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Der Todestag
Humi Goldwind, die vor ein Paar Tagen erfuhr, sie werde am heutigen Tag sterben, sperrte die Wohnungstür zwei Mal zu. Den Schlüssel ließ sie stecken. Ein letzter Blick durch das Guckloch, bevor sie die Klappe schloss. Sie ging ins Wohnzimmer, um auch das Fenster zu schließen; nicht weil sie sich von einem offenen Fenster bedroht fühlte, sondern eine Straßen weiter, die Vorbereitungen für den Abriss eines dreistöckigen Gebäudes in vollem Gange waren. Humi schloss es und zog die Vorhänge zu. Die lärmende Welt der Bauarbeiter verschwand aus ihrem Zimmer. Sie setzte sich auf ihre Couch und machte den Fernseher an. Nervennahrung, bestehend aus Schokolade, Chips und vielen Nusssorten, lagen auf dem Tisch vor ihr verstreut; des Weiteren eine dampfende Kanne mit schwarzem Tee. Vorsichtig schenkte sie den Tee in die Tasse und dachte über ihren Todestag nach, während sie im gleichmäßigen Rhythmus auf ihre Fernbedienung tippte.
Man hätte wohl erwartet, dass ein Mensch, der seinen Todestag kannte, zutiefst aufgebracht sein müsste. Vielleicht würde dieser Mensch eine Liste mit Dingen anlegen, die er vor seinem Tode noch erledigen müsse. Doch Humi hatte weder eine Liste, noch war sie aufgebracht. Schließlich gab es immer eine Hintertür, wie ihre Mutter stets zu sagen pflegte.
Als sie vor ein Paar Tagen, bei einer Wahrsagerin, nach ihrem Tod fragte und erfuhr, er sei bereits in wenigen Tagen, war sie kurz außer sich. „Ein Pferd wird sie umbringen, Frau Goldwind,“, sagte die ältere Dame. Humi besaß tatsächlich ein Pferd, auch wenn es nur gemietet war. Sie ritt es mindestens einmal die Woche. An jenem Tag reite ich es jedoch mit Sicherheit nicht, dachte sie.
Und so kam es, dass sie sich an einem schönen Herbsttag in ihrer Wohnung einsperrte und den Tag abwartete. Sie fand ihren Sender, trank einen Schluck Tee und griff mit der anderen Hand nach ein paar Nüssen. Nicht die beste Kombination, wie Humi wusste, aber beides beruhigte sie. Obwohl sie sich in Sicherheit wog, war es ein aufregender Tag. Sie hatte dem Tod sozusagen ins Gesicht gelacht, selbst wenn sie sich, seit den Neuigkeiten über ihr Ableben, nicht traute zu lachen. Besser nicht provozieren Humi, ermahnte sie sich.
So vergingen die Stunden in Humis Wohnzimmer. Sendung für Sendung kämpfte sie sich durch das Tagesprogramm. Von Talkshows, über Reportagen, bis hin zu den vielen Seifenopern folgte sie aufmerksam jeder Folge. Der Tee ging zur Neige und die Nüsse waren schließlich auch alle. Der Nachmittag ging allmählich zu Ende und Humi wurde müde, als ein plötzlicher Knall sie erschreckte. Panik, vermischt mit Adrenalin schoss ihr in den Kopf. Es war der Häuserblock, eine Straße weiter. Dann musste sie lachen. Für eine kurze Zeit dachte sie, der Tod fand sie in ihrem vermeintlich geschützem Versteck. Belustigt über ihre kindische Angst stellte sie Fest, dass sie den Tod nun doch lauthals ins Gesicht gelacht hatte, als ein leichtes Nachbeben einige Gläser zum Klirren brachte, ein paar Chips zu Boden warf, und das Ölgemälde über der Couch von der Wand riss. Das ist ein Bild von einem schwarzen Pferd auf einer Ranch, dachte Humi Goldwind am Tag ihres Todes, bevor sie vom Gemälde getroffen wurde.