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Der Todbringer
Er hieß David und war ein bisschen brutal. Er maß gerade mal einen Meter zwanzig, obwohl er schon zwölf Jahre alt war. Sonst wurde er noch halbe Portion oder Kurzer genannt. Meist überhörte er das, aber hin und wieder drehte er durch und ging jemandem an die Gurgel. Eines Tages rempelte ihn dieser neue, seltsame Mitschüler mit der Schulter an. David wurde so wütend, dass er ihn angriff und den mindestens drei Jahre älteren Jungen auf den Boden warf. Der riesige, langhaarige Junge knallte mit dem Hinterkopf auf. Verdutzt verdrehte der Riese die Augen. Vorsichtig fasste er sich in die blutverschmierte Mähne. David rechnete nun mit heftiger Gegenwehr und ging mit erhobenen Fäusten in Abwehrstellung. Doch es erfolgte kein Angriff. Triumph spiegelte sich im Gesicht seines Gegners. Langsam erhob sich der Brocken, beugte sich zu David hinunter und flüstere so leise, dass es die mittlerweile im Kreis versammelten Mitschüler nicht hören konnten: ,,Danke, Todbringer.”
Diese seltsamen Worte verfolgten David von nun an in seinen Träumen. Immer wieder wachte er schweißgebadet auf. Dunkle Gestalten jagten ihn.Böse Kreaturen wollten ihm an den Kragen. Sein Bettlaken war durchgeschwitzt, und klebte an seinem nackten Oberkörper, als wolle es ihn verschlingen. Die verschiedensten Ausgeburten der Hölle zogen und zerrten an ihm; immer jedoch besassen sie die schwarzen, seelenlosen Augen seines Mitschülers.
Eines Tages wurde der Albtraum zur Wirklichkeit. Er war da. Er stand in seinem Zimmer. Leise. Bedrohlich. David konnte nicht einmal schreien. Die Angst lähmte ihn. Der Riese trat vor. ,,David, hilf uns!” Nur der Vollmond beleuchtete durch das kleine Dachfenster die unwirkliche Szene. Eingeschüchtert zog David das Bettlaken bis zum Kinn, als könne der dünne Stofffetzen ihn vor dem Unheimlichen beschützen. Bibbernd nahm er seinen ganzen Mut zusammen und wisperte: ,,Was...was willst duvon mir? Wie bist du hier reingekommen.” Der Riese streckte beruhigend den Arm aus. ,,Bitte komm mit mir.” Die sanfte Stimme passte nicht zur Kälte, die dieses Geschöpf aus Eis ausstrahlte, und doch- sie beruhigte David. Er stand langsam auf, zog seine Kleidung an und folgte dem Wesen, dass einst ein Mitschüler gewesen war, in die Dunkelheit.
Die nächsten Stunden erlebte David wie in Trance. Aus dem Dämmerzustand erwachte er erst, als ein kalter Wind um seine Nase pfiff. Er stand am Ufer eines kleinen Waldsees. Das dunkle Wasser verschluckte das Licht des Mondes. So konnte er nur Umrisse erkennen. Einige Gestalten hatten sich am Rande des Wassers verteilt. Er zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. ,,David, mein Name ist Abandon. Auf diesem See wurde die Asche deiner Vorfahrin verstreut. Sie lebte in diesen Wäldern zur Zeit des 30-jährigen Krieges.” Kein Wort drang über Davids Lippen. Gebannt hörte er Abandon zu. Der Riese erzählte eine Geschichte über Krieg, Hexenjagd, Folter und Tod. Als Abandon endete, schaute er scheu auf den See hinaus. ,,Sie war eine Hexe. Sie hatte den Tod verdient. Doch bevor sie starb, verfluchte sie das ganze Dorf; jeden einzelnen machte sie verantwortlich für ihren Untergang.” David hatte atemlos zugehört. ,,Eine Hexe? Meine Vorfahrin soll eine Hexe gewesen sein? Was hat sie euch angetan?” Abandon atmete tief ein. ,,Ihre letzten Worte waren: Mein Tod soll ewiges Leben für euch bedeuten. Lebet und leidet bis ans Ende der Zeit. Nur meinesgleichen kann euch Erlösung bringen.” David blickte sich um und Erkenntnis überkam ihn. ,, Ihr seid Unsterbliche!” ,,Ja, wir