wird ein Zusammenhang mit dem Rauschgiftmillieu, bei dem Opfer wurde eine Tüte Mariuhana gefunden. Wir werden uns bei den weiteren Ermittlungen auf die Ergebnisse der neuen forensischen Untersuchungen, die wir mit freundlicher Hilfe der Polizei Hannover vornehmen, stützen müssen." Diese Sätze gab der Kommissar auf der Pressekonferenz am nächsten Tag zu Protokoll. In dem kleinen Saal in der Hauptwache am Hasselbachplatz saßen nur drei Reporter. Zwei von ihnen waren aus den alten Bundesländern, sie stellten daraufhin Fragen, ob nicht eventuell ein fremdenfeindlicher Hintergrund zu vermuten sei. Routiniert fertigte der Kommissar die Reporter ab. Er hatte Kopfschmerzen.

Als zwei Tage später die Untersuchungen abgeschlossen waren und die Ergebnisse aus Hannover eintrafen, die sagten, dass sich außer den drei Jungen und dem Afrikaner schon seit Wochen definitiv niemand anderes in dem kleinen Raum, in dem ehemaligen Büro der SKET-Verwaltung, aufgehalten hatte, wollte der Kommissar diesen Ergebnissen nicht glauben.
Das musste sicher ein Fehler sein, ein Fehler in unserem System. Seit der Umstellung gab es die häufiger. Der Kommissar fühlte sich müde und überfordert, er seufzte. Schwitzend ging er ans Fenster und sah hinaus. Der Sommer 1992 war der heißeste seit Jahren, über der Stadt lag ein bedrückendes Flimmern. Magdeburg lag zum dritten mal in seiner Geschichte in Trümmern, nur war die Zerstörung nicht so brutal und offensichtlich, wie sie seinerzeit ein gewisser Tilly angerichtet hatte, oder, ein paar hundert Jahre danach,die Bomber der britischen Luftwaffe. Im Jahre 1992 nagte der Verfall subtil und im Stillen an den Häusern und Menschen der Stadt. Die Verwüstung war allgegenwärtig und doch war sie schwer zu bemerken, sie kroch langsam vorwärts, wie eine vorsichtige Natter in unbekanntem Gelände. Man würde sich an sie gewöhnen müssen. Der Kommissar seufzte.

Noch einige Wochen lang suchte er sporadisch nach Hinweisen. Die Todesursache des Afrikaners, mehrere brutale Schläge auf den Körper mit einem langen, schweren Gegenstand, ließen durchaus die Vermutung zu, es hätte sich um eine Art Racheakt im Rauschgiftmilieu gehandelt. Das entsprach doch den Methoden der Russen, Afrikaner und Kroaten. Die Jungen bestellte er nicht noch einmal zu sich, auch nicht, als ihn Kollegen dazu drängten, da dieses Pferd, von dem die Rede war, nicht auf dem Gelände gefunden werden konnte. Er konnte nicht zulassen, dass die Kinder noch weiter mit dem Fall zu tun hatten. Als die entsprechende Frist abgelaufen war, legte der Kommissar den Fall zu den Akten. Rubrik "Ungeklärt".

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi micoud,

Willkommen auf KG.de!

Hm, also zunächst war mir das alles viel zu detailliert beschrieben. Während ich es las, hatte ich schon meinen Kommentar für Dich im Kopf: Das sind 5 Geschichten auf einmal, wieso konzentrierst Du Dich nicht auf eine?
Am überraschenden Ende versteht man dann, dass Du doch das ein oder andere von oben brauchst.

Dennoch, lies z.B. mal diese Worte von Dir:

"Volker hatte mich vormittags abgeholt, er machte immer Klingelsturm an der Tür, oder er versuchte, eine Melodie zu klingeln, was von Dr. Alban meistens. Volker wusste, dass meine Mutter nicht da war, die ganzen Sommerferien würde sie tagsüber nicht zu Hause sein, sie hatte keinen Urlaub genommen. Sie meinte zu mir, sie kann sich das jetzt nicht erlauben, denn der neue Chef ist ein Wessi. Ich weiß nicht so genau, was ein Wessi ist, doch ich verstand zumindest, dass ich wohl in den nächsten Wochen jeden Vormittag die Trickfilme im Fernsehn würde sehen können. Und die Werbung. Heimlich war ich dem Wessi dankbar.
Volkers Klingeln schreckte mich auf. Jedes Mal dasselbe, er kam zum Fernsehen vorbei, seine Eltern erlauben ihm nur zwei Stunden am Tag, ausserdem sind sie seit Kurzem beide den ganzen Tag zu Hause. Ich weiß, dass sie sich oft anschreien, auch wenn Volker und ich uns darüber nicht unterhalten. Ich schlurfte....
etc etc etc

Dieser Absatz ist so lang wie die ein oder andere Geschichte hier und ist KOMPLETT überflüssig. Ich schätze, Du hast ihn drin, um die Verkommenheit der Nachwendezeit zu zeigen, aber dann schreib nen Roman, bei dem der Leser Abschweifen verzeiht. Bei ner KG ist strenge Konzentration auf die Sache Pflicht! Das Klingeln wird so detailliert beschrieben, als ginge es um das Auffinden des Bernsteinzimmers.
Der Assi-Nachbar taucht auf und ab, who cares?

