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Der Tod und der junge Mann
Der Tod und der junge Mann
Er kam zu mir wie einst Orpheus, mir dem kleinen Unterschied, dass er nicht mit einer Laute, sondern mit einem Stift Einlass begehrte. Meinetwegen. Wer den Weg zu mir findet – wohlgemerkt: wer zu mir findet und nicht wen ich aufsuchen muss – hat die Chance verdient für Belustigung zu sorgen.
Ich fragte nicht, nach wem er suchte. Einerseits weil das einerlei war, andererseits weil ich es schon wusste. Jede seiner Bewegungen offenbarte es, schrie es geradezu in die Stille meines Reiches. Er trug noch die Spuren des goldenen Puders an sich, der mittlerweile korrodiert war und mit jedem Schritt knisternd zu Boden schwebte. Ich hatte Engel gesehen, die es ähnlich handhabten.
Er war vor mich hingetreten, in die Stille hinein und hatte mich einfach nur angeblickt. Eine ganze Weile in der Weilelosigkeit. Ganz so als wolle er damit sagen: „So, das wäre geschafft, wir zwei verstehen uns."
Ja, ich verstand ihn, aber er verstand mich nicht. Ich empfinde nicht. Ich verzeihe nicht. Weil es nichts zu verzeihen gibt. Es gäbe höchstens etwas zu vergessen, aber vergessen darf ich nicht.
So stand er da und machte die Regeln des Spieles mit sich selber aus, wie er das schon immer gemacht hatte und alles was ich noch zu tun hatte war zu nicken und die immerverschlossenen Türen für ihn zu öffnen. Er schlüpfte hindurch als hätte er nie etwas anderes gemacht.
Ich muss zugeben er spielte sein Schauspiel gut. Es war schon eine ganze Weile in der Weilelosigkeit her, dass das Bühnenbild mich milde gestimmt hatte.
Dante sah ich, ein wenig von P. J. Farmer und natürlich, natürlich Milton’s Illustrator.
Es überraschte mich die Musik. Unpassend möchte man sagen. Unpassend in ihrer Farbigkeit. Unpassend in ihrer Uneinheitlichkeit. Und doch… wie geschaffen für eine endlose Suche. Jahrhunderte verstrichen in der Zeitlosigkeit. Jahrhunderte und tausend Seiten, die er mit den Schritten seiner Füße schrieb, die er mit seinen Wimpern aus der Luft meißelte.
Es gab keinen Weg für ihn. Es gab keine Möglichkeit, dass er jemals zu einem Ende gelangen würde. Nie konnte er finden, was er suchte, denn so war es nun mal, so waren die unbrechbaren Regeln.
Hätte er einen Plan gehabt, der scheitern konnte, dann hätte ich ihn vielleicht zurückgeführt an die Tore, die nur von einer Seite her durchschritten werden können, aber so war es nicht zu leugnen, dass er es darauf anlegte für immer die nimmermüden Pfade zu beschreiten.
Ich kannte ihn, bevor er zu mir kam nicht, so wie ich niemanden kenne, bevor er nicht zu mir kommt. Ich kenne die Gedanken derer, die ihm vorausgingen, ich kenne ihn, wie sie ihn kannten, aber ich kenne ihn selbst nicht. Und nun, da er in meinem Reich war kannte ich ihn auch nicht. Seltsam. Alles in ihm sprach davon, dass er zu diesem Ort gehörte und das alles was davor gewesen war nur Makulatur.
Kriege beanspruchten meine Aufmerksamkeit; und Epidemien. Meine unteilbare Aufmerksamkeit wankte für einen Moment in der Zeitlosigkeit und ich verlor ihn aus den Augen, wie man das Jetzt aus den Augen verliert. Nicht dass es eine Bedeutung gehabt hätte, denn das Beobachtete kommt ohne den Beobachter aus.
Vielleicht hatte er es sogar so geplant, vielleicht auch nicht, einerlei, er hatte keine Chance das zu erreichen, was er verfolgte. Keine Chance.
So war es schon in der anderen Welt gewesen, als er sich treiben hatte lassen und als das noch in seiner Reichweite lag, was er nun so vergeblich erstrebte.
Sie war zu mir gekommen. Ob früher oder später spielt keine Rolle, da hier in meinem Reich die Suche beginnen kann, bevor der Verlust auftritt. Ebenso wenig spielt eine Rolle, ob ich sie rief, oder ob sie freiwillig herabeilte, denn wer einmal aus eigenem Willen den Versuch unternimmt, für den sind alle anderen Wege verschlossen. Ich mochte sie. So wie ich ihn mochte. So wie ich alle Menschen mag.
Und gemeinsam begannen sie ihr berührungsloses Spiel. Sie schrieben in den Himmel, meißelten mit stumpf gewordenen Lippen Worte in den Duft des Bodens und webten die Muster des Verstehens. Ich konnte sie sehen, doch noch nicht einmal sie selber waren dazu in der Lage das selbe zu tun, geschweige denn der jeweils andere.
Allein von ihrem irdischen Dasein befreit waren sie nicht bereit der Erschöpfung Raum zu geben. Oder dem Schlaf. Oder der Verzögerung. In gewisser Weise wurden sie zu einem Ärgernis in der Bedeutungslosigkeit und ich beging einen Fehler. Anstatt den Blick von ihnen abzuwenden, löschte ich ihre unsichtbaren Spuren aus und tilgte alle Erinnerung daran.
Wie oft ich diesen Fehler begangen habe weiß ich nicht, denn der einzige Weg das Auslöschen zu bewerkstelligen ist es die unsichtbaren Muster und die unsichtbaren Worte zurück in die Welt der Lebenden zu schleudern. Und da sind sie nun. Und da liest du sie nun, Lebender, der bald zu mir kommen wird.