sind alle unsterblich. In manchen Kulturkreisen werden wir Vampire genannt. Doch wir saugen kein Blut. Wir können nicht fliegen oder uns verwandeln; wir sterben nicht im Sonnenlicht oder durch das Kreuz. Wir können überhaupt nicht sterben. Weder durch Mord oder Selbstmord, noch durch Krankheit oder Altersschwäche, denn wir altern nicht. Schneiden wir uns, bluten wir nicht. Schlagen wir uns die Köpfe ein, dringt kein Tropfen Blut aus der Wunde. Doch du hast mir eine blutende Wunde zugefügt. Du bist der Todbringer! In dir steckt die selbe Kraft. Die Kraft eines Hexers. Du bist ein Nachfahre der Hexe. Bitte!! Vernichte uns! Alle Dorfbewohner des Jahres 1634 haben sich hier versammelt. Ich habe sie gerufen und von dir berichtet. Ich bin fast 400 Jahre alt und stecke im Körper eines 15-Jährigen. Erlöse uns!” David schluckte schwer: ,,Ich... ich verstehe das alles nicht. Ich bin doch kein Hexer. Ich kann...nicht. Warum wollt ihr überhaupt sterben? Jeder wäre glücklich, unsterblich zu sein.” Abandon stand reglos da, nur seine langen Haare bewegten sich im Wind. ,,Versteh doch. Wir empfinden keine Liebe, wir besitzen keine Gefühle. Wir vegetieren vor uns hin. Wir sind nicht böse, doch jeder hasst uns. Wir sind seelenlose Verdammte. Das ist kein Leben mehr; der Fluch deiner Ahnin hat uns lebendig in unseren Körpern begraben. Seit dem Todestag der Hexe sind wir auf der Suche nach einem Nachkommen, denn sie hatte eine Tochter. Doch diese floh lange vor ihrem Tod vor der Pest. Wir verteilten uns über alle Kontinente, jeder der damals 50 Dorfbewohner, ob Greis oder Kind hatte jahrhundertelang nur ein Ziel: eine Hexe oder einen Hexer zu finden, der uns erlösen kann. Doch in den Zeiten der Hexenverfolgung gaben sich diese Wesen nicht gern zu erkennen. Es gab wohl nur sehr wenige, die dieser Kunst mächtig waren. Später vergassen sie ihr Wissen um Heilkunst und Hexerei. Als ich dich auf dem Schulhof sah, erkannte ich deine Kraft. Du wohnst nur wenige Kilometer von diesem See entfernt. Deine Vorfahren sind wohl irgendwann an diesen Ort zurückgekehrt, während wir an anderen Orten suchten. Hier! Mein Messer! Tu es!” Er drückte David das Messer in die Hand. “Stich zu!” David starrte auf die silbern schimmernde Klinge. Wut stieg in ihm auf. Wut auf seine Vorfahrin, die ihn und die Unsterblichen in diese Lage gebracht hatte. In sich spürte er eine Woge unglaublicher Kräfte aufsteigen. Er schrie auf. ,,Ich will nicht! Du dämliche Hexe! Lass uns in Ruhe!” Zornig schmiess er das Messer in Richtung See.
In hohem Bogen flog es in das nasse Grab. Die Spitze berührte das Wasser und die Welt schien still zu stehen. Doch nur für wenige Sekunden. Der Boden begann zu beben und ein markerschütternder Schrei drang aus der Schwärze des Wassers. Der Wind wurde zum Orkan. Die Bäume drohten zu entwurzeln. Wellen türmten sich auf dem winzigen Gewässer, als wolle die Hexe aus ihrem kalten, ungemütlichen Sarg ausbrechen. Die Unsterblichen fielen zu Boden und versuchten sich an Büschen und Gräsern festzuhalten. Wolken verdeckten den letzten Rest des Mondlichts. Dann nach kurzer Zeit: Stille. David sah Abandon an. Die Augen des Seelenlosen hatten sich verändert. Menschliche Wärme strahlte David entgegen. ,,Du hast es geschafft, du hast deine Ahnin endgültig getötet. Ihre Macht ist gebrochen.” Abandons Stimme wurde schwächer. Die Wolken rissen auf. Sanftes Licht glitt über den See und berührte die ersten Unsterblichen. Langsam, ohne Wehklagen zerfielen die Verfluchten von 1634 zu Staub. Der Wind verwehte ihre Reste und säuselte ein leises ,,Danke, Todbringer”.