2. Problem: Glaubwürdige Dialoge:

"Ihr armseligen Opfer."
Das soll ein minderjähriger Nazi '92 sagen? "Opfer" als Schimpfwort gibt es gerade mal ein paar Jahre!

Das hier sollen die Worte eines kleinen Jungen sein?

"Auf dem Gelände gab es für uns viel zu entdecken. Bevor wir beschlossen hatten, uns in der Halle umzusehen, hatte Volker einen Haufen alter Eisenstangen gefunden, sie waren rostig und verbogen, hatten aber genau die richtig Größe, um sie als Schwert mit sich herumzutragen. So liefen wir umher, in der Hand die Stangen, im Bauch die Wut auf die Jugendlichen, die unsern Fußball zerstochen und uns verprügelt hatten.
So redet doch niemand und schon gar kein Kind!

Soviel als erste Kritik. Meine Empfehlung: Radikal kürzen, schäle die Geschichte heraus, die Du wirklich erzählen willst. Beschäftige Dich mit Dialogen - ich bin darin selbst nicht toll. Habe vor kurzem von einer Forumteilnehmerin gelesen, dass sie immer wieder echte oder Fernsehdialoge aufschreibt (Maria.Meerhaba)... So kriegt man ein Gespür dafür, wie Menschen reden.

Das war jetzt alles ganz schön negativ, tut mir leid. Man darf sich von der harten Kritik hier nicht abschrecken lassen, man lernt UNGLAUBLICH viel durch die verschiedenen kritischen Stimmen, die sich mit den Texten beschäftigen.
Dir kann z.B. mein Komm. völlig egal sein, aber wenn mehrfach etw kritisiert wird, oder etwas das Du auch so siehst und Du es umsetzt, lernst Du enorm viel.

Und nun noch Positives: Ich sehe da ganz viel Lust am Erzählen, auch ein Talent Stimmungen und Gefühle heraufzubeschwören... Man konnte richtig fühlen, wie die Jungs da durch die Halle marschiert sind...

Ja, und das Ende hat mich überrascht! Coole Idee..

Viele Grüße, T.

 
Zuletzt bearbeitet:

Moikka micoud,

und auch von mir herzlich willkommen auf KG.de. :)

Ich mach's kurz: Mir hat es genau wie es ist sehr gut gefallen - wenige Ausnahmen s.u.. Schön durchdachte Struktur, die nicht sofort alles offenbart. Tolle Beobachtungen, mir war's nicht zu viel, hab ich sehr gern gelesen. Du wählst eine sehr individuelle Sprache und Sichtweise, selbst Banales/Alltägliches zu beschreiben, und ich folge gern einem speziellen Blick eines Autors.

Toll, wie die Jungs durch das Haus gehen, mit den Fluren und Räumen, ist schon wie ne Kamerafahrt.

Interessant, weil Du einen umgekehrten Spannungsbogen hast. Der Text wird gen Ende immer langsamer und läuft dann auf "ungeklärt" ins Leere aus.

Mich haben nur drei Dinge gestört:
* Die wörtliche Rede in wörtliche Rede eingebettet, also " in ". Eine Variante würde ich durch ' ersetzen.
* Werden Akten bei der Polizei in Rubriken abgelegt? Das klingt schrecklich unsachverständig und falsch. Zudem geht mir das ein bissl zu flott - bin mir nicht sicher, ob ein Fall nicht offen abgelegt, und erst nach ein paar Monaten/Jahren (?) tatsächlich als "ungeklärt" geschlossen wird. Da rate ich zur Recherche, weil es Dein Abschluß ist und sehr exponiert steht.

Noch einige Wochen lang suchte er sporadisch nach Hinweisen.
* Auch das klingt nicht nach Polizeiarbeit. Wieso "sporadisch"? Wenn das Wetter mal schlecht ist? Das ist sein Job - entweder bearbeitet er den Fall, wertet Befunde der Kollegen aus oder halt nicht. Es wäre auch sinnvoll, zu erwähnen, daß das Zimmer untersucht wurde - wie wollen die Polizisten so mir-nix-dir-nix bestimmen, daß es außer dem Toten und den Jungs niemand betreten hatte - bei all dem Müll und Chaos? Bei diesem ganzen Thema hakt der Text leider.

Der Begriff "Afrikaner" ist ein bissl schräg - klar, Schwarzer würde völlig dusselig klingen im Titel wie im Text. Andererseits kann man dem armen Mann nicht ansehen, ob er ein Afrikaner, Ami, Brite, Franzose oder frag mich ist. Keine Ahnung, wie das zu lösen wäre, andererseits hat es etwas leicht Provokatives, Plakatives ... was wieder positiv ist. Hm.

Die Jugendlichen hab ich Dir abgenommen - in dem Alter (das ist ja schon um die zwölf, dreizehn) spricht niemand mehr kindisch; außerdem ist dies ein Verhör, und in offiziellen Situationen wie diesen übertreiben Kids auch eine extrem 'steife' Sprachweise (Kann man sogar in Lingusitikbüchern zu Spracherwerb nachlesen. :-)

Eigentlich macht man Zeilenumbruch nach Sprecherwechsel, und Du hast ganz schön massive Absätze drin; aber ich würde es so lassen, weil die wörtliche Rede so besser im Erzählfluß ist.

Herzlichst,
Katla

 

Guten Morgen micoud und Katla,

sorry, muss noch mal kurz nachhaken :)

Also, Dialoge: Mag sein, dass 13 jährige mit Amtspersonen anders sprechen, aber liebe Leut:

So liefen wir umher, in der Hand die Stangen, im Bauch die Wut auf die Jugendlichen, die unsern Fußball zerstochen und uns verprügelt hatten.

Es passte nicht in die Gegend, stach heraus aus den Trümmern.

Erst später wurde mir klar, dass es einmal zu einem Karussel gehört haben musste.

und stürzte sich tollwütig auf das Keramikpferd, jetzt schlugen wir drei ungebremst auf das Ding ein, die Splitter flogen und es wackelte wie wild an seiner Stange, die es im Boden festhielt, an der es gefangen war, wehrlos gegen Daniel, Volker und mich

Das ist alles aus einem Absatz und trägt einen raus aus dem Text, weil man an den erwachsenen Schreiber denkt, der sich um literarisch Brauchbares bemüht, statt an einen jungen Menschen der eine Lüge auftischt. Schon die komplizierten Nebensatzkonstruktionen kommen doch so nie vor!

Eine andere Stelle an der es Dir besser gelingt:

Die Jugendlichen lächelten uns an, das sah erst freundlich aus, dann, als wir näher kamen, immer gruseliger. Sie öffneten ihren Kreis, in der Mitte lag, winselnd und verdreckt: Daniel. "Scheiße" dachte ich, mein Herz begann zu rasen, da packte mich einer am Oberarm: "Na, willste auch spielen? Auf unserm Platz?" Ich guckte zu Volker, auch ihn hatte einer der Typen gegriffen, aber er blickte starr und ausdruckslos vor sich auf den Boden. Dann sah ich zu Daniel. Mit verheulten Augen lag er da, das T-Shirt völlig verdreckt, er musste schon eine Weile auf dem staubigen Platz herumgetreten worden sein.

Ich bleib dabei, klopf die Dialoge auf Glaubwürdigkeit ab, vor allem mehr Alltagssprache, kürzere Sätze.

Aber ich freu mich, dass schon zwei so verschieden Lesarten bestehen, das ist ein gutes Zeichen!!

Liebe Grüße an Euch! -T.

 

Hallo T Anin und Katla, hallo an alle hier,

danke für das detaillierte Feedback, überhaupt ein großes Danke und Den-Hut-Ziehen vor und für diese ganze Seite, es ist, denke ich, selten dass im Internet so faktisch, ausführlich und ernst diskutiert wird. Ich hoffe ich kann meinen Teil dazu beitragen, war wirklich baff als ich KG.de entdeckt habe.

Die Kritikpunkte nehme ich voll an, vor allem weil ich leider ein wenig den Abstand verloren habe zu dieser Geschichte,
und das liegt daran: Zunächst sollte sie retrospektiv sein, der Erzähler sollte quasi erwachsen auf den Fund der Leiche zurückblicken, dann hab ich nochmal alles umgeschmissen und versucht, es in die jetzige Perspektive zu rücken...aus euren Kommentaren les ich aber auch, dass es zumindest von der Erzählstruktur her, vom Aufbau, schon ganz gut zu funktionieren scheint (stimmt das?).

Ich denke ich werd das eine oder andere etwas stutzen, frage mich aber, wie ich das "literarisch Brauchbare" und die Glaubwürdigkeit verbinden soll. Schwierig. Sicher liegt darin irgendwie auch die Kunst. :)

Die Sache mit dem "Opfer" muss allerdings sein, ob das jetzt 90er-authentisch is oder nicht, das Wort, die Aussage, passt einfach zu gut zu der ganzen Frage, die mich da beschäftigt hat...dann haben diese blöden Nazis das Wort halt als Schimpfwort eingeführt... ;)
(Übrigens das schlimmste Schimpfwort, das ich je gehört habe. Als meine kleine Schwester es neulich benutzt hat, wollte ich meinen Ohren nicht trauen!).

Um beim Wesentlichen zu bleiben: Ich werde versuchen, ein bisschen in den nur stimmungswichtigen Absätzen zu kürzen und an der Sprache nochmal ein wenig feilen, es aber nicht völlig authentisch machen, da ginge mir zu viel verloren. Vielen, vielen Dank für das Feedback jedenfalls, das negative wie das positive, das hat mir sehr geholfen. Hoffe es auch mal zurückzahlen zu können!

liebe Grüße!
Micoud

